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Kapitel V DER MONGOLENEINFALL VON 1241 UND SEINE FOLGEN

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Zum Jahr 1241 stellte Hermann von Niederaltaich in den Annalen seines Klosters lapidar fest: »In diesem Jahr wurde das Königreich Ungarn nach 350-jährigem Bestand von den Tataren vernichtet.« Der bayerische Mönch war ebenso erschüttert wie Kaiser Friedrich II., der fast gleichzeitig in einem Brief an den englischen König schrieb: »Jenes ganze edle Königreich wurde entvölkert, verwüstet und in eine Einöde verwandelt.« Die Zeitzeugen und Chronisten nannten die asiatischen Angreifer noch »Tataren«, obwohl sie selbst sich bereits als Mongolen bezeichneten.37

Zwar war der »Mongolensturm« schon seit fast einem Jahrzehnt in Asien und Osteuropa im Gange und hatte bereits Russen, Kumanen und Polen in Mitleidenschaft gezogen, doch traf der Hauptstoß der Nachfolger Dschingis Khans mit voller Wucht erst Ungarn. Am 11. April 1241 haben die von Batu Khan geführten mongolischen Reiter bei Mohi, am Zusammenfluss von Sajó und Hernád, die zahlenmäßig überlegene, aber schlecht geführte, in einer Wagenburg verschanzte ungarische Streitmacht vernichtet und die kirchlichen und weltlichen Würdenträger des Landes in einem unbeschreiblichen Chaos größtenteils niedergemetzelt. Wie durch ein Wunder konnten sich der König und einige junge Ritter retten. Doch die Mongolen verfolgten Bélas Spuren sogar bis nach Klosterneuburg und belagerten schließlich die dalmatinische Inselstadt Trogir (Trau), wo er seine letzte Zuflucht gefunden hatte. Die Mongolen betrachteten ein Land nämlich nicht als endgültig erobert, solange sein rechtmäßiger Herrscher noch am Leben war.

Gerettet wurde der monatelang in Trogir bedrängte König – und mit ihm Ungarn, ja möglicherweise sogar das Abendland – durch den plötzlichen Tod des Großkhans im fernen Karakorum. Als im Frühjahr 1242 diese Nachricht samt der damit verbundenen Nachfolgefrage Batu erreichte, machten die Mongolen unverzüglich kehrt. Mit reicher Beute und zahlreichen Gefangenen zogen sie aus Ungarn ab. Noch 13 Jahre später begegneten die Missionare Carpini und Rubruk auf ihrer Reise durch den Karakorum ungarischen Sklaven.

Das Jahr des Mongolensturmes bedeutete für die magyarische Bevölkerung eine tiefe Zäsur. Kenner der mittelalterlichen Welt, wie der Historiker György Györffy, behaupten, dass sich die Ungarn von jenem schrecklichen Aderlass nie mehr völlig erholt hätten.

Nach Györffys Berechnungen wurden etwa 60 Prozent der Siedlungen in der Großen Tiefebene zerstört. Wer von den Einwohnern der Abschlachtung oder Verschleppung durch die Mongolen entkommen konnte, dem drohte der Tod durch Hunger und Seuchen. Hinzu kamen Erntekatastrophen, die sich sogar über zwei Jahre erstreckten, weil alles vernichtet war und die Felder nicht mehr bestellt werden konnten.

Etwas günstiger war die Situation in den Gebieten westlich der Donau, da diese von den Mongolen nur auf dem Durchmarsch geplündert und gebrandschatzt, aber nie vollständig besetzt wurden. In diesen Regionen beliefen sich die Bevölkerungsverluste auf rund 20 Prozent. Die slawische Bevölkerung Oberungarns sowie die Szekler und die Rumänen des siebenbürgischen Berglandes blieben weitgehend verschont. Alles in allem dürfte – nach älteren Schätzungen – fast die Hälfte der etwa zwei Millionen Einwohner, die Ungarn um 1240 zählte, den direkten oder mittelbaren Folgen des Mongolensturmes zum Opfer gefallen sein.38

Für Béla IV. kam der Angriff nicht überraschend. Der König hatte vermutlich als Einziger in Ungarn, vielleicht sogar im ganzen Westen, die tödliche Gefahr erkannt, welche die Expansion der von der Idee der Weltherrschaft besessenen Mongolen für das Abendland darstellte. In Ungarn war man wegen der nie gänzlich abgerissenen Beziehungen zu den russischen Fürstentümern über die Ereignisse im Osten, so auch über die vernichtende Niederlage der Russen und Kumanen gegen die mongolischen Reiternomaden im Jahr 1223, schnell und zuverlässig informiert.

