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Kapitel IV DAS RINGEN UM KONTINUITÄT UND FREIHEIT

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Kaum hatte König Stephan die Augen für immer geschlossen, stürzte das junge Königtum in eine schwere Krise, die sich noch zu seinen Lebzeiten angedeutet hatte: Die Thronfolge war nicht geregelt. Stephans Sohn war nach einem tödlichen Jagdunfall 1031 gestorben. Daraufhin war es zu einem Kampf auf Biegen und Brechen mit Stephans Vetter Vászoly gekommen, der aufgrund der heidnischen Legitimität Anspruch auf den Thron erhoben hatte. Stephan ließ ihn blenden, in seine Ohren Blei gießen und seine drei Söhne nach Polen beziehungsweise Kiew verbannen.

Der König bestimmte den Venezianer Peter Orseolo, Sohn seiner Schwester und des vertriebenen Dogen, zu seinem Nachfolger. Peter wurde aber bald durch eine Palastrevolution vertrieben und durch einen ehrgeizigen Schwager Stephans ersetzt. Nach einer Intervention Kaiser Heinrichs III. kehrte Peter noch einmal auf den Thron zurück, allerdings nur mehr als Vasall des deutschen Königs. Eine breite Aufstandsbewegung fegte den Fremdling endgültig weg, der sein ausländisches Gefolge – »plappernde Italiener und schreiende Deutsche« – gegenüber den ungarischen Nobilitäten allzu sehr begünstigte.

Bereits die ältesten am Hofe der Abkömmlinge des geblendeten Vászoly verfassten Chroniken haben Gisela, die deutsche Frau Stephans, für die grausame Abrechnung mit Vászoly verantwortlich gemacht und Peter vorgeworfen, er lasse das ganze Land in deutsche Hände übergehen. Andere Quellen behaupten, König Peter habe die in Veszprém lebende Gisela schlecht behandelt.

Die Witwe Stephans verließ jedenfalls Ungarn im Jahr 1045, als Kaiser Heinrich III. dort weilte, und begab sich mit ihm nach Passau. Sie wurde später Äbtissin im Nonnenkloster Niedernburg. Lange hatte man geglaubt, sie sei in der von ihr gegründeten Kathedrale von Veszprém begraben. Erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs hat ein Münchner Archäologe das Grab in der Kirche des Nonnenklosters Niedernburg in Passau freigelegt. Seitdem ist das Kloster ein beliebter Wallfahrtsort für ungarische Gläubige.25

Gisela hatte bei der Eheschließung die Umgebung von Pressburg, Ödenburg und Steinamanger als Morgengabe erhalten. Historiker der deutsch-ungarischen Beziehungen nehmen mit Bestimmtheit an, dass sich dort zahlreiche mit ihr eingewanderte deutsche Ritter, Geistliche und Handwerker niederließen. Die Ahnen von mehreren vornehmen Adelsgeschlechtern führten am ungarischen Hof die Sitten des deutschen Hochadels ein. Damals und später kommandierten deutsche Ritter die königlichen Heere gegen Angreifer aus dem Osten, wie die Petschenegen, und mischten sich unter der Obhut deutscher Könige und österreichischer Markgrafen auch wiederholt in ungarische Wirren ein. Entscheidend für die Zunahme des deutschen Einflusses war aber die Tatsache, dass die Machthaber dafür waren. Die ungarischen Könige wollten auch später unbewohnte Gebiete des Landes mit Deutschen besiedeln, um eine weitere Stütze zur Festigung ihrer Macht zu gewinnen.

Wie Béla von Pukánszky in seiner Geschichte des deutschen Schrifttums in Ungarn über die Reaktion auf die massive deutsche Einwanderung vom 11. bis 13. Jahrhundert ausführt, stand dem deutschfreundlichen Teil des Ungartums zweifellos ein anderer, gewiss größerer Teil der Nation gegenüber, der dem neuen Geist nur unwilliges Misstrauen entgegenbrachte, anfangs vielleicht auch einige Widerstandsversuche unternahm. In seinem 1931 erschienenen Standardwerk fügt der Autor die gerade im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg so zutreffende Bemerkung hinzu: »Diese Zwiespältigkeit kennzeichnet das Verhalten des Ungartums dem deutschen Einfluss gegenüber im Laufe seiner gesamten Geschichte.«

