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Kapitel III VOM MAGYARENSTURM ZUM CHRISTLICHEN KÖNIGTUM DER ARPADEN

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Vajays These, dass es sich bei den Eroberungszügen nicht um bedenkenlose Verwüstungen, sondern um »im Voraus durchdachte strategische Unternehmungen, oft von europäischer Bedeutung und großer Tragweite« handelte, ist zumindest umstritten. Sicher ist hingegen, dass die erfolgreichen Beutezüge auch den Keim künftiger Niederlagen in sich bargen. Die Gegner, vor allem die Bayern, merkten bald, dass die mit Beute beladenen, Gefangene mitschleppenden, ermüdet nach Hause ziehenden Reiterscharen mit einiger Aussicht auf Erfolg überwältigt werden konnten. Zugleich ließen die Disziplin und die Wendigkeit der alten Nomadenreitertaktik bei den zunehmend saturierten Ungarn merklich nach.

Für Gold und Silber waren die ungarischen Heerführer jederzeit bereit, Gebiete zu schonen oder gegen andere Strafexpeditionen zu unternehmen. Italien war das erste Land, das den Magyaren regelmäßig Tribut zahlte. 899 hatte eine an der Brenta eingekreiste Truppe von 5000 ungarischen Reitern das dreimal stärkere italienische Heer von König Berengar I. geschlagen. Nach neuerlichen ungarischen Streifzügen beschloss der König, sich und sein Volk freizukaufen. Der ungarische Historiker György Györffy fand heraus, dass es sich um etwa 30 Kilogramm Gold gehandelt haben muss.

Nur die Deutschen haben durch die Aufstellung eines disziplinierten, schwer bewaffneten, geschlossen auftretenden Reiterheers und durch das Ausnutzen gegnerischer Schwächen den Ungarn 917 und 933 schwere Niederlagen beibringen können.

Am 10. August 955 errangen sie dann auf dem Lechfeld bei Augsburg den entscheidenden Sieg. Horka Bulcsú, der dritthöchste Würdenträger des Stammesbundes, und Prinz Lél (Lehel) endeten in Regensburg am Galgen.

Der Triumph Ottos I., der ihm später den Beinamen »der Große« eintrug, wurde von deutschen Historikern als »eine weltgeschichtliche Wende«, als die Rettung der christlichen Kultur vor den asiatischen Barbaren gefeiert. Der Legende nach sollen vom gesamten ungarischen Heer nur sieben Männer am Leben geblieben sein, die sich dann, für das ganze Leben entehrt, als »Trauerungarn« (Gyászmagyarok) durch die Heimat wandernd, ihren Unterhalt zusammenbetteln mussten. Übrigens gibt es auch über Lél eine berühmte Sage. Lél wird nach der verlorenen Schlacht zum Tode verurteilt, stößt noch ein letztes Mal in sein geliebtes Horn und erschlägt dann mit dem Horn den siegreichen König: »Und doch wirst Du mir im Jenseits dienen!« Das angebliche Elfenbeinhorn Léls wurde noch 900 Jahre später in der kleinen Stadt Jászberény gezeigt.

Ungarischen Chronisten zufolge war Bulcsú jedenfalls ein sehr machtbewusster und kriegstüchtiger Führer, der sich und sein Volk dem Kaiser gegenüber als »Rache und Geißel Gottes« präsentierte. Was nun die tatsächliche Tragweite des Sieges auf dem Lechfeld betrifft, so sind die Urteile sehr unterschiedlich. Moderne ungarische Historiker behaupten, die Niederlage sei nicht schwerer gewesen als die zwei früheren. Dass 26 000 Deutsche 100 000 oder gar 128 000 Ungarn besiegt hätten, war jedenfalls eine glatte Erfindung. Die Stärke des ungarischen Heeres bei Augsburg schätzt man heute auf nicht einmal 20 000 Mann. Die Hinrichtung Bulcsús, dieser starken Führungspersönlichkeit, und vor allem die psychologischen Auswirkungen der Niederlagen waren dennoch entscheidend. Vor allem hatte das abendländische Christentum nun eine Gelegenheit, die Seelen der heidnischen Ungarn zu gewinnen.

Wir wissen nicht, wie das Volk mit den Folgen der Niederlage fertigwurde. Jedenfalls öffnete die schicksalhafte Schlacht auf dem Lechfeld den Weg zu einem epochalen Ereignis. Die Ungarn verschwanden nicht, wie andere geschlagene Reiter, von der Weltbühne. Sie übernahmen vielmehr die westliche Kultur und wählten zwischen Rom und Byzanz die katholische Kirche. Unter Großfürst Géza, einem Urenkel Árpáds, wurden die reitenden Räuber sozusagen von einer Generation zur anderen sesshafte Bauern und Hirten, ohne ihre Sprache oder politische Identität zu verlieren, wie dies ihren Vorgängern ausnahmslos widerfahren war.

»Die Magyaren wurden als erstes Steppenvolk von den vorgefundenen Wirtschafts- und Siedlungsbedingungen und von den gesellschaftlichen, kulturellen Verhältnissen der Durchbruchszeit christlicher Herrschaftsbildungen erfasst«, meinte der deutsche Historiker Zernack. Doch lag der Schlüssel zum Umbruch in Ungarn selbst, im politischen Willen Gézas und seines Sohnes, Stephans des Heiligen, den Weg vom Stammesbund zur Schaffung eines christlichen Staates der Arpadendynastie bis zum Ende zu gehen. Dass, wie Thietmar von Merseburg berichtete, Géza sich für reich und stark genug hielt, mehreren Göttern zu opfern, ändert nichts an der Tatsache des Rollenwechsels. Unter seiner ein Vierteljahrhundert (972–997) währenden Herrschaft wurde das Volk vor dem Untergang gerettet. Die Abkehr vom Nomadentum war endgültig. Was in den wenigen Jahrzehnten nach der Schlacht auf dem Lechfeld in Ungarn vor sich ging, war nicht weniger als ein Geschichtswunder. Aus dem Stammesverband der Reiternomaden wurde rasch, wenn auch nicht ohne Turbulenzen, ein christliches Königreich.

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