Darüber hinaus hatte Béla noch als Kronprinz eine aus Dominikanermönchen bestehende Gruppe nach Osten geschickt, um die laut Überlieferung in der Urheimat verbliebenen Stammesgenossen zum Christentum zu bekehren. Auf der Suche nach Magna Hungaria, dem Land der Frühmagyaren, stieß Bruder Julian an der Wolga in der Tat auf Menschen, mit denen er sich in ungarischer Sprache verständigen konnte. Durch diese »Verwandten« hörte er vom unaufhaltsamen Vormarsch der furchtbaren Mongolen Richtung Westen. Ein Ordensbruder hat nach seiner Rückkehr 1237 einen Reisebericht niedergeschrieben und an die römische Kurie weitergeleitet. Als sich Julian zum zweiten Mal auf eine abenteuerliche Reise nach dem Osten begab, um die Absichten der Mongolen zu erkunden, konnte er die inzwischen verwüstete Heimat der fernen Stammesgenossen nicht mehr erreichen, da diese bereits unterworfen worden waren. Julian eilte mit der Schreckensnachricht und genauen Informationen über die Kriegsvorbereitungen nach Ungarn zurück. Er brachte auch einen Brief Batu Khans an König Béla mit, der ihn zur Unterwerfung und zur Auslieferung der »kumanischen Knechte« aufforderte, die in Ungarn Zuflucht gefunden hätten. Béla ließ das Ultimatum unbeantwortet. Im Gegensatz zu Papst und Kaiser, die seit Jahren in einem leidenschaftlichen Streit über den Primat Roms verstrickt waren, nahm der König die Drohungen der Mongolen jedoch ernst. Er wusste, dass den Anklagen und Aufforderungen, wenn sie von den Beschuldigten ignoriert oder zurückgewiesen wurden, stets ein verheerender Feldzug gefolgt war.

Béla IV. ahnte also, was seinem Land bevorstand, und rüstete für den Krieg. Persönlich besichtigte er die Grenzgebiete; an den Pässen ließ er Verteidigungsanlagen errichten und versuchte, ein starkes Heer zusammenzustellen. Dass dann trotz seiner Vorkehrungen und Warnungen an die Adresse der ungarischen Adligen wie auch seiner Appelle an den Papst, an Kaiser Friedrich II. und Könige Westeuropas der Mongoleneinfall als ein Elementarereignis über Ungarn hereinbrach und die Mongolen nach ihrem Sieg bei Mohi das Land nach allen Richtungen und fast nach Belieben verheeren konnten, war nicht primär des Königs Schuld. Trotz seiner Intelligenz und Tapferkeit war Béla kein Feldherr. Und er verfügte auch über kein schlagkräftiges Berufsheer. Bereits vor der Goldenen Bulle seines Vaters waren die ehedem jederzeit kampfbereiten Berufskrieger zu »bequemen Gutsbesitzern«39 geworden. Für die mit erstaunlicher Präzision und geradezu planmäßigem Terror operierenden mongolischen Reiterscharen waren sie keine ebenbürtigen Gegner mehr.

Es spielten aber noch andere Faktoren eine entscheidende Rolle, die von westlichen, der ungarischen Sprache nicht mächtigen Historikern kaum je in ihrer Tragweite beachtet wurden. Und dies, obwohl sie auch später die großen Brüche in der ungarischen Geschichte – die Niederlagen gegen die Türken und die Habsburger – mitverursacht haben.

Die Rede ist von jener ambivalenten Haltung allem Fremden gegenüber, die schon in der Frühzeit des ungarischen Staates so nachdrücklich Wirkung zeigte.

Das Schwanken zwischen Öffnung und Abkapselung, zwischen großzügiger Toleranz und ängstlichem Misstrauen war wohl der Hauptgrund für den geradezu tragischen Konflikt mit jener Volksgruppe, welche dereinst das Rückgrat des ungarischen Heeres bilden sollte. Die Kumanen, ein Turkvolk, hatten zwar in der Vergangenheit Ungarn wiederholt angegriffen, doch suchten sie später und erst recht angesichts des unaufhaltsamen Vordringens der Mongolen Zuflucht und Rückhalt bei den Magyaren. Noch als Thronfolger hatte Béla die Bekehrung der Kumanen durch Dominikaner gefördert und die Lehnshuldigung eines Fürsten entgegengenommen, der sich mit 15 000 Kumanen taufen ließ. Es wurde sogar ein Bistum für diese sogenannten »westlichen« Kumanen errichtet. Zehn Jahre später flüchteten auch die »östlichen« Kumanen vor den Mongolen über die Karpaten. König Béla ließ sie vor ihrer Aufnahme taufen und rechnete mit der Unterstützung ihrer 40 000 Reiterkrieger gegen die drohende Invasion aus Asien. Doch die Integration des Nomadenvolkes in die inzwischen christlichabendländisch geprägte ungarische Gesellschaft führte zu Spannungen und blutigen Ausschreitungen. Gerade in dem Moment, als die mongolische Offensive bereits in vollem Gange war, überfielen misstrauische ungarische Adlige den Kumanenfürsten Kuthan und ermordeten ihn. Seine Krieger zogen daraufhin, Rache schwörend, mordend und eine Schneise der Zerstörung hinter sich lassend, nach Bulgarien ab. Vier Wochen vor der entscheidenden Schlacht bei Mohi verlor der König somit seine stärksten Verbündeten.

Jene Gruppen von Adligen, die in der Frühphase der Assimilation der Kumanen die tatsächlich existierenden Spannungen ins Unerträgliche steigerten, waren dieselben, die dann die Aufrufe des Königs, sich mit ihren Aufgeboten bereitzuhalten, nur zögerlich und widerstrebend befolgten. Die zwei wichtigsten Kronzeugen des Mongoleneinfalls, Magister Rogerius und Thomas von Spalato, ließen in ihren Berichten klar erkennen, dass zwischen dem König und einem Teil der Magnaten tief greifende Unstimmigkeiten herrschten. Nach dem Bericht eines zeitgenössischen französischen Chronisten soll Batu seine Soldaten vor der Schlacht bei Mohi sogar ermuntert haben mit der abschätzigen Parole: »Die durch den Geist der Zwietracht und der Vermessenheit verwirrten Ungarn werden euch nicht besiegen.«

Die Barone waren, wie schon erwähnt, vor allem darüber empört, dass Béla die verschwenderischen Schenkungen seines Vaters rückgängig machen wollte und dass er gegen den Widerstand des Adels die Kumanen ins Land geholt hatte. Eifersüchtig warfen sie ihm vor, die Fremden den Ungarn vorgezogen zu haben. Sie verbreiteten sogar das Gerücht, die Kumanen seien als Verbündete der Mongolen nach Ungarn gekommen, um dann bei erster Gelegenheit den Ungarn in den Rücken zu fallen.

Der Chronist Rogerius, der den Mongoleneinfall selbst miterlebt hatte, sieht das freilich anders. Er lobt Béla IV. als einen der bedeutendsten Herrscher Ungarns: Der König habe sich durch die Missionierung heidnischer Völker große Verdienste um die Kirche erworben; zu Recht habe er die »dreiste Unverfrorenheit« seiner Barone zu bändigen versucht, die in ihrer Unbotmäßigkeit sogar vor einem Hochverrat nicht zurückschreckten. Rogerius nimmt Béla auch gegen den Vorwurf in Schutz, er habe nicht rechtzeitig geeignete Maßnahmen getroffen, um die Gefahr abzuwenden, die dem Land durch die Mongolen drohte. Vielmehr seien die Großen des Landes schon früh und wiederholt gemahnt worden, ihre Aufgebote zu sammeln und mit ihnen unter die Fahne des Königs zu eilen. Trotz der offenkundigen Unfähigkeit des Königs, Ordnung im Heer zu schaffen, schreibt Rogerius die Hauptschuld an der Niederlage jenen ungarischen Adligen zu, die aus Gegnerschaft zum König nicht nur ihre Gefolgschaft im Kampf versagten, sondern eine Niederlage Bélas geradezu herbeiwünschten: »denn sie glaubten, dass die Niederlage nur einen Teil von ihnen, nicht aber alle treffen würde«.

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