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Noch gravierender war aber die radikale Verschiebung der ethnischen Zusammensetzung zuungunsten der Ungarn. Sie hatten die Hauptlast der Kämpfe getragen. Es waren vor allem die ungarischen Sklaven, die im Osmanischen Reich sehr begehrt waren und besonders hohe Preise auf den Sklavenmärkten des Orients erzielten. Die Ungarn litten auch deshalb mehr als etwa die Bewohner der Balkanländer, weil sie sich nicht in schwer zugänglichen Bergregionen verstecken konnten. Ferner war die Zahl der zum Islam Konvertierten im Gegensatz zum Balkan minimal.

Die ständige Flucht von Serben nordwärts und Slowaken südwärts sowie der massive Zustrom von Rumänen aus der Walachei verringerten den ungarischen Anteil an der Gesamtbevölkerung auf rund die Hälfte. Allein 1690/91 wurden rund 200 000 serbische Flüchtlinge vor einer türkischen Gegenoffensive auf Anordnung Kaiser Leopolds in Ungarn aufgenommen. Wenn man noch die bewusste, groß angelegte Ansiedlung von Deutschen und Slawen im 18. Jahrhundert vorgreifend erwähnt, so ist es nicht überraschend, dass die Volkszählung von 1787 bei einer Einwohnerzahl von 8,5 Millionen einen ungarischen Anteil von lediglich 39 Prozent aufwies. Hinter diesen trockenen Zahlen verbirgt sich eine tragische nationale Entwicklung.

Die südlich der Linie Györ–Buda–Debrecen gelegene Große Tiefebene wurde im Laufe der Jahrzehnte durch Verwüstung, Verödung und Abholzung in eine baumlose, steppenartige Puszta umgewandelt. Einst blühende Dörfer blieben nach der Flucht der Bauern menschenleer. Selbst in Vác (Waitzen), nicht weit von Buda, traf ein Reisender 1605 eine Handvoll Bauern an, die nur vom Hörensagen wussten, dass an der Stelle, wo ihre armseligen Hütten standen, früher eine reiche Stadt gewesen sei. Edward Brown, ein Reisender aus England, berichtet 1669/70, dass er von Wien bis Belgrad durchweg über eine endlos scheinende dunkelgrüne Grassteppe dahingefahren sei; die Landschaft machte auf ihn den Eindruck eines gewaltigen Meeres.

Lady Mary Wortley Montagu, mit ihrem zum britischen Gesandten bei der Hohen Pforte ernannten Gemahl nach Konstantinopel unterwegs, schreibt am 16. Januar 1717 ihrer Freundin aus Wien:

Prinz Eugen war so gütig, mir das alles zu sagen, um mich zu überreden, das Auftauen der Donau abzuwarten und bequem zu Wasser zu reisen. Er versicherte mir, dass die Häuser in Ungarn nicht einmal gegen das Wetter schützen und dass ich von Buda bis Esseg, ohne ein Haus anzutreffen, drei oder vier Tage durch wüste, mit Schnee bedeckte Ebenen würde reisen müssen, wo die Kälte so heftig ist, dass sie viele getötet hat. Ich bekenne, dass diese Schrecknisse einen tiefen Eindruck auf mein Gemüt gemacht haben …59

Die Bilanz der Türkenzeit im zentralen Ungarn und auch in Transdanubien war ein vollständiges Ausbluten ganzer Landstriche. Der großflächige Ruin erstreckte sich Mitte des 17. Jahrhunderts in den türkisch besetzten Gebieten auf 90 Prozent der Ebenen, auf zwei Drittel des Getreideackerlandes und auf die Hälfte der Viehhaltung. Aber damit nicht genug. Nach der Besetzung Süd- und Mittelungarns verwüsteten die Truppen des Sultans nicht nur in den »großen« Kriegen alles, was ihnen in den Weg kam, sondern auch in den ständigen Kleinkriegen der sogenannten Friedenszeiten – bis hin zu ganzen Dörfern. Besonders gefürchtet waren die Krimtataren, die als Hilfstruppen durch Ungarn und Siebenbürgen zogen und überall eine Blutspur hinterließen.

Selbst im Verwaltungsbezirk Buda, also um die frühere Hauptstadt, registrierten die türkischen Beamten einen Rückgang der steuerzahlenden Haushaltsvorstände von 58 742 im Jahr 1577/78 auf nur 12 527 im Jahr 1662/63. Kampfhandlungen, Seuchen, die Verschleppungen und nicht zuletzt die Ermordung von zahlreichen Flüchtlingen, samt den Hungersnöten, entvölkerten einst blühende Gebiete. Nun lebten dort die eingesickerten oder angesiedelten Rumänen und Serben oft in primitiven, halb in der Erde versunkenen Holzhütten, die sie bei Überweidung des Ackerlandes oder bei Gefahr von Grenzzwischenfällen sofort verließen.

Nichts könnte die Dimensionen der Verwüstung besser illustrieren als die Tatsache, dass selbst eine Generation nach dem Abzug der Türken Debrecen, die größte Stadt Ostungarns, nur 8000 und Szeged im Süden bloß 5000 Einwohner zählte. Im Umkreis von etwa 40 Kilometern außerhalb dieser Zentren gab es kaum mehr eine Siedlung. Auch Transdanubien wurde schwerstens heimgesucht. Dieses Gebiet war am Ende des Mittelalters, in den 1490er-Jahren, fast völlig von Ungarn bewohnt. Damals zählte man 900 000 Bewohner. Unter türkischer Herrschaft schrumpfte die Bevölkerung auf ein Drittel, und selbst 1720 zählte man erst rund eine halbe Million, wobei der Anteil der Magyaren auf etwa 50 Prozent gefallen war.60

Die türkischen Eroberer teilten das Land in fünf Paschaliks (= Amtsbereich eines Paschas) unter der Kontrolle des Beglerbegs, des Paschas von Buda, auf. Eigentümer des gesamten Bodens wurde der Staat, der allerdings nur ein Fünftel der sogenannten »Khas«-Güter »für Allah«, also direkt, verwaltete. Während die staatlichen Güter eine gewisse Rechtssicherheit und Beständigkeit in der Verwaltung boten und die Bauern oft weniger Belastungen als bei den früheren Grundherren ertragen mussten, wollten die türkischen Berufssoldaten (spahis) und Beamten aus den als Lehen auf Widerruf zugeteilten Gütern in möglichst kurzer Zeit einen möglichst hohen Gewinn herauspressen. Die Folge war eine rücksichtslose Ausbeutung und damit korrespondierend die Landflucht der Bauern. Die berühmte Puszta in Ostungarn mit der extensiven Großviehzucht ist vor allem auch ein Erbe aus dieser Zeit.

Die Verwaltung des türkisch besetzten Drittels des ungarischen Territoriums blieb in jeder Hinsicht ein Fremdkörper. Das einzige Ziel der Eroberer war die Absicherung ihrer Vorherrschaft in den besetzten Gebieten. Auch die häufigen Wechsel in den Ämtern und die Belehnungen dienten diesem Zweck. Je höher der Rang des Beamten, desto kürzer sein Aufenthalt in Ungarn – mit dieser Faustregel wusste man in Konstantinopel (Istanbul) persönliche Bindungen zu verhindern. Während der 145 Jahre türkischer Besatzung von Buda zählte man 99 Paschas in dieser höchsten Position.

Die relative nationale und religiöse Freiheit war die natürliche Folge einer Verwaltung, welche die lokalen Institutionen ignorierte und gerade dadurch ihre Existenz zementierte. Solange die Verpflichtungen gegenüber den Besatzern erfüllt wurden, mischten sich die Türken nicht in die inneren Angelegenheiten der rajahs, der christlichen Untertanen, ein. Es gab keine Bestrebungen zu einer Verschmelzung oder Assimilierung der ungarischen Bevölkerung, deren Zahl unter direkter türkischer Herrschaft zwischen einer und anderthalb Millionen, je nach den diversen Schätzungen, schwankte.

Darüber hinaus machten die Türken keinen Unterschied zwischen Adligen und Leibeigenen. Nicht nur die einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld, sondern auch die loyalen Bauern konnten den Adelsbrief relativ leicht bekommen. Zunächst war die Erhebung in den Adelsstand oft ein leeres Wort und wahrscheinlich deshalb so leicht zu erlangen. Ein starkes Anwachsen der Zahl armer Kleinadliger gab es nämlich nicht nur im Königlichen Ungarn und im Fürstentum Siebenbürgen, sondern auch im türkischen Gebiet. Die Türken duldeten, dass die Bauern und die Gemeinden dem ungarischen Staat beziehungsweise ihren abwesenden, weil nämlich rechtzeitig geflüchteten Grundherren Abgaben leisteten und sogar kommunale Projekte und Rechtsstreitigkeiten den im königlich-habsburgischen Landesteil amtierenden Komitatsbehörden vorlegten. Dass es keine geschlossenen Grenzen gab und dass die Händler, Geistlichen und Prediger ungehindert von einem Herrschaftsgebiet ins andere reisen beziehungsweise zurückkehren konnten, verlieh dem Nationalgefühl und dem Überlebenswillen einen langfristig ungeheuer wichtigen Auftrieb.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Relevanz der politischen Witze im kommunistisch regierten Ungarn 400 Jahre später zu verstehen:

Warum war (der russische) Staatschef Nikolai Podgorny kürzlich zu offiziellem Besuch in der Türkei?

Um herauszufinden, wie seinerzeit die türkischen Truppen über 150 Jahre in Ungarn bleiben konnten …

Oder eine andere Variante, mit Blick auf die regelmäßigen Feiern zum Jahrestag der von den meisten Ungarn als Knechtschaft betrachteten »Befreiung« durch die Rote Armee:

Ein Abgesandter Moskaus fuhr nach Ankara, um bei den zuständigen Behörden eine Auskunft einzuholen.

Frage: Wie haben es die Türken seinerzeit angestellt, diese aufsässigen Ungarn 150 Jahre lang zu beherrschen?

Antwort des ungenannten hohen Beamten in der türkischen Hauptstadt: So viel ist sicher, den Jahrestag der Schlacht bei Mohács haben wir sie nicht feiern lassen …

Das türkische System sei in seinen besten Zeiten völlig unproduktiv und in den häufigeren schlimmsten Perioden grausam destruktiv gewesen, meint Macartney und fügt noch hinzu, außer einigen Bädern und Festungen hätten die Türken nichts nach Ungarn gebracht, dafür aber das, was sie dort vorfanden, zerstört oder dem Verfall preisgegeben.

Türkische Motive tauchen allerdings wiederholt in den Versen des ersten großen ungarischen Dichters Bálint Balassi auf, der bei der Belagerung der Burg Esztergom 1594 gegen die Türken fiel und dessen Lyrik in den Worten des ungarischen Literaturhistorikers György Mihály Vajda »echte Religiosität« ebenso wie »sinnliche Zügellosigkeit« spiegelt. Aus einer Familie von mittelalterlichen Raubrittern und Renaissance-Abenteurern stammend, schrieb und sprach er neun Sprachen. Mal beklagte Balassi den »Verderb der ungarischen Nation«, mal sang er das Lob der Wienerinnen Susanna und Anna-Maria aus dem »Tiefengrabenstädtchen«. Balassi wurde berühmt wegen seiner Liebesabenteuer, aber mehr noch als Krieger auf dem Schlachtfeld. Seine schönsten Liebesgedichte hat man allerdings erst 1879 (!) gefunden und veröffentlicht.

Balassi war nicht der einzige, wenn auch – bis zum Tode Sándor Petőfis 1849 – der genialste Lyriker, der den Heldentod starb. Damals wie später lieferten die Zusammenstöße um die Grenzfestungen entlang der Randgebiete des königlich-habsburgischen Ungarns und des Fürstentums Siebenbürgen, die verwegenen Ausbruchsversuche aus einem Belagerungsring, blitzschnelle Angriffe in Feindesland und legendäre Zweikämpfe zwischen berühmten Kriegern den Stoff für Dichter und Komponisten.

Die heldenhaften Kommandanten der Burgen und Grenzfestungen, wie Miklós Jurisich bei Köszeg (Güns), György Szondi bei Drégely, István Dobó bei Eger (Erlau) und vor allem Miklós Zrinyi bei Szigetvár, hielten durch ihren Wagemut wiederholt nicht nur türkische Großangriffe gegen Wien auf. Sie gingen auch in die ungarische und deutschsprachige Literaturgeschichte ein. So schrieb der berühmte Feldherr und Dichter Graf Miklós Zrinyi fast 100 Jahre danach über seinen Urgroßvater gleichen Namens und seinen heldenhaften Tod das Epos Die Gefahr von Sziget. Anderthalb Jahrhunderte später verwendete der Dichter Theodor Körner das gleiche Thema in seinem 1812 in Wien uraufgeführten Drama Zriny. Körner lässt einen Kämpfer sagen: »Ein freier Ungar beugt sich nur vor Gott und seinem König!« Die Hymne auf den ungarischen Heldenmut und die Treue der Ungarn zu ihrem Herrscher soll von den Wienern, mit Blick auf den Freiheitskampf gegen Napoleon I., stürmisch bejubelt worden sein.61 (Auf das in Wirklichkeit ganz andere Verhältnis zwischen der Familie Zrinyi und den Habsburgern kommen wir noch zurück.)

Bereits zur Zeit der Türkenkämpfe hatte die ungarische Tapferkeit europäischen Ruhm erlangt. Aeneas Sylvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II., schreibt in einem privaten Brief, vergössen die Ungarn nicht ihr Blut, müssten die anderen europäischen Nationen es tun. Auch zeitgenössische deutsche, französische und italienische Beobachter loben die Kriegertugenden der Ungarn. Der Kroate Georgievitz, der sich »Peregrinus Hungaricus« nennt, ruft 1554 aus: »Welche Nation ist tapferer als die ungarische?«

In einem grundlegenden Essay über das europäische Ungarnbild bemerkt Sándor Eckhardt, dass sich manchmal auch Mitleid in diese Verherrlichung mischt, wie zum Beispiel bei Voltaire: »Unter allen Völkern, die im Laufe der Geschichte vor unseren Augen vorbeizogen, war keines so unglücklich wie die Ungarn …Vergeblich brachte die Natur kräftige, schöne, geistvolle Menschen in ihr hervor …« Eckhardt zitiert auch Jean Bodin, der den Schlüssel zur Kriegstüchtigkeit der Magyaren in der Witterung im Sinne der antiken Klimalehre zu finden vermeint: »Ungarn ist ein windiges Land; daher sind seine Bewohner auch lebhafter und kriegerischer.« Dagegen sei der Franzose höflich und von angenehmen Sitten, weil er unter einem gemäßigten Himmelsstrich lebe …62

Die Ungarn

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