Читать книгу Die Ungarn - Paul Lendvai - Страница 7
EINLEITUNG
ОглавлениеDie Existenz, ja das Überleben des ungarischen Volkes und seines Nationalstaats im Karpatenbecken ist ein Wunder der europäischen Geschichte. Es gibt kaum eine Nation, deren Bild im Laufe der Jahrhunderte und Epochen von so vielen und einander dermaßen widersprechenden Klischees umwoben ist wie das der Magyaren. Wie wurden aus »kinderfressenden Kannibalen« und »blutrünstigen Hunnen« die Verteidiger des christlichen Abendlandes und heldenhafte Freiheitskämpfer gegen Mongolen, Türken und Russen? Wer waren die »asiatischen Barbaren«, die auf ihren Raubzügen von der Schweiz bis Frankreich, von Deutschland bis Italien Angst und Schrecken verbreitet hatten und doch als die Letzten der Völkerwellen aus Asien nicht in der Versenkung verschwunden sind?
Ihre Urheimat, ihr Ursprung und die Wurzeln ihrer Sprache, die Gründe ihrer Migration und Ansiedlung sind bis heute umstritten. Dass die Magyaren aber – abgesehen von den Albanern – das einsamste Volk in Europa bilden, mit einer einzigartigen Sprache und Geschichte, kann kaum bezweifelt werden. Arthur Koestler, der ungarisch träumte, aber seine Bücher auf Deutsch, später auf Englisch schrieb, sagte einmal: »Vielleicht erklärt sich aus dieser exzeptionellen Einsamkeit die seltsame Intensität seiner Existenz. Ungar zu sein ist eine kollektive Neurose.«
Seit der Landnahme um 896 ist diese Einsamkeit mit ihren vielen Facetten der bestimmende Faktor in der ungarischen Geschichte geblieben. Die Angst um den langsamen Tod einer kleinen Nation, um das Aussterben des Ungartums und um die Folgen der durch verlorene Kriege erzwungenen Amputation ganzer Volksgruppen (jeder dritte Ungarnstämmige lebt im Ausland) bildet den Hintergrund zur Dominanz der Todesbilder in Dichtung und Prosa.
Sagen, Legenden und Volksüberlieferungen verdeckten oder verzerrten die Realitäten. Zugleich schufen diese Mythen aber die Geschichte in diesem Raum und prägten das Konzept der Nation. Unter der Stephanskrone als Symbol der sogenannten »politischen Nation« bahnte sich ein wechselvolles, zuweilen von glanzvollen Erfolgen gekröntes, manchmal von tragischen Konflikten geprägtes Verhältnis zwischen Ansässigen und Eroberern, Zugereisten und Ausgegrenzten an. Die Wechselwirkung zwischen Öffnung und Abkapselung, zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus, zwischen Einsamkeitsgefühl und Sendungsbewusstsein, zwischen Todesangst und Aufbegehren gegen die Stärkeren fand eine eindrucksvolle Widerspiegelung in den sich wandelnden Zeiten der Kultur und Geschichte Ungarns. Eine lange Kette von schicksalhaften Niederlagen verstärkte das Gefühl des Ausgeliefertseins (»Wir sind das verlassenste von allen Völkern der Erde«, so der Nationaldichter Petőfi) und erfüllte fast alle Generationen des Magyarentums mit einem tief verwurzelten Lebenspessimismus. Die Verwüstungen des vom Westen wiederholt im Stich gelassenen Landes während des Mongolensturmes 1241, die Katastrophe von Mohács 1526 mit der daraus folgenden, anderthalb Jahrhunderte andauernden Türkenbesetzung, die Niederwerfung des Freiheitskampfes 1848/49 durch die vereinten Streitkräfte der Habsburger und des russischen Zaren, die Zerstörung des historischen Ungarns durch das Diktat von Trianon 1920, die vier Jahrzehnte der Sowjetherrschaft und des Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg samt der blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes von 1956 waren Katastrophen, die das Bewusstsein der Verlassenheit immer wieder verschärften. Wer könnte aber je die unglaubliche Widerstandskraft und die schöpferische Überlebenskunst dieses Volkes bestreiten?
Trotz der Dreiteilung des Landes und der Jahrhunderte der Fremdherrschaft vermochten die Ungarn ihre nationale Identität zu bewahren. Es war die leidenschaftliche Heimatliebe, die ihnen die Kraft gab, zwischen Deutschen und Slawen, ohne Verwandte und durch die »Chinesische Mauer« ihrer Sprache getrennt, zu überleben und die Katastrophen zu überstehen. Einen der Schlüssel zum Verständnis des Aufstiegs und des Zusammenbruches Ungarns, von der Landnahme bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, aber auch der sich in schneller Reihenfolge ablösenden Umwälzungen zwischen 1920 und 1990 liefern die um 1030 (wahrscheinlich von einem deutschen Geistlichen) verfassten Mahnungen des ersten christlichen Königs aus dem Hause Árpád, Stephans des Heiligen, an seinen Sohn:
Das Römische Reich hat besonders deshalb so an Bedeutung gewonnen und seine Fürsten sind dadurch so ruhmreich und so mächtig geworden, weil zahlreiche Edle und Weise aus verschiedenen Ländern sich dort zusammenfanden … So wie die Ansiedler aus verschiedenen Ländern und Provinzen kommen, bringen sie auch verschiedene Sprachen und Sitten, verschiedene lehrreiche Dinge und Waffen mit, welche den königlichen Hof zieren und verherrlichen, die auswärtigen Mächte aber erschrecken. Ein Land, das nur einerlei Sprache und einerlei Sitten hat, ist schwach und gebrechlich. Darum, mein Sohn, trage ich Dir auf, begegne ihnen und behandle sie anständig, damit sie mit und bei Dir lieber verweilen als anderswo, denn wenn Du das, was ich erbaute, zerstören, was ich ansammelte, auseinanderstreuen wolltest, dann würde Dein Reich ohne Zweifel erheblichen Schaden leiden.
So kamen bereits im 11. Jahrhundert auf Einladung der Dynastie Deutsche nach Oberungarn und Siebenbürgen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden nicht nur die besiegten Nomadenvölker, wie etwa die Petschenegen und Kumanen, sondern auch Deutsche und Slowaken, Rumänen und Kroaten, Serben und Juden vom Ungartum sozusagen aufgesogen. Es gehört zu den verblüffendsten und von nationalistischen Chronisten später verdrängten oder glatt verschwiegenen Zügen der ungarischen Geschichte, dass die Schöpfer des nationalen Mythos, die viel besungenen Helden der Türkenkriege, die politischen und militärischen Führer des Freiheitskampfes gegen die Habsburger, herausragende Figuren der Literatur und Wissenschaft, gänzlich oder zum Teil deutscher oder kroatischer, slowakischer, rumänischer oder serbischer Herkunft waren. Wenn man bedenkt, dass zur Zeit Kaiser Josephs II. die Magyaren nur knapp ein Drittel der damaligen Bevölkerung Ungarns ausmachten, sie ihren Anteil bis 1910 aber auf 54,5 Prozent steigerten, können wir zweifellos von einer geradezu sensationellen Dynamik der sprachlichen und politischen Assimilation im alten Ungarn sprechen. Laut statistischen Schätzungen ging die Zahl der sich neu zum Ungartum bekennenden Deutschen über 600 000 hinaus, während die der assimilierten Slowaken über eine halbe Million und die der zu Magyaren gewordenen Juden rund 700 000 betragen haben dürfte. Insgesamt schätzte man, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg der Anteil der assimilierten Deutschen, Slawen und Juden mehr als ein Viertel des statistisch festgestellten Magyarentums ausmachte.
Die ungarische Staatsidee, einschließlich der Unterdrückung der Nationalitäten im Zeichen einer völlig unrealistischen Zukunftsvision von der Rolle eines großen Reiches der Stephanskrone im Donauraum, war nicht rassistisch, sondern ausschließlich kulturell bedingt. Ein jeder, der sich zum Ungartum bekannte, hatte die gleichen Aufstiegschancen. Darin lag freilich auch die Chance für jene Juden, die sich als jüdische Ungarn bereits zur Zeit der Revolution von 1848 mit der ungarischen Nationalbewegung und in den darauffolgenden Jahrzehnten mit der ungarischen Sprache und Kultur identifizierten. Andererseits brauchte Ungarn loyale Menschen, die das ungarische Gewicht innerhalb der Länder der Stephanskrone stärkten und zugleich (zusammen mit den Deutschen und Griechen) bereit waren, die vom ungarischen Mittel- und Kleinadel stets abgelehnte Arbeit in den Bereichen Wirtschaft und Finanz sowie in den intellektuellen Berufen zu übernehmen. Das einzigartige Verhältnis zwischen Juden und Magyaren prägte den wirtschaftlichen und kulturellen Umbruch in den Jahrzehnten nach dem Ausgleich mit Österreich.
