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Kapitel I »HEIDNISCHE BARBAREN« ÜBERRENNEN EUROPA: DIE ZEUGNISSE VON SANKT GALLEN

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Während eines halben Jahrhunderts, zwischen 898 und 955, galten die Magyaren als Geißel Europas. Auf etwa 50 Raub- und Beutezügen überrannten sie alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Plündernd, brennend und mordend überfielen die Reiterscharen die deutschen Länder, aber auch Oberitalien und große Gebiete Frankreichs. Sie plünderten und brandschatzten unter anderem Bremen und Basel, Orléans und Otranto. Die überwiegend als Söldner im Dienste irgendwelcher miteinander streitenden europäischen Fürsten unternommenen Streifzüge führten sie bis zum Nordmeer und an die atlantische Küste. Sie ritten einmal gegen und dann für den italienischen König Berengar, gegen und dann für Arnulf von Bayern, gegen und für die Interessen von Byzanz.

Als »Teufelsgeschlecht« bezeichnet sie das altfranzösische Rolandslied. Es erwähnt die Magyaren zusammen mit Hunnen und Sarazenen, die eine Blutspur hinterließen, wo immer sie auftauchten. Von unerhörten Grausamkeiten wissen die Chronisten zu berichten, wobei sie freilich häufig Magyaren – oder Ungarn, wie man sie dann nannte – und Hunnen verwechselten. Die meisten dieser Schriftkundigen hatten schließlich nie einen Ungarn gesehen, sondern gaben mündliche Erzählungen wieder, die mit der räumlichen und zeitlichen Distanz an Grauen eher noch zunahmen und sich mit pauschalen Schuldzuweisungen begnügten. So entstand das Gesamtbild eines »schaudererregenden, grausamen Stammes« und von »blutsaufenden, menschenfressenden Ungeheuern aus Skythien«, die überall nur Angst und Schrecken verbreiteten.

Gut belegt und aufgrund von Detailschilderungen für die Nachfahren der Eindringlinge von höchstem Interesse ist allerdings ein Raubzug von 926. Gleich drei Chronisten berichteten in unterschiedlichen Fassungen, die zwischen 970 und 1075 niedergeschrieben wurden, von einem Überfall auf das Kloster Sankt Gallen und seine Umgebung. Blitzschnell waren »die heidnischen Barbaren« durch Bayern und Schwaben an den Bodensee vorgestoßen. Im Kloster richteten sie schwere Schäden an und erschlugen dabei eine alemannische Adlige, die sich zehn Jahre zuvor in eine Zelle hatte einschließen lassen: Die fromme Wiborada wurde mit mehreren Axthieben getötet und ging als Märtyrerin in die Kirchengeschichte ein. Papst Clemens II. sprach die mystisch begabte und wegen ihrer gottesfürchtigen Askese gerühmte »Inklusin« 1047 als erste Frau heilig.

Sie hatte dem Abt von Sankt Gallen bereits im Frühjahr den genauen Zeitpunkt des Einfalles der kriegerischen Scharen aus dem Osten vorausgesagt und ihn gedrängt, sich, die Mönche und den Kirchenschatz mitsamt der kostbaren Klosterbibliothek rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. »Das Gerücht über den Einbruch der Feinde verdichtete sich von Tag zu Tag. Trotzdem schenkte man ihm erst Aufmerksamkeit, als das Barbarenvolk auch die Gegend am Bodensee mit gezücktem Schwert an den Rand des Abgrundes brachte, zahllose Menschen erschlug und alle Dörfer und Häuser im Feuer zerstörte«, heißt es in der Vita Sanctae Wiboradae.1 Dann erst hörte man auf die Seherin. Immerhin konnten dadurch viele Menschen und unersetzliche Bücher gerettet werden. Wiborada selbst ließ sich aber nicht zur Flucht bewegen. Sie starb am 2. Mai 926.

Das Leben und Sterben der heiligen Wiborada, die auch als Schutzpatronin der Bibliotheken verehrt wird, sowie die Chroniken der Mönche Ekkehart I., Ekkehart IV. und Herimannus haben die Fantasie späterer Generationen immer wieder angeregt. Bis in die unmittelbare Gegenwart hat sie Dichter und Schriftsteller inspiriert: So hat eine Schweizer Schriftstellerin, Doris Schifferli, erst 1998 einen Wiborada-Roman veröffentlicht. Und 1992 gab ein nach der Revolution von 1956 in die Schweiz geflüchteter und in Sankt Gallen sesshaft gewordener ungarischer Arzt eine zweisprachige Publikation über die Geschichte des Ungarneinfalles im 10. Jahrhundert heraus, die auf die »uralte, anfänglich noch kriegerische, heute friedlich-freundschaftliche Beziehung zwischen Ungarn und Sankt Gallen« eingeht.

Bis heute wird an Wiboradas Todestag alljährlich in der Liturgie an sie erinnert. So war es zutiefst symbolträchtig, als der ungarische Kardinal József Mindszenty 1972 die Stiftsbibliothek ausgerechnet an diesem Gedenktag besuchte und sich als Primas Hungariae in das Goldene Gästebuch eintrug.

Das Interesse der Ungarn im Allgemeinen und der Historiker im Besonderen gilt freilich weniger dem Leben der Schutzheiligen des Klosters und heutigen Bistums Sankt Gallen als vielmehr der Tatsache, dass in der Bibliothek wichtige Quellen zur frühen Geschichte des ungarischen Volkes aufbewahrt werden. Die Aufzeichnungen in den Jahrbüchern und die »im neuen, unterhaltsamen Stil« verfassten Geschichten des Chronisten Ekkehart IV. bringen nämlich Licht ins Dunkel jener Zeit. In den alemannischen Annalen, im 9. und 10. Jahrhundert von mehreren Händen niedergeschrieben, werden die Ungarn neunmal und in den größeren Sankt Gallener Jahrbüchern des 10. Jahrhunderts sogar fünfzehnmal erwähnt.

In Ekkeharts Chronik finden sich zudem Details zu den Ereignissen vom 1. und 2. Mai 926, die bis heute zur Pflichtlektüre ungarischer Schulkinder gehören. Es ist die einzige Schilderung, in der die Magyaren nicht nur als Unmenschen erscheinen. Zum ersten Mal lieferte hier ein Augenzeuge eine ausführliche, lebensnahe Beschreibung der Sitten und Gewohnheiten der Ungarn. Urheber war ein eher »einfältiger und beschränkter Bruder namens Heribald, dessen Sprüche und Streiche oft belächelt wurden«. Die anderen Mönche hatten ihm gesagt, er solle mit ihnen fliehen. Doch Heribald weigerte sich: »Fürwahr, fliehe, wer will! Ich werde niemals fliehen, weil mir der Kämmerer für dieses Jahr mein Schuhleder noch nicht gegeben hat.«

Die köcherbewehrten Feinde, die in das nicht befestigte Kloster einbrachen, seien mit ihren drohenden Wurfspeeren und spitzen Pfeilen entsetzlich anzuschauen gewesen, gestand Heribald hinterher. Trotz des furchterregenden Gehabes wurde ihm kein Haar gekrümmt. Die Ungarn hatten nämlich einen Dolmetscher bei sich, einen verschleppten Geistlichen, der ihnen übersetzte, was Heribald von sich gab. Und als sie begriffen, dass sie es mit einem Narren zu tun hatten, ließen sie ihn laufen. Er durfte sogar an einer Schlemmerei im inneren Klosterhof teilnehmen. Wie er später erzählte, verzehrten die Magyaren die halb rohen Fleischstücke nicht mit Messern, sondern indem sie sie mit den Zähnen »rissen«. Auch dem Klosterwein wurde heftig zugesprochen. Und zum Zeitvertreib warfen die Magyaren sich abgenagte Knochen zu. Dann hätten sie den Gesängen der beiden gefangenen Mönche gelauscht.

Zu Heribalds nachdrücklichem Missfallen trieben sie ihre derben Späße aber nicht nur im Klosterhof und auf dem freien Feld, sondern ebenso in der Kirche und auf heiligem Boden. Zwei der ausgelassenen jungen Männer kletterten auf den Glockenturm, da sie meinten, der Hahn an der Spitze sei aus Gold. Der eine, der den Wetterhahn mit der Lanze loszureißen versuchte, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Tod. Der andere wollte bei der höchsten Ostzinne seine Notdurft verrichten. Dabei fiel er rücklings in die Tiefe und blieb zerschmettert liegen. Wie Heribald später erzählte, verbrannten die Krieger beide Leichen zwischen den Torpfosten. Zwei bis zu den Siegeln angefüllte Weinfässer wurden auf Heribalds Flehen verschont. Wahrscheinlich befanden sich auf den Beutekarren ohnehin schon genügend Vorräte.

»Gott schützte gerade die Geistesschwachen inmitten feindlicher Schwerter und Speere«, bemerkte der Chronist. Als dann die zurückkehrenden Ordensbrüder Heribald, den Augenzeugen, fragten, wie ihm die so zahlreichen Gäste des heiligen Gallus gefallen hätten, gab er die überraschende Antwort: »Ei, ganz ausgezeichnet! Ich erinnere mich nicht, jemals fröhlichere Leute in unserem Kloster gesehen zu haben, denn sie verschenkten Speise und Trank in Hülle und Fülle.«

Während infolge der zahllosen Verwirrungen und Verwechslungen im Zusammenhang mit den Erzählungen über das Martyrium der heiligen Wiborada der Volksmund in der Schweiz noch heute fast ausnahmslos von der Schreckenszeit der »Hunneneinfälle« spricht, welche dem Goldenen Zeitalter der Abtei Sankt Gallen ein jähes Ende setzten, gilt für ungarische Schriftsteller und Wissenschaftler die im 11. Jahrhundert niedergeschriebene Geschichte über Bruder Heribald als ein schlagender Beweis für die Kontinuität des »magyarischen Nationalcharakters«. In dem von Kronprinz Rudolf initiierten 24-bändigen Sammelwerk Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, dessen letzte Folge 1902 erschien, berief sich zum Beispiel der Historiker Karl Szabó ausdrücklich auf die damals in Sankt Gallen aufgezeichnete »lebensnahe Beschreibung eines ungarischen Reiters«: »Es ist unmöglich, in diesen interessanten Schilderungen … der urwüchsigen, zügellosen, rasch auflodernden, aber auch rasch wieder sich versöhnenden, heiteren, lebensfrohen, unverdorbenen Magyaren-Jünglinge die auch heute noch in die Augen fallenden Züge des magyarischen Nationalcharakters zu verkennen.«2 Jahrzehnte später hat auch der offiziöse Historiker und langjährige Kulturminister der Zwischenkriegszeit, Bálint Hóman, in der gemeinsam mit Gyula Szekfű verfassten fünfbändigen Geschichte Ungarns Bruder Heribald als Kronzeugen für die Tradition der heiteren, trinkenden, singenden, offenherzigen und jovialen Ungarn präsentiert. In diesen Geschichten erkenne man die Vorfahren des ungarischen Bauern …

Moderne ungarische Historiker verweisen allerdings auf die Bedeutung der bis dahin ausführlichsten Beschreibung der strikten Disziplin der Reiterkrieger. Die Erzählungen des Bruders Heribald lassen jedenfalls auf eine bestens trainierte Truppe schließen, die in Minuten Schlachtordnung einzunehmen vermochte, sich bei der Rast oder für die Nacht in eine sorgfältig bewachte Wagenburg zurückzog und sich beim Abmarsch durch eine Vor- und Nachhut schützte. Die Truppenteile verständigten sich durch Kuriere sowie durch Horn- und Feuersignale. Im Falle von Gefahr schwangen sich alle auf Kommando in den Sattel und gehorchten blitzschnell allen Befehlen. Nur dank dieser ausgezeichneten Disziplin waren die im Grunde fantastischen Leistungen der hervorragenden Reiter möglich, die, über 1000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, in alle Richtungen Streifzüge unternahmen.

Das technische Geheimnis der verheerenden militärischen Durchschlagskraft der berittenen ungarischen Bogenschützen war schlicht und einfach der Steigbügel. Mit seiner Hilfe konnten sich die Ungarn mühelos im Sattel abstützen, was die blitzschnelle Wendigkeit ihrer in Hundertschaften formierten Abteilungen und die vielfach überlegene Treffsicherheit ihrer Waffen erklärt. Ihre berüchtigte bewegliche Kampfweise und vor allem die Taktik der vorgetäuschten Flucht stürzten die schwerfälligen feindlichen Heere in Verwirrung. Das gellende, grausig klingende Schlachtgeheul der wilden, fast kahl geschorenen Reiter ließ das Blut der Überfallenen in den Adern erstarren. Es war dann ein Leichtes, die flüchtenden Ritter, die rasch die Orientierung verloren, mit Pfeil und Krummsäbel niederzumachen.

Wie im Falle der Episode von Sankt Gallen hielten sich die ungarischen Historiker und Schriftsteller – und erst recht die Schulbücher – nicht lange bei den Grausamkeiten auf, welche die verwegenen Reiternomaden auf ihren Beutezügen begangen hatten. Die ungarischen Chronisten nannten die Streifzüge elegant »Abenteuerfahrten«. Generationen von jungen Magyaren wurden im Geiste eines unbändigen Stolzes auf die ungarischen Kriegserfolge erzogen. Sie alle lernten, dass man in den deutschen und italienischen, französischen und spanischen Klöstern betete: »De sagittis Hungarorum libera nos, Domine!« (Vor den Pfeilen der Ungarn errette uns, o Herr!)

Die diametral entgegengesetzte Wertung der Sankt Gallener Episode und der furchtbaren Verheerungen durch magyarische Krieger in der westlichen und in der ungarischen Geschichtsschreibung liefert einen kleinen, aber äußerst interessanten Hinweis darauf, wie es zur Herausbildung von Stereotypen kommt, die sich im Laufe der Zeit zu einer Nationalcharakterologie verdichten. Es gibt mehrere Gründe dafür, dass das Feindbild im Westen und das Selbstbild der Ungarn, von immer neuen Generationen erlernt und vor allem kulturell übermittelt, als unbewusste Charakterisierungen, oft aber auch als bewusst gepflegte Vorurteile bis in unsere Tage bewahrt und weitergegeben werden. Unkritisch übernommene und hart aufeinanderprallende Herkunftsmythen sind wichtige Komponenten von emotional aufgeladener Fremdenfeindlichkeit und so schnell und oft so verhängnisvoll aufbrechenden ethnischen Konflikten. Gerade im Falle Ungarns prägten die auf die »anderen« Volksgruppen, aber auch auf die eigene bezogenen Stereotypen seit eh und je besonders stark das Verhältnis zu den Nachbarnationen wie zu den ethnischen Minderheiten im einstigen Großungarn.3

Wie wir noch sehen werden, lässt sich eine Grenze zwischen Geschichtsschreibung, historischen Stereotypen und nationalen Mythen in Mitteleuropa kaum mehr ziehen. Die bildhaften Vorstellungen reichen bisweilen tief ins frühe Mittelalter zurück. Der große französische Historiker Fernand Braudel warnte vor Pauschalurteilen: »Bis zur Renaissance behaupteten sich sämtliche Staaten als raubgierige Bestien … Niemals hat die Karte Europas so viele und so ausgedehnte weiße Flecken aufgewiesen wie vor dem Jahr 1000.«4 In einem späteren Werk kommt Georges Duby zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Er meint, dass im Europa des Mittelalters Spuren bestenfalls als »Grundlage vager Vermutungen« gewertet werden können. »So bleibt die Vorstellung vom Europa des Jahres 1000 mehr oder weniger unserer Fantasie überlassen.«5 Das galt erst recht für den Karpatenraum.

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