In der Zeit blutiger und oft undurchsichtiger Kämpfe zwischen Thronprätendenten und im Rahmen von Familienzwistigkeiten suchten die bedrohten, verjagten oder siegreichen Herrscher oft Hilfe bei den mächtigen deutschen Nachbarn. Der aus Kiew zurückgekehrte älteste Sohn des geblendeten Vászoly, Andreas, wurde zum König erhoben. Damit rettete der Zweig eines geächteten Prinzen zum ersten, aber keineswegs zum letzten Mal die Kontinuität der Arpadendynastie und wohl auch die Zukunft Ungarns. Der abgesetzte Peter, ebenfalls geblendet und entmannt, starb bald darauf.

Doch der von Andreas I. eingeleitete Konsolidierungsprozess wurde durch Nachfolgekonflikte immer wieder unterbrochen und bedroht. Gyula Pauler, einer der besten Experten der Arpadenzeit, zog 1899 folgende Bilanz der Zeit der Wirren: »In 39 Jahren wechselte das Land sechsmal seinen Herrscher. Drei Könige – wenn wir auch Andreas I. hinzurechnen – starben eines gewaltsamen Todes. Béla I. bewahrte der Tod davor, verjagt zu werden wie Salomo, der von seinem Thron dreimal flüchten musste. Die Streitigkeiten der königlichen Familie brachten neunmal fremde Heere – Deutsche, Tschechen, Polen – ins Land, machten es für drei Jahre zum deutschen Lehen, und fünf Könige flehten und erniedrigten sich vor dem Throne des deutschen Königs. Innerhalb des Landes aber wurde die allgemeine Sicherheit völlig zerrüttet.«26 Dazu kamen noch zwei Heidenaufstände sowie die Teilung des Königreiches im Laufe von 30 Jahren.

Erst unter László (Ladislaus) I., der von 1077–1095 regierte, erlebte Ungarn den Anfang einer neuen Blütezeit. Der König wurde zum Helden der Abwehrkämpfe gegen Angriffe der Petschenegen, Uzen und Kumanen. Diese von Osten über die Pässe der kaum bevölkerten Karpaten vordringenden Völkerschaften konnten erst im Inneren des Landes aufgehalten und zurückgeschlagen werden. Als Beschützer seines Volkes und Glaubens, als Vater der Armen und Wehrlosen wurde Ladislaus nach seinem Tod heiliggesprochen.

Im 11. und 12. Jahrhundert wirkten sich die außenpolitischen Faktoren zugunsten der Entwicklung Ungarns aus. Das Land wurde auch durch dynastische Ehen mit den kleineren Ländern verbunden. Nach dem Tode des kroatischen Königs Zvonimir, der seine Schwester Ilona geheiratet hatte, ergriff König László I. die Chance, das Herzstück Kroatiens, Slawonien, zu besetzen und nach ungarischem Muster in Komitate umzuwandeln. Das Bistum Zagreb (Agram) wurde gegründet und ein weiterer Vorstoß nach Süden geplant. Aber erst sein ebenso herausragender Nachfolger Kálmán (Koloman), der wegen seiner hohen Bildung den Beinamen »Könyves« (Bücherfreund) erhielt, vermochte auch Dalmatien zu erobern. Kálmáns Krönung zum König Kroatiens eröffnete eine 800 Jahre – mit Unterbrechungen und Konflikten – währende Union Ungarns mit Kroatien. Über den wirklichen Charakter und die Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen sowie über die Rechte und Pflichten streiten die Historiker beider Länder, wie in Mitteleuropa üblich, bis heute.

Zur Absicherung dieser Neuerwerbungen gehörte auch ein diplomatisch geschickter Schachzug Kálmáns: die Eheschließung von König Lászlós Tochter Piroska mit dem byzantinischen Thronfolger Johannes Komnenos. Sie wurde unter dem Namen Irene Kaiserin von Byzanz und nach ihrem Tod wegen ihrer Selbstlosigkeit und Wohltätigkeit in der byzantinischen Kirche als Heilige verehrt.

Mit seinem Vorstoß in die direkte Interessensphäre von Byzanz und Venedig stieg Ungarn zum Rivalen der beiden Mächte auf. Kaiser Manuel Komnenos, der Sohn von Piroska, versuchte seine halb ungarische Abstammung als Waffe zur Eroberung Ungarns zu nutzen und fiel im Laufe von 22 Jahren nicht weniger als zehnmal in das Land ein. Die wechselvollen Kämpfe konnten aber die Unabhängigkeit Ungarns nie ernstlich gefährden.

Der noch von König Stephan eingerichtete Königliche Rat, bestehend aus dem Palatin (dem Stellvertreter des Königs), dem Banus (= Statthalter) von Kroatien, dem Woiwoden (= Fürst) von Siebenbürgen, den Bischöfen und Komitatsvorstehern, kurz den Vornehmen, begann unter László und Kálmán in Krisensituationen politisch zu handeln, um Bürgerkriege zu verhindern. Doch blieb die absolute Autorität des Königs noch im 12. Jahrhundert unangetastet.

Bischof Otto von Freising, der Schwager Konrads III., reiste 1147 durch Ungarn und berichtete nicht ohne Neid, dass jeder Magnat, der sich eines Vergehens gegen die königliche Majestät schuldig machte oder auch nur dessen verdächtigt wurde, auf Befehl des Königs vom niedrigsten Diener bei Hof in Gegenwart seiner eigenen Untergebenen in Ketten gelegt und zu Folter und Verhör abgeführt werden konnte. Der Bischof erwähnte aber auch, dass die Ungarn vor einer Beschlussfassung in jeder Sache lange Besprechungen pflegten. Die Großen des Reiches, die Reichsbarone, Stammeshäuptlinge wie Nachkommen eingewanderter Ritter begaben sich an den Königshof, wohin sie ihre eigenen Sessel mitnahmen, um dort unter dem Vorsitz des Königs zu beraten. Was man freilich gerade im Hinblick auf das Ungarnbild der Deutschen immer wieder traurig zitierte, war seine spöttische Bemerkung: Er wisse nicht, ob er das Schicksal anklagen oder die Güte Gottes bewundern solle, dass ein so herrliches Land einem so grässlichen und barbarischen Volk überlassen sei.27

Ungarische Historiker wiesen mit Recht darauf hin, dass die blutigen Beutezüge und die Angst vor der »asiatischen Horde« in der Erinnerung der Völker im Westen viel stärker haften blieben als etwa die positiven Leistungen: zum Beispiel der Aufbau eines christlichen Königtums durch Stephan den Heiligen mit seiner deutschen Frau und mithilfe deutscher Ritter und Mönche oder die Tatsache, dass Stephans Nachfahren bereits deutsche Siedler als Kolonisten nach Ungarn riefen und dass dieses ferne, eigenartige Land sich immer mehr zu einem Schutzwall des Christentums gegen die Flut der hereinbrechenden Petschenegen, Kumanen und mongolischen Türken wandelte.

Kálmán ist für seine Zeit ein kluger und aufgeklärter König gewesen. Von ihm stammt das berühmte Gesetz gegen die Hexenprozesse, da es Hexen nicht gibt (quia non sunt). Auch bekämpfte er den Einfluss des im Volk noch immer tief verwurzelten heidnischen Opferpriesters oder Schamanen (táltos). In der mündlichen Überlieferung und in Sagen ist diese Bezeichnung auch zum Namen eines wunderkräftigen Rosses geworden, wenn sie auch weiterhin auf Menschen angewendet wurde. Trotz seiner gesetzgeberischen Leistungen und der Milderung der von König László dem Heiligen verhängten drakonischen Strafen gegen Diebstahl (Todesstrafe für das Stehlen eines Huhnes!) war er freilich auch ein Mensch seiner Epoche. Wie andere in der Arpadendynastie war er in einen verhängnisvollen Bruderzwist verstrickt und ließ seinen Bruder wie dessen kleinen Sohn Béla grausam blenden, um seinem eigenen Sohn die Nachfolge zu sichern. Dieser aber starb kinderlos, und so wurde – genau wie 100 Jahre zuvor – wieder einmal der Zweig des geächteten Prätendenten der Garant des Fortbestandes der Arpadenherrschaft.

Damit war trotz der Wirren und der fast zur Regel gewordenen, oft blutigen Kämpfe um die Thronfolge innerhalb der Arpadendynastie das wichtigste Erbe Stephans des Heiligen erhalten geblieben: die politisch-territoriale Einheit und das Christentum. Man schätzte, dass sich das Staatsgebiet Ungarns (ohne Kroatien) seit der Landnahme fast verdoppelt hatte und die Gesamtbevölkerung um 1200 auf die für damalige Verhältnisse ansehnliche Zahl von etwa zwei Millionen gestiegen war.

Auf dem Weg zu einer bedeutenden Machtposition in Südeuropa hat die bewusste Öffnung des Landes nach Westen eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Was die Ansiedlung der Deutschen betrifft, so kamen keineswegs nur Adlige, Ritter und Mönche. Bereits König Géza II. ließ um 1150 Bauern aus der Umgebung Aachens und von der Mosel in der Gegend von Hermannstadt ansiedeln. Sie sind später im Allgemeinen Sachsen genannt worden. Ein königlicher Freibrief aus dem Jahr 1224 fasste ihre Privilegien zusammen.28

Die planmäßigen deutschen Kolonisationen in Ungarn erfolgten in zwei zeitlich getrennten Phasen: im Zuge der Siedlungspolitik der Arpaden in den nördlichen Landesteilen und in Siebenbürgen sowie durch die Habsburger nach dem Abschluss der Türkenkriege in erster Linie in Südungarn. Bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts galt die Zips (der Name dürfte eine Übertragung aus Deutschland in die neue Heimat sein) in Oberungarn als geschlossene politische Einheit. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurden dann die zahlreichen Bergstädte in Oberungarn gegründet, deren Einwohner beinahe ausschließlich Deutsche waren. Die Chronisten berichten schon für das Jahr 1217 über schwäbische Einwohner in der Umgebung von Buda (Ofen) und Pest.

Die königlichen Freistädte gehörten später zu den bedeutendsten Folgen der Siedlungspolitik der Arpadenkönige. »Die Ungarn schufen den Staat, die Deutschen die Städte in Ungarn. Wie jene Hauptfaktoren in der Eroberung des Landes waren, so waren es diese in der Entwicklung von Gesellschaft und Gewerbe.«29 Wenn diese Ansicht des Sprachhistorikers Paul Hunfalvy (aus dem 19. Jahrhundert) auch nicht unumstritten ist, zumal da noch ganz andere wirtschaftliche und soziale Faktoren die Stadtentwicklung prägten und gerade am Anfang auch zahlreiche Italiener am Ausbau und kulturellen Aufschwung der ersten städtischen Zentren mitgewirkt haben, so war die Rolle der Deutschen im »Jahrhundert der Städte« zweifellos ausschlaggebend.

Auch in Siebenbürgen, wo die »Sachsen« bis in unsere Zeit politische Sonderrechte genossen haben, konnten die Deutschen ihre nationale und kirchliche Sonderstellung behaupten. Sie waren in Oberungarn und Siebenbürgen, wie andere Volksgruppen fremder Herkunft, vor allem zur Sicherung der Karpatengrenze angesiedelt worden. Die deutschen Ritter und Siedler standen in Konflikten mit dem ungarischen Hochadel immer fast einmütig auf der Seite des jeweiligen Herrschers. Die daraus folgende offensichtliche Bevorzugung der Deutschen hat dann allerdings bereits 1439 blutige Zusammenstöße in Buda ausgelöst. Die gegenseitigen Ressentiments zwischen deutschen und ungarischen Städtern, die sich in der Reform- und Revolutionsära der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Pogromen gegen das städtische Judentum entluden, ziehen sich also wie ein roter Faden durch die Geschichte des ungarischen Vielvölkerstaates.

Die tolerante – man könnte fast sagen: »liberale« – Haltung des frühen ungarischen Staates gegenüber den nicht ungarischen Volksgruppen beschleunigte nicht nur die Verschmelzung der Slawen mit dem ungarischen Volk, sondern öffnete das Land auch für die Flüchtlinge aus der südrussischen Steppe, die dann Kriegsdienst leisteten oder als Grenzwächter angesiedelt wurden. Bereits im 11. und 12. Jahrhundert bot die Arpadendynastie sogar ihren früheren Feinden Zuflucht, den berüchtigten Petschenegen, denen die Jazygen, ebenfalls türkischer Herkunft, folgten. Berittene Bogenschützen aus der Steppe waren als Hilfstruppen für die königliche Militärmacht jederzeit willkommen. Die Einwanderung der Kumanen, deren widersprüchliche Auswirkungen wir noch erörtern werden, bildete den Abschluss des massiven Zustroms kriegerischer Reitervölker aus dem Osten. Im Laufe der Jahrhunderte lösten sich ihre Verbände auf, die Krieger wurden von der ungeheuer starken Assimilationskraft der Ungarn erfasst. Die Turkvölker siedelten fortan in erster Linie in der Großen Ungarischen Tiefebene zwischen Donau und Theiß.

Gerade im Hinblick auf die Rassentheorien der NS-Zeit und die periodisch bis in unsere Tage aufflammenden Kontroversen über das »reine« Ungartum, die Kluft zwischen sogenannten »tiefen« und »dünnen« Ungarn30, ist es wichtig, den deutsch-ungarischen Historiker Denis Silagi zu zitieren, der nachdrücklich betonte, dass »der magyarische Nationalcharakter sich nicht gut rassenbiologisch aus der Erbmasse der eurasischen Vorfahren herleiten lässt. Die Erbanlagen mögen eine bedeutende Rolle spielen; es ist aber eine nicht minder bedeutsame Tatsache, dass es seit je unzählige typische Magyaren gegeben hat, deren Vorfahren slawisch, germanisch, romanisch oder jüdisch und keineswegs Reiter der östlichen Steppenwelt gewesen sind.«31 Die Entwicklung vor und nach der Landnahme, die Wellen von massiven Einwanderungen und Ansiedlungen, vor allem nach den großen nationalen Katastrophen im 13. und dann im 17. und 18. Jahrhundert, vollzogen sich in den offenen Ebenen im Inneren des Karpatenbeckens, die zum »Schmelztiegel« der Völker wurden.

Wir begegnen im Laufe der Zeit immer wieder dem Phänomen, dass die Ungarn weniger Blutsbindungen, sondern die Sprache einte, der Glaube an die kulturelle Identifikation des Volkes mit der Sprache. Oder wie es der große Dichter Mihály Babits am Vorabend des Zweiten Weltkriegs formulierte: »Das Ungartum ist ein historisches Phänomen, und wie es sich entwickelte, ist kein physisches, sondern ein geistiges Phänomen … Sind doch die Ungarn ein vermischtes und sich ständig vermischendes Volk.«32

Einer der herausragenden und zugleich zutiefst kosmopolitischen Könige der Arpadendynastie war Béla III. (1172–1196), der am Hof zu Byzanz erzogen worden war. Unter seiner Regierung erlebte Ungarn in der Innen- und Außenpolitik, aber auch im kirchlichen und kulturellen Leben eine beispiellose Blütezeit. Zuerst wurde er mit Anna von Châtillon, einer Halbschwester der byzantinischen Kaiserin, vermählt. In zweiter Ehe heiratete er Margarete, die Tochter des französischen Königs Ludwig VII., was die Westanbindung Ungarns sichern half. Dazu gibt es eine interessante Urkunde. Zur Ausfertigung des Ehevertrages schickte Béla seinem Schwiegervater eine Aufstellung seiner jährlichen Steuereinnahmen, die in einem Pariser Archiv gefunden wurde. Seine Einkünfte waren nämlich ebenso hoch wie die der damaligen englischen und französischen Könige und wurden nur von denen der beiden Kaiser übertroffen.

Bezeichnend für den Glanz von Bélas Herrschaft war die Tatsache, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die meist Töchter polnischer oder russischer Fürsten ehelichten, eine dynastische Verbindung mit dem französischen Herrscherhaus eingehen konnte. Dem gewachsenen Selbstbewusstsein des absoluten Herrschers entsprach auch ein von französischen Meistern erbauter prunkvoller Palast in Esztergom (Gran), wohin Béla im Zeichen der engen Verbindung zwischen Königtum und Kirche seine Hauptresidenz zurückverlegt hatte. Dennoch hielt der König auch mit Byzanz stets engen Kontakt. Auf seinen Münzen wurde erstmals das byzantinische Doppelkreuz abgebildet, das dann zum Bestandteil des ungarischen Reichswappens werden sollte.

Trotz des orthodoxen Einflusses wurde Ungarn aber zunehmend im Kulturkreis des lateinischen Westens verankert. Der König ließ Zisterzienserklöster errichten und sie direkt aus Frankreich besiedeln. Ein bedeutender Teil der geistigen Elite wurde in Paris ausgebildet. Die Chronologie vermerkt zum Beispiel, dass Béla III. 1192 den ungarischen Studenten Elvin zum Musikstudium nach Paris und zwei Jahre später Nicolaus Hungarus (Miklós von Ungarn) nach Oxford geschickt habe.

In der Außenpolitik konnte der König Dalmatien und Kroatien wieder der ungarischen Oberhoheit unterstellen, was freilich eine 200-jährige scharfe Rivalität mit Venedig zur Folge hatte. Béla wie sein Nachfolger Andreas II. verstrickten sich zudem in Streitigkeiten der russischen Fürsten. Die Intervention führte zur zeitweiligen Kontrolle des Fürstentums Halic, des späteren Galiziens, durch Ungarn. Wichtiger als diese Abenteuer waren die Schritte, die der König zur Einführung eines Kanzleiwesens, schriftlicher Urkunden und zur Reform des Finanzwesens unternahm.

Der Niedergang Ungarns begann unter der Herrschaft des jüngeren Sohnes von Béla, König András (Andreas) II. Er war ein prunksüchtiger Ritterkönig westlicher Prägung, nur an Torheiten, Extravaganzen und Ruhm interessiert. Seine fast jährlichen Kriege, unter anderem um die Kontrolle von Galizien, waren ebenso kostspielig wie seine aufwendige Hofhaltung, wo nacheinander eine deutsche, eine französische und eine italienische Königin das Sagen hatte und es sogar zu Mord und Totschlag kam.

Seine erste Frau, Königin Gertrud aus dem bayerischen Geschlecht Andechs-Meranien, löste durch die maßlose Begünstigung ihrer Brüder und deren zahlreicher Gefolgschaft beim hohen Adel eine ausländerfeindliche Stimmung aus. Während sich der König wieder einmal auf einem Feldzug im Osten befand, fiel die Königin am 28. September 1213 einer blutigen Verschwörung zum Opfer. Im Mittelpunkt stand Bánk, der Palatin des Königs.

600 Jahre später verfasste József Katona das Nationaldrama Bánk bán, in dem dieser als Verteidiger seiner Nation die »fremde« Königin samt ihrer Sippe der Unterdrückung des armen Volkes schuldig spricht und sie in einer dramatischen Konfrontation mit dem Dolch ersticht.

Zehn Jahre nach Katona griff Franz Grillparzer das Thema erneut auf, bearbeitete es aber in einem diametral entgegengesetzten Sinn. Auch in Ein treuer Diener seines Herrn wird die Königin von den Aufständischen ermordet, aber »Bancbanus«, ein treuer alter Mann, bleibt im bedingungslosen Dienst des Herrschers. »Bánk bán ist ein selbstbewusster, stolzer Oligarch, Bancbanus ein verlässlicher, würdiger Hofbeamter«, so charakterisiert ein ungarischer Literaturkritiker die unterschiedliche Darstellung der tragischen Gestalt Bánks aus ungarischer und österreichischer Sicht.33

Hingegen brachte die Tochter von König András und Königin Gertrud, die Markgräfin Elisabeth von Thüringen, die auch heute noch als deutsche Heilige verehrt wird, Ungarn großen Ruhm ein. Der mittelalterliche deutsche Dichter, der erzählt, wie Klingsor, der Zauberer aus Ungarn, am Hofe von Eisenach die Ehe und das Leben Elisabeths vorhersagt, berichtet von einer ungarischen ritterlichen Welt mit einem überaus frommen König. Ein lohnendes Sujet für Sagen und Legenden. In seinem groß angelegten Essay über das Ungarnbild in Europa bemerkt Sándor Eckhardt dazu: »Vielleicht spiegelt die ausgesprochen sympathisierende Darstellung Attilas/Etzels und seiner Hunnen im Nibelungenlied das Verhältnis wider, das die deutschen Sänger zum ungarischen Königshof hatten. Zwar sind die Hunnen Kriemhilds tapfer, doch besiegen sie die Germanen nur dank ihrer Übermacht.«34 Dagegen spekuliert ein österreichischer Forscher, dass die in den späteren Überlieferungen als grausam und böse beschriebene Königin Gisela, die Frau Stephans des Heiligen, vielleicht das Vorbild für die negativen Seiten Kriemhilds im Nibelungenlied gewesen sein könnte. Jedenfalls kann man auch heute noch Pukánszkys Feststellung zustimmen, wonach die Frage, inwiefern die deutsch-ungarischen Beziehungen die Weiterentwicklung der Nibelungensage beeinflussten, nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann.

Dass aber bereits zur Zeit Bélas III., wohl auch aus Gründen der zeitweiligen Allianzen und dynastischen Bindungen, die Ungarn für Byzanz nicht mehr »barbarisch und hinterlistig« sind, zeigen die lobenden Worte eines byzantinischen Chronisten über das ungarische Volk, das »gute Pferde und gute Waffen hat, Eisen und Panzer trägt …, zahllos ist wie der Sand am Meer und an Kühnheit unübertrefflich, in seinem Mut unbesiegbar, im Kampf unwiderstehlich, selbst unabhängig, frei, freiheitsliebend und erhobenen Hauptes sein eigener Herr ist«.35

Derlei lobende Anmerkungen wurden in der ungarischen Geschichtsschreibung zwar als »wertvolle Beiträge« erleichtert hervorgehoben, doch dominierte im Westen, in der Gelehrtenwelt wie in der öffentlichen Meinung, weiterhin die mit Furcht vermischte Abneigung. Dass sie zum Teil auf eine antike Schilderung der Barbaren zurückging, störte dort keinen. Jedenfalls schreibt Herzog Albert von Österreich, der spätere deutsche König, 1291 nach seinem gescheiterten Vorstoß ins Nachbarland, dass die Ungarn der Hydra vergleichbar seien: Schlage man einen Kopf ab, wüchsen 30 nach. Sie seien böse, schlau und schlüpften einem durch die Finger wie glatte Schlangen; nach einer verlorenen Schlacht griffen sie mit doppelter Übermacht wieder an, aus den Sümpfen tauchten sie auf wie die Frösche … und so weiter.36

Nicht nur die Babenberger und Habsburger hatten Gelegenheit, mit den Ungarn der Arpadenzeit die Waffen zu kreuzen. Einen seiner sehr wenigen Erfolge errang András II. gegen den Deutschen Ritterorden, der das ihm 1211 zwecks Kolonisierung zur Verfügung gestellte Burzenland in Siebenbürgen und das angrenzende kumanische Gebiet (im heutigen Rumänien) mit päpstlicher Unterstützung als unabhängigen Ordensstaat von Ungarn loslösen wollte. Dem König gelang es 1225, den Orden mit Waffengewalt zu verjagen.

Die weitaus bedeutendste Weichenstellung für die Zukunft des Landes haben ein Teil des Hochadels und vor allem die begüterten Gemeinfreien, die Dienstleute des Königs (servientes regis) und andere in den königlichen Burgen Waffendienst Leistende im Jahr 1222 erzwungen. Die Rebellion richtete sich gegen ein maßloses Verschenken von Gütern und Einkunftsquellen an einen kleinen Kreis von – zum Teil ausländischen – Günstlingen, sie war aber auch eine Protestbewegung gegen die Misswirtschaft und Übergriffe der Oligarchen. András II. musste die sogenannte Goldene Bulle erlassen. In dieser nach ihrem goldenen Hängesiegel benannten Urkunde garantierte der König die Freiheiten des königlichen Militärs gegenüber den Oligarchen, so unter anderem auch ihre Befreiung von der Teilnahme an Kriegshandlungen jenseits der Landesgrenze, und räumte zum ersten Mal den Großen des Reiches und dem Adel das Recht des bewaffneten Widerstandes (ius resistendi) ein, sollte er nicht gesetzmäßig regieren. Dieses Widerstandsrecht blieb bis 1687 als ein besonderes Privileg der ungarischen Nation in Geltung. Der König versprach auch, auf jegliche Geldverschlechterung zu verzichten und seine Finanzreformen, also zum Beispiel die Verpachtung von Zoll-, Münz- und Salzrechten an jüdische und muslimische Kammergrafen, rückgängig zu machen und ohne Zustimmung des Rates weder Ämter noch Besitz an Ausländer zu vergeben. Das Motto des lebenslustigen und leichtfertigen András II.: »Das Maß der königlichen Schenkung ist die Maßlosigkeit«, sollte endgültig der Vergangenheit angehören.

Da die Goldene Bulle nur sieben Jahre nach der englischen Magna Charta erlassen wurde, ist sie im Laufe der Jahrhunderte zu einer der Säulen des Nationalstolzes – auch zum gängigen Klischee in der Redewendung »wir und die Engländer« – als Vorbote von Freiheit und Bürgerrechten geworden.

Der Hauptunterschied zwischen den beiden Dokumenten lag freilich darin, dass in England die Barone als Erste und unwiderruflich mit dem königlichen Absolutismus aufgeräumt hatten, während es in Ungarn die Gemeinfreien waren, die gegen die Barone den Durchbruch erzielten. Dort ging es um verbriefte Zugeständnisse an die Magnaten auf Kosten der Krone, in Ungarn hingegen um Zugeständnisse an die Gemeinfreien auf Kosten der Magnaten. Die Goldene Bulle verkündet die gleichen politischen Rechte aller freien Landbewohner, aller Freien in der »Nation«, worunter die Gesamtheit der Freien, das heißt der Adligen, verstanden wird. Die Übermacht der Oligarchie wurde zwar nicht gebrochen, doch trat 1222 zum ersten Mal der Kern jener breiten, rechtlich einheitlichen adligen Mittelschicht auf, die bis ins 19. Jahrhundert das tragende Element der sogenannten politischen Nation bleiben sollte.

Die Schwächung der königlichen Machtstellung war Folge der Herausbildung eines vom Königtum unabhängigen Großgrundbesitzes gewesen. Vor diesem Hintergrund muss auch die politische Bedeutung des von einem ehemaligen, nur als Anonymus bekannten Notar des Königs Béla III. verfassten Dokumentes, der bereits erwähnten Gesta Hungarorum, gesehen werden. Was hier an Mythischem über die Rückeroberung des Erbes des Hunnenkönigs Attila erfunden wurde, diente späteren Generationen als Alibi. In ihrer Entstehungszeit sollte diese Chronik durch den Rückgriff auf die Landnahme die Rechte der Großgrundbesitzer und des hohen Adels als der Nachkommen der Sippenhäuptlinge untermauern und ihren Anspruch auf Ämter und Sitze im königlichen Rat für immer sichern. Die Rückprojektion der gegenseitigen vertraglichen Eidesleistungen auf frühere und nicht mehr genau feststellbare Ereignisse war also nur ein probates Mittel zum Zweck.

Im Gegensatz zu András II., der in seiner Maßlosigkeit und Prunksucht ganze Komitate und Burggüter an habgierige Aristokraten verschenkt hatte, versuchte sein Sohn und Nachfolger Béla IV. (1235–1270), die Macht des Königtums wiederherzustellen. Ein ernster und frommer Mensch, begann er sofort nach seiner Thronbesteigung zahlreiche Schenkungen zurückzunehmen, sogar von der Kirche. Doch lösten seine Maßnahmen und wohl auch sein strenges, fast düsteres Auftreten Entfremdung, Abneigung, ja Erbitterung gerade in den für die Verteidigung des Landes so wichtigen oberen und mittleren grundbesitzenden Schichten aus. Die Unzugänglichkeit des Königs führte zum Beispiel dazu, dass nur noch schriftlich eingereichte Bittgesuche entgegengenommen wurden. Das Unglück war, dass die innenpolitischen Spannungen gerade in einer Zeit wuchsen, als sich das christliche Königtum im Karpatenbecken von der schrecklichsten Gefahr in seiner kurzen, aber ruhmreichen Geschichte bedroht sah: der nahenden Invasion der nach Weltherrschaft greifenden mongolischen Reiternomaden.

Die Ungarn

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