Das Schicksal des assimilationswilligen Judentums gehört zu den glänzendsten und dann in der Zwischenkriegszeit, vor allem nach dem deutschen Einmarsch 1944/45, zu den düstersten Kapiteln der ungarischen Geschichte. Es war eine der absurden und doch logischen Folgen der staatlich geförderten antijüdischen Gesetzgebung, dass viele der großen Begabungen, darunter acht Nobelpreisträger, ihre bahnbrechenden Erfolge in Wissenschaft und Kunst, Finanzen und Industrie nicht in ihrer Heimat, sondern vor allem in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten erreicht haben.
Auch das Verhältnis zwischen Ungarn und Deutschen war in mancher Hinsicht seit der Vermählung Stephans des Heiligen mit der bayerischen Fürstin Gisela, der Schwester des späteren Kaisers Heinrich II., im Jahr 996 einmalig. Am Hof des ersten Ungarnkönigs spielten die im Gefolge von Gisela eingewanderten deutschen Priester, Ritter und Adligen eine führende Rolle, und dem König schwebten germanische Institutionen als Vorbilder vor. Auch seine Nachfolger aus dem Haus der Arpaden förderten planmäßig die Bildung größerer deutscher Kolonien – in den Worten eines ungarischen Historikers des 19. Jahrhunderts: »Die Ungarn schufen den Staat; die Deutschen die Städte.« Das Gemüt der herrschenden Schicht der Magyaren schwankte zwischen vorbehaltloser Bewunderung und tief verwurzeltem Misstrauen.
Was die Deutschen betrifft, so blieben die von dem deutschen Bürgertum dominierten königlichen Freistädte von den Türkenkriegen verschont. Während die ersten großen Gruppen von den ungarischen Königen in den nördlichen Landesteilen und die Sachsen in Siebenbürgen angesiedelt wurden, ließen die Habsburger im 18. Jahrhundert vor allem in Südungarn die Regionen Batschka und Banat besiedeln. Es waren die den deutschen Bürgern zugestandenen Privilegien, die zum Teil Argwohn bei den benachteiligten Ungarn erweckten. Politisch wichtiger war aber die zu Anfang des 19. Jahrhunderts von national gesinnten Adligen und Literaten geführte Bewegung zur Erhaltung und zur Erneuerung der von der Germanisierung gefährdeten ungarischen Sprache. In vielen ungarischen Familien hielt man es damals für nicht mit dem guten Ton vereinbar, sich miteinander in der Muttersprache zu unterhalten oder ungarische Gedichte und Romane zu erwähnen. Der Dichter Károly Kisfaludy, der anfänglich selbst mit seinem Bruder deutsch korrespondierte und die Muttersprache sozusagen wieder erlernen musste, warnte: »Das Volk, das keine Muttersprache besitzt, hat auch keine Heimat.« Am Vorabend der Revolution im Jahr 1848 hielt der Schriftsteller József (Joseph) Bajza eine flammende Rede an der Akademie der Wissenschaften in Budapest:
Die deutsche Sprache und Kultur ist eine Gefahr für unsere Nation. Wir sollten endlich zur Besinnung kommen und einsehen, dass uns diese Mode ins Verderben führt und dass uns besonders die eingedrungene deutsche Sprache das Ende bereitet … Nicht hassen sollen wir den Deutschen, sondern uns vor ihm hüten … Ich bin kein Barbar und will nicht gegen die Bildung eifern … Ich halte es aber doch für eine Sünde, wenn ein Volk die Bildung mit seinem eigenen Dasein bezahlt.
Als nach dem Ausgleich mit Österreich (1867) die österreichisch-ungarische Monarchie entstand und Ungarn im Rahmen des damals Möglichen weitgehende Eigenständigkeit errang, ging man schnell und verblendet den Weg einer immer zügelloser werdenden Magyarisierung. Darauf schleuderte Franz von Löher in einer äußerst aggressiven Streitschrift den Ungarn entgegen, sie seien »ein Volk ohne Kultur«, denn »welche gähnende Öde bedeckt die ganze tausendjährige Geschichte der Magyaren. Helfen kann nur das Deutschtum in Ungarn mit seinem Fleiß und seiner Kultur.«
Dieser Zwiespalt zwischen Kooperation und Konflikt, zwischen Bündnis und Zusammenbruch, zwischen Interessengemeinschaft und dem Streben nach einem eigenen Weg prägte fortan das gegenseitige Verhältnis. Die über eine halbe Million starke deutsche Minderheit Rumpf-Ungarns wurde im Dritten Reich zuerst ein scheinbar privilegiertes Werkzeug des NS-Regimes und dann auf dem Weg in die Katastrophe der Mutternation und des Staatsvolkes zu einem Opfer durch Vertreibung der Hälfte des Ungardeutschtums und durch jahrzehntelange ungerechte Diskriminierung der in Ungarn verbliebenen Minderheit.
Kein Wunder also, dass in der tausendjährigen Geschichte der Magyaren die ewigen Fragen »Wer ist ein Ungar?« oder »Was ist ein Ungar?« immer wieder auftauchen. Die Antworten waren nie eindeutig, und es geschah auch, dass ein und derselbe, vor allem im deutschen Sprachraum oft zitierte Literaturhistoriker je nach der politischen Großwetterlage große ungarische Schriftsteller und Wissenschaftler einmal in den höchsten Tönen lobte, um sie nur einige Jahre später wegen ihrer »fremdartigen Rasse« und ihres »schädlichen Einflusses« auf die Nation aus dem Ungartum auszugrenzen. Dass dabei die ausgegrenzten oder als »antiungarisch« verdammten Literaten oft ein besseres Ungarisch geschrieben haben als ihre tendenziösen Kritiker, gehört ebenso zu den skurrilen Zügen der ungarischen Geschichte wie die Tatsache, dass in Ungarn der Rassismus in der Literatur und Politik fast immer durch gänzlich oder zum Teil »fremdrassige Figuren« vertreten wurde.
Darauf wies bereits Antal Szerb hin, der Verfasser der bis heute unübertroffenen Geschichte der ungarischen Literatur. Er nahm den berühmten General und Dichter Nikolaus (Miklós) Graf Zrinski als Beispiel. Von Geburt aus Kroate, bekannte sich Zrinski (im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Péter, der seine großen Gedichte ins Kroatische übersetzte) zum Ungartum. So bewies einer der größten Helden der ungarischen Geschichte, dass die Nationalität Folge einer Haltung, eines Willens sei, betonte Szerb. Er selber fiel dem Holocaust zum Opfer …
Wer weiß heute, dass es ohne die ungarischen Bahnbrecher der Moderne möglicherweise keine Atombombe, keinen Computer, kein Hollywood gäbe, dass der ungarische Genius, welch ethnischer oder religiöser Herkunft auch immer, Wissenschaft und Kunst, die Ökonomie und Industrie weltweit, oft maßgeblich, mitgeprägt hat? Der Widerspruch zwischen genialen individuellen Leistungen und dem wiederholten kollektiven Scheitern der Nation bleibt in der Tat einer der faszinierendsten Züge der turbulenten Geschichte des einstigen Nomadenvolkes. Sind also die Ungarn als ewige Verlierer heute ohne Hoffnung auf eine friedliche Vereinigung der Mutternation mit dem versprengten Drittel des Volkes unter fremder Herrschaft? Oder entpuppen sie sich doch immer wieder als Sieger in der Niederlage, als Opfer und Lebenskünstler, Romantiker und Realisten? Der Schriftsteller Tibor Déry sagte nach der niedergeschlagenen Revolution von 1956 einmal: »Was ist das Ungarische? Ein Witz, der über Katastrophen tanzt.«
In einer Mischung von geschichtlichem Überblick, biografischen Skizzen und Milieugeschichten versuche ich, die Ungarn und ihr wechselvolles Schicksal ausländischen, der ungarischen Sprache nicht mächtigen Lesern näherzubringen. Als ein nach 60 Jahren in Wien zum Österreicher gewandelter gebürtiger Ungar jüdischer Herkunft hoffe ich, keine Tabus beachten zu müssen und die Magyaren aus freundlicher, aber auch kritischer Distanz beschreiben zu können.