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Kapitel VIII DER LANGE WEG IN DIE KATASTROPHE VON MOHÁCS

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Nach König Matthias’ Tod brach über Ungarn eine Orgie von Selbstsucht, Machtgier und Rivalitäten herein. Interessenkämpfe zwischen dem hohen und niederen Adel trieben das Land binnen Kurzem an den Rand des Abgrundes.

Es waren vor allem die Intrigen und Interessenkonflikte um die Regelung der Thronfolge, die das von Matthias errichtete politische, militärische und soziale System aus den Angeln hoben. Sein illegitimer Sohn János (Johann) Corvinus war zu schwach und zu friedfertig, um sich durchsetzen zu können. Der Habsburgerkönig (später Kaiser) Maximilian war wiederum zu stark, denn die Magnaten wollten einen »König, dessen Zöpfe wir in den Fäusten halten können«. So fiel die Wahl auf den König von Böhmen, den Jagiellonen Wladislaw II. (1490–1516), der diese Erwartungen der feudalen Aristokratie so sehr erfüllte, dass er später den Beinamen »Dobře« bekam, was so viel heißt wie »in Ordnung« oder »schon gut«. Der Nachfolger des großen Matthias’ ging in die ungarische Geschichte als »Dobře László« ein, als König, der jeden Vorschlag widerspruchslos annahm.

Als Gegengewicht zur sogenannten »höfischen« Partei der Barone, die den indolenten und schwachen König nach Belieben manipulierte, entstand eine auf den mittleren und niederen Adel gestützte »nationale« Partei. Tonangebend war hier die Familie Zápolya, namentlich der ehrgeizige János (Johann), der spätere Woiwode von Siebenbürgen. Zur Schlüsselfigur des Dramas wurde der bereits unter König Matthias zum Sekretär und Bischof ernannte, dann zum Erzbischof von Esztergom beförderte und als Kanzler des neuen Königs allmächtige Tamás (Thomas) Bakócz. Dieser hemmungslose und gerissene Mann, der sich mit den Habsburgern verbündete, wollte an der Spitze der »höfischen« Fraktion den Beschluss des Reichstags von 1505 umgehen, wonach künftig »niemals irgendein Ausländer, welcher Nation oder Zunge immer er angehören möge«, zum König gewählt werden dürfe. Tatsächlich hatte der Pressburger Erbvertrag zwischen Jagiellonen und Habsburgern bereits 1491 die Nachfolge für Kaiser Maximilian I. als König von Ungarn gesichert, sollte Wladislaw kinderlos bleiben, doch war er den ungarischen Ständen nie vorgelegt und von diesen daher nie gebilligt worden.

Mit der Geburt des Thronerben Ludwig im Jahr 1506 entstand dann allerdings eine neue Situation. Bereits 1507 wurde ein sogenanntes Doppelverlöbnis der Familie Wladislaws mit den Enkeln Maximilians vereinbart und dann im Juli 1515 in Wien durch eine formelle Eheschließung besiegelt. Bei der Doppelhochzeit im Stephansdom heiratete der neunjährige Ludwig Maria, die Schwester des Erzherzogs Ferdinand, der wiederum Anna, die ältere Schwester des Ungarnkönigs, ehelichte. Beim Tod König Wladislaws (1516) war Kronprinz Ludwig erst zehn Jahre alt. Er konnte den Thron zwar ohne nennenswerten Widerstand besteigen, doch bis zu seiner Volljährigkeit regierte ein Regentschaftsrat. Und auch in diesem Gremium hatte der inzwischen zum Kardinal ernannte Thomas Bakócz das Sagen.

Dieser aus einfachen Verhältnissen stammende und von maßlosem Ehrgeiz getriebene Mann hatte wenige Jahre zuvor sogar Pontifex maximus werden wollen, doch war er bei der Papstwahl von 1513 Giovanni de’ Medici, dem späteren Leo X., knapp unterlegen. Wohl als Trost für die damit verbundene Enttäuschung durfte der vielseitige Kardinal nach seiner Rückkehr im Auftrag des neuen Papstes einen groß angelegten Kreuzzug gegen die wachsende Türkengefahr verkünden – was sich als Anfang vom Ende des geeinten Ungarns erweisen sollte.

Die von Franziskanermönchen angeworbenen Bauern, einmal bewaffnet und sich ihrer zahlenmäßigen Stärke bewusst geworden, nutzten die Gelegenheit nämlich zu eigenen Zwecken und wandten sich gegen die Großgrundbesitzer. Statt den Auflösungsbefehlen des Kardinals und des Königs Folge zu leisten, wählten sie einen tapferen szeklerischen Offizier, György Dózsa, zum Anführer. Mehrere Pfarrer und Mönche schlossen sich dem Aufstand an und stellten sich an die Spitze der rebellierenden Massen. Sie stürmten die Burgen des Adels, raubten und mordeten. Erst nach monatelangen Kämpfen, vor allem in Ostungarn und Siebenbürgen, vermochte János Zápolya, der Woiwode von Siebenbürgen, den Bauernaufstand 1514 grausam niederzuschlagen.

Die Rache der Magnaten war fürchterlich. Dózsa wurde auf einen glühenden eisernen Thron gebunden und eine glühende Krone auf sein Haupt gesetzt. Die anderen Anführer, die zwei Wochen lang keine Nahrung erhalten hatten, wurden, während Dózsa noch lebte, gezwungen, ihm das Fleisch vom Leibe zu reißen und es zu essen. Die unvorstellbare Grausamkeit, auch bei der Hinrichtung des Franziskanerpaters Lörinc, sollte dem Volk die Aussichtslosigkeit künftigen Aufbegehrens vor Augen führen und jeden weiteren Aufstand im Keim ersticken. Der Adel bestrafte nun alle Bauern mit »ewiger Hörigkeit« für ihre »Treulosigkeit«. Jeglicher Besitz wurde ihnen abgesprochen: Kein Gesetz und kein Gericht schützte fortan die Leibeigenen vor dem Adel.

Dózsas Gestalt aber verklärte sich mit der Zeit: Zuerst in der mündlichen Überlieferung, dann in Liedern, Gedichten und Dramen wurde er zum Symbol der Rebellion gegen die in Saus und Braus lebenden, rücksichtslosen und brutalen Grundherren. Es war deshalb geradezu folgerichtig, dass in Wendezeiten die Erinnerung an Dózsa mit drohendem Unterton immer wieder, so etwa auch vom Nationaldichter Sándor Petőfi im Revolutionsjahr 1848, heraufbeschworen wurde:

Noch bittet euch das Volk, lasst euch erweichen!

Das Volk wird furchtbar, wenn es aufbegehrt.

Wenn mit Gewalt sich’s nimmt, was ihr verweigert!

Ihr Herren, habt Ihr von Dózsa nie gehört?

Man ließ ihn auf dem Eisenthron verbrennen.

Hat das Gedenken man so ins Gegenteil verkehrt?

Sein Geist ist selber Feuer! Drum gebt acht,

Dass er nicht plötzlich Euch zu Asche macht!52

Eine ähnliche Warnung an die Reichen enthielt auch das rund 70 Jahre später verfasste Gedicht György Dózsas Enkel von Endre Ady:

Ich bin des Bauernführers Dózsa Enkel,

Ein Bundschuhgraf, der mit dem Volke weint.

[…]

Was wird da sein, wenn Dózsas Volk sich sammelt,

Wenn es in wilder Wut dann vorwärtsbraust?

[…]

(Heinz Kahlau)

Die Vergeltung für den Bauernaufstand, also die vom Reichstag beschlossene Leibeigenschaft der Bauern »für alle Zeiten«, wurde in eine fast gleichzeitig vom Anführer des Kleinadels, dem Juristen István Verböczy, zusammengestellte Sammlung der ungarischen Gewohnheitsrechte aufgenommen. Sie hieß Tripartitum, das »Dreiteilige Gesetzbuch«, und spaltete die ungarische Gesellschaft in eine allmächtige sogenannte »politische Nation« und ein völlig rechtloses Volk. Verböczys These war ebenso einfach wie genial: Sie machte den Gemeinadel (also keineswegs nur die Magnaten und die hohe Geistlichkeit) zum personalisierten »mythischen Körper« und »Glied der heiligen Krone«. Die Fiktion der una et eadem libertas, der »einen und selben Freiheit« aller Privilegierten, sowie die Definition der Krone als Wesenskern der adligen Nation und Quelle der königlichen Autorität wurden zur Grundlage der staatsrechtlichen Identität der ungarischen Nation. Jeder Adlige, auch der ärmste, sei ein Glied der heiligen Stephanskrone. Damit wurde den Bauern und den städtischen Bürgern versagt, sich als Glieder des Landes oder der Krone zu sehen.

Zu Recht wiesen ungarische Historiker darauf hin, dass Verböczys Lehre einen festen Damm zwischen der ungarischen Gesellschaft und der europäischen Entwicklung errichtet habe: Obgleich das Tripartitum vom König nicht unterschrieben und deshalb nie zum Gesetz erhoben wurde, galt es als Grundlage der Rechtsordnung bis 1848. Genau gesehen bestand der zwischen dem Adel und dem übrigen Volk aufgerissene politisch-sozial-psychologische Graben sogar bis zur gesellschaftlichen Umwälzung nach dem Zweiten Weltkrieg fort.

In seinem bedeutenden Werk Die drei historischen Regionen Europas betont Jenő Szűcs53, indem er sich auf den großen Denker István Bibó beruft, dass Ungarn in den ersten 500 Jahren nach der Jahrtausendwende »strukturell«, das heißt in seinem Gesellschaftsgefüge, Teil des Westens gewesen sei oder sich ihm angenähert habe; historische Katastrophen hätten dann dazu geführt, dass das Land für die nächsten 400 Jahre in eine Struktur osteuropäischen Typs abgedrängt worden sei. Ein anderes wichtiges Faktum war die zahlenmäßige Stärke des Adels: Am Ende des Mittelalters war in Ungarn jeder zwanzigste bis fünfundzwanzigste Einwohner adlig, in Frankreich hingegen nur jeder hundertste. Umgekehrt war in Ungarn nur jeder Fünfundvierzigste oder Fünfzigste ein freier Bürger, in Frankreich jeder Zehnte!

So überließ in Ungarn das Mittelalter der Neuzeit eine außerordentlich große, nämlich vier bis fünf Prozent der Bevölkerung ausmachende Adelsschicht. Diese umfasste auch jenen rohen und ungebildeten, aber mit Privilegien ausgestatteten Kleinadel als »schädlichste Erscheinung der neuzeitlichen ungarischen Gesellschaftsentwicklung«, wie Bibó – und mit ihm Szűcs – urteilte. Kein Wunder also, dass das Tripartitum als die geballte Sammlung der rechtlichen Privilegien sozusagen zur Bibel des Adels geworden ist: Es erschien allein im 16. Jahrhundert in 14 und in späteren Epochen noch in mehr als 70 Neuauflagen.

Es ist geradezu gespenstisch, die unmittelbare Vorgeschichte und die Nachwehen der Tragödie von Mohács in der detaillierten (vierbändigen) Chronologie der ungarischen Geschichte nachzulesen. Worüber diskutierten und stritten die Adligen auf den Reichstagen, gerade in dem Augenblick, in dem Sultan Suleiman II., der »Prächtige«, den entscheidenden Schlag gegen das gespaltene und im ständigen Wirrwarr versinkende Land vorbereitet hat? Den mittleren und niederen Adel beschäftigte vor allem die Verbesserung der eigenen Finanzlage durch Schuldnachlässe beziehungsweise durch eine Steuerbefreiung ihrer städtischen Häuser. Um die Verfügungsgewalt über die Exekutive entbrannte ein permanenter Kampf zwischen Magnaten und in Spitzenpositionen aufgestiegenen Kleinadligen unter der geschickten Führung von Verböczy. Er und seinesgleichen waren die hauptsächlichen Betreiber der gegen Ausländer gerichteten Beschlüsse. Zur Zielscheibe der Angriffe des Kleinadels gerieten die Privilegien der deutschen Städte mit ihrem eigenen Recht und ihrer eigenen Gerichtsbarkeit. Lange Jahrzehnte hindurch besaßen die Ungarn (und auch die Slowaken) in den überwiegend von Deutschen bewohnten Städten nicht die Rechte, die dem deutschen Bürger von jeher zukamen. In Buda, der Hauptstadt also, durfte »nur ein deutscher Mann von allen seinen vier Ahnen« zum Stadtrichter gewählt werden. Aus den Reihen der deutschen Bürger wurden ferner der Steuerrichter, der Stadtschreiber und die Mehrzahl der Geschworenen gewählt. Auch vor Gericht hatte die Zeugenschaft eines Ungarn gegen Deutsche nur dann Geltung, wenn sie auch von Deutschen unterstützt wurde. In Besztercebánya (Neusohl) und Pest war zum Beispiel der Ankauf von Grundstücken nur vollberechtigten deutschen Bürgern gestattet. Die Furcht vor allzu starkem deutschem Einfluss hatte bereits 1439 zu Zusammenstößen zwischen Ungarn und Deutschen in Buda geführt.54

Dass sich die Reichstage auch im 16. Jahrhundert, vor der so verheerenden Schlacht von Mohács und der Besetzung Budas durch die Türken, noch immer so intensiv mit der Zurückdrängung fremden, vor allem des deutschen Einflusses beschäftigten, ist freilich auch ein untrügliches Indiz dafür, dass in den Städten und ihrer näheren Umgebung nationale Spannungen entstanden waren, die nicht so sehr im Zeichen eines Sprachnationalismus, sondern durch wirtschaftliche und sozial geprägte Konflikte virulent geworden waren. Fremde bedeuteten für die deutschen »Ureinwohner« der Städte eine unwillkommene, ja gefährliche Konkurrenz. So führt also ein roter Faden vom Abwehrkