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Kapitel VI UNGARNS AUFSTIEG ZUR GROSSMACHT UNTER FREMDEN KÖNIGEN

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Mit dem Erlöschen der Arpadendynastie 1301 begann in Ungarn die Herrschaft von fremden Königen aus fernen Ländern: darunter vier Neapolitaner aus dem Haus Anjou, ein Luxemburger, zwei Habsburger und drei Jagiellonen aus Polen und Böhmen. In den 225 Jahren bis zur Katastrophe von Mohács hat es nur einen aus dem Lande stammenden ungarischen König gegeben: Mátyás (Matthias) Hunyadi, genannt Corvinus. Und selbst dieser nach der Überlieferung populärste Ungar war väterlicherseits rumänischer Herkunft.

Die fast 80 Jahre der Herrschaft der französisch-italienischen Anjou-Dynastie wurden zu einer wirtschaftlich-staatspolitischen Blütezeit. Aus dem heillosen und blutigen Wirrwarr der Oligarchenkämpfe entstand ein zentralisierter, mit starker Hand geführter Staat, dessen Wirtschafts- und Finanzpolitik die Grundlagen für den Aufstieg zur Großmacht im mittelalterlichen Europa schuf.

Mithilfe des niederen Adels und der zum Teil deutschen Bürger der Bergstädte sowie dank der entschlossenen Unterstützung durch den päpstlichen Gesandten, Kardinal Gentile, gelang es Karl I., wie Karl Robert als König genannt wurde, die mächtigsten Oligarchen zu isolieren und die gefährlichsten Familienclans in einer Entscheidungsschlacht (1312) zu zerschlagen. Dennoch wartete der König noch mehr als zehn Jahre ab, bis er es wagte, seinen Regierungssitz aus der Stadt Temesvár im südlichen Siebenbürgen in das zentrale Visegrád zu verlegen. Die zeitweilig periphere Residenz hinderte Karl I. aber nicht daran, eine radikale Finanzreform vorzubereiten und die Gründung von neuen Stadtgemeinden durch gezielte Privilegien zu fördern. An die Stelle der entmachteten Oligarchen traten 50 bis 100 Adelsfamilien, auf deren königstreue Haltung sich der Herrscher verlassen konnte.

Der steigende Wohlstand des mittelalterlichen Ungarns beruhte neben dem Handel vor allem auf den reichen Edelmetalllagern. Nach Schätzungen stammte die Goldproduktion der damaligen Welt zu einem Drittel aus Ungarn und zu zwei Dritteln aus Afrika. Während das afrikanische Gold fast völlig im islamischen Orient blieb, wurde der europäische Goldbedarf zu 80 Prozent aus Ungarn gedeckt. Auch die Silberförderung des Landes nahm an Bedeutung zu. Sie dürfte schließlich rund ein Viertel des europäischen Gesamtabbaus ausgemacht haben. Die Goldproduktion erfuhr durch die Gründung neuer Bergstädte und die Liberalisierung des Grubenrechtes einen starken Auftrieb. Darüber hinaus wurde die Hausmacht des Königs durch Zoll- und Steuereinnahmen sowie durch die Einführung des Edelmetall- und Münzmonopols ausgebaut. Nach florentinischem Muster verfügte Karl I. die Prägung von Goldmünzen (Forint), die zu einem in ganz Europa begehrten und allgemein akzeptierten Zahlungsmittel wurden.

Größtes Augenmerk legte der König auf die Ankurbelung der Kolonisation. Es wurden Slowaken, Tschechen, Ruthenen, Polen, Rumänen und nicht zuletzt deutsche Bergleute ins Land geholt. Obwohl die demografischen Schätzungen für das 14. und 15. Jahrhundert trotz verfeinerter Methoden noch heute großen Schwankungen unterliegen, ist anzunehmen, dass die Einwohnerzahl unter Karl I. wieder den Stand vor dem Mongoleneinfall, also etwa zwei Millionen, erreicht hat. Ein unbestreitbarer Erfolg!

Unter den Städten wurden besonders jene gefördert, die an den Kreuzungen der großen internationalen Handelsstraßen lagen. Esztergom und Székesfehérvár, die wichtigsten Städte der Arpadenzeit, mussten Buda den Vorrang überlassen. Der Handelsplatz an der Stelle, wo die Donau aus dem Mittelgebirge heraustritt und die Ungarische Tiefebene anfängt, wurde zur Hauptstadt.

Im Jahr 1335 fand im 60 Kilometer nördlich am Donauknie gelegenen Visegrád auf Einladung König Karls I. ein historisches Treffen mit König Johann von Böhmen und Kasimir von Polen statt, dem auch Heinrich von Wittelsbach, Herzog von Niederbayern, beiwohnte. In dieser Konferenz der drei Könige wurden polnisch-böhmische Streitigkeiten geschlichtet, und es wurde beschlossen, den Warenverkehr mit dem Westen, unter Ausschluss des auf die lukrativen Hoheitsrechte pochenden Wiens, auf den Weg Prag – Brünn beziehungsweise für Ostungarn über Krakau umzuleiten. Es war also ein zutiefst symbolträchtiger Rückgriff auf die Geschichte, als sich fast 660 Jahre danach die Staats- und Regierungschefs der damaligen Tschechoslowakei und Polens auf Einladung der ungarischen Regierung in dem Städtchen Visegrád – vom einstigen Königsschloss sind nur mehr Ruinen übrig – trafen, um die Weichen für ihre Zusammenarbeit nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu stellen. So entstand auch die in der internationalen Konferenzsprache üblich gewordene Bezeichnung »Visegrád-Staaten«, wobei den wenigsten Kommentatoren die historischen Zusammenhänge klar geworden sein dürften.

Nicht nur durch die Förderung von Wirtschaftsbeziehungen und seine Friedensdiplomatie hat König Karl I. Ungarns Stellung im damaligen Konzert der europäischen Mächte abgesichert. Auch seine kluge Familienpolitik diente diesem Zweck. So war seine erste Frau eine russische Fürstentochter aus Galizien, die zweite kam aus Böhmen, die dritte war die Schwester des Königs Johann von Böhmen aus dem Hause Luxemburg und die vierte, Elisabeth, die Tochter des Polenkönigs Wladislaw Lokietek. Dem Haus Anjou war damit die Anwartschaft auf den polnischen Thron gesichert. Weiteren dynastischen Ambitionen im Norden und Süden sollte die Verheiratung von Karls Söhnen Ludwig und Andreas dienen. Dass Karl I. mit seiner erfolgreichen, auf Frieden abzielenden Außen- und Heiratspolitik gleichzeitig den Keim zu künftigen Auseinandersetzungen schuf, konnte er nicht ahnen. Jedenfalls gelang es dem König in seiner langen Regierungszeit, die Grenzen im Norden und Westen zu konsolidieren und von den österreichischen Habsburgern Pressburg zurückzubekommen.

Dass ausgerechnet auf diesen eher auf Schlichtung denn auf Konfrontation bedachten Herrscher durch einen mysteriösen Zwischenfall ein ominöser Schatten fiel, beschäftigte die Gemüter noch Jahrhunderte später. So hat der große Dichter János Arany um 1860 zu dieser Episode, in deren Mittelpunkt eine bildhübsche Hofdame der polnischen Königin stand, eine berühmte Ballade geschrieben. Klara Záh, wie die junge Schönheit hieß, wurde angeblich vom Bruder der Königin, von Kasimir, der später Polens Thron bestieg, verführt oder gar vergewaltigt. Ihr Vater, Felicián Záh, ein reicher Magnat (= hoher adliger Würdenträger), stürzte daraufhin mit gezücktem Schwert in den Speisesaal im Schlosshof von Visegrád, wo man der königlichen Familie eben das Mittagsmahl servierte. Der alte Záh konnte der sich zur Wehr setzenden Königin Elisabeth vier Finger abhacken, ehe er selbst von der Wache getötet wurde. Der Dichter beschrieb die Folgen:

»Teure Gattin«, sprach der König,

»ach, vier Finger fehlen dir!

Sollst sie nicht umsonst betrauern!

Sag, was wünschst Du Dir dafür?«

»Wünsche für den Zeigefinger

seiner Tochter Tod zum Lohn,

und für meinen Mittelfinger

sterbe sein erwachsener Sohn!

Meine anderen zwei Finger

wären dadurch nur gerächt,

wenn man gnadenlos ausrottet

gänzlich Feliciáns Geschlecht!«

(deutsch von Marin Remané)

So geschah es – wenigstens der Überlieferung nach, wobei die wahren Motive wie so oft im Dunkeln liegen. Es ist auch durchaus möglich, dass es sich um einen politischen Konflikt zwischen dem berüchtigtsten Oligarchen der Zeit und dem König handelte, bei dem Záhs Tochter nur als Vorwand diente oder vom Volksmund dazu gemacht wurde. Wie dem auch sei, der Vorwurf gegen den Bruder einer fremden Königin muss vielen (so wie im Falle der deutschen Königin Gertrud ein Jahrhundert zuvor) als nationale Schande gegolten haben; die berechtigte Rache ist dann im Gedächtnis des Volkes beziehungsweise als Thema der Literatur lebendig geblieben.

Unter den Trägern der ungarischen Krone ist der 1326 in der Visegráder Burg geborene Ludwig (Lajos) I., der ältere Sohn und Nachfolger Karls I., der Einzige, den Überlieferung und Geschichtsschreibung mit dem Beinamen »der Große« ausgezeichnet haben. Bis in die Mitte unseres Jahrhunderts galten die vier Dekaden der Ära Ludwigs des Großen als »die ruhmreichste Epoche« oder »Glanzzeit« der ungarischen Geschichte. Er habe »den außenpolitischen Traum der Arpaden – die mittelalterliche ungarische Großmacht« – verwirklicht, stellt zum Beispiel Bálint Hóman, der führende Historiker der Horthy-Zeit, fest. Heute ist man da skeptischer, was die außenpolitischen Bestrebungen (»die auf der Adria rittlings sitzende Anjou-Macht«) und insbesondere die kostspieligen und häufigen Feldzüge auf dem Balkan sowie im Norden Europas betrifft. Die Zeitgenossen und die Hofchronisten sahen nur die Erfolge auf den Schlachtfeldern und die zeitweilige territoriale Expansion der ungarischen Großmacht. Die Geschichtsforschung unserer Tage hebt hingegen eher den unrealistischen Charakter seiner Konzepte und die verhängnisvollen Folgen – auch aus dem Blickwinkel der späteren Türkenherrschaft – hervor.

Im Inneren des damals etwa 300 000 Quadratkilometer großen Landes mit angeblich bereits etwa drei Millionen Einwohnern hatte nach Ausschaltung der Oligarchen im Großen und Ganzen Ruhe geherrscht. Auch während der Regierungszeit Ludwigs, hieß es in einer Abhandlung vom Ende des 19. Jahrhunderts, »hat kein feindlicher Fuß ungarischen Boden betreten«. Durch eine bunte Reihe spektakulärer Abenteuer glückte es Ludwig zeitweilig sogar, ein Riesenreich von der Ostsee bis zur Adria zu errichten. Kaum ein Jahr verging ohne Feldzüge im Ausland. Erneut vermochte er einen Gürtel von Vasallenstaaten von Bosnien bis zur Walachei einzurichten. Für einige Jahre, wenn auch nur der Form nach, erkannten ihn sogar die Herrscher von Serbien, Nordbulgarien und Venedig als obersten Lehnsherrn an. Ludwigs größter militärischer Erfolg war zweifellos die Eroberung Dalmatiens. Ihm gelang es, gegen den Widerstand Venedigs die Oberhand zu behalten und die Küste von Ragusa (dem heutigen Dubrovnik) bis nach Fiume (Rijeka) samt den vorgelagerten Inseln für mehrere Jahrzehnte unter ungarische Kontrolle zu bringen.

Die kostspieligsten Kriege, obzwar letztlich vergeblich, führte Ludwig I. in Süditalien, wo es im Grunde um die Krone von Neapel ging. Um sie für Ungarn zu gewinnen, hatte noch Karl I. seinen jüngeren Sohn Andreas mit Johanna, Erbin des Königreiches nach ihrem Vater Robert, vermählt: unter der Voraussetzung, dass nach Roberts Tod Andreas den Thron besteigen sollte. Andreas’ Mutter erwirkte durch hohe Bestechungsgelder einen päpstlichen Dispens, sodass die beiden heiraten durften. Doch als es so weit war und Andreas König werden sollte, waren weder Johanna noch der Papst, geschweige denn das Volk bereit, den Fremdling als Herrscher zu akzeptieren. Mit aktiver Hilfe Johannas hat dann einer ihrer zahlreichen Liebhaber Andreas, den ersten ihrer vier Ehemänner, 1345 ermordet. König Ludwig I., der sich als rechtmäßigen Erben seines Bruders betrachtete und entschlossen war, dessen Tod zu rächen und seinem kleinen Kind den Thron zu sichern, unternahm 1347 und 1350 zwei große Feldzüge gegen Neapel: einmal über Land, einmal übers Meer. Er siegte zwar in beiden Fällen, aber der Papst lehnte eine Absetzung Johannas ab, und sobald Ludwig Neapel verlassen hatte, brach die durch ungarische und deutsche Söldner erkämpfte Scheinherrschaft zusammen. Er gab schließlich nach großen Blutopfern und horrenden Kosten die Idee auf, in Neapel dauerhaft Fuß zu fassen. Erst 1382 gelang es seinem Verwandten Karl von Durazzo, mithilfe eines anderen Papstes – es war die Zeit des großen abendländischen Schismas, in der zwei bis drei Päpste gegeneinander herrschten – und ungarischer Truppen Neapel zu besetzen. Die Nachricht, dass die treulose Johanna erwürgt worden sei, erreichte Ludwig den Großen, seit Jahren kränkelnd, auf dem Sterbebett.

Ludwig I. griff aber auch nach Norden aus: Da Kasimir III., der Große, ohne männliche Erben starb (1370), wurde Ludwig im Einklang mit dem bereits drei Jahrzehnte zuvor geschlossenen Familienvertrag als Nachfolger seines Schwagers zum polnischen König gewählt. Dass seine Mutter Polin war und dass er seinem Onkel in Kriegen mit Litauen dreimal zu Hilfe geeilt war, ebnete ihm den Weg zum polnischen Thron. Es war aber keinesfalls eine Eingliederung Polens in den ungarischen Staat, wie es zuweilen von nationalistischen Geschichtsschreibern Ungarns dargestellt wurde. Angesichts der Türkengefahr, aber auch der gewaltigen innen- und außenpolitischen Probleme Polens war die Personalunion in Wirklichkeit eher eine Belastung als ein Erfolg für den kranken Herrscher. Zwölf Jahre später, nach dem Tode Ludwigs I., brach die Personalunion Polen–Ungarn rasch wieder auseinander, obwohl es auch weiterhin besondere Bande zwischen den beiden Ländern gab. Die jüngere Tochter Ludwigs, Hedwig, hatte Jagiello, den Großfürsten von Litauen, geheiratet, der dann, zum katholischen Glauben bekehrt, als Wladislaw II. König von Polen wurde. Unter der neu gegründeten Jagiellonendynastie – mit Königin Hedwig als Stammmutter – begann der Aufstieg Polens zur Großmacht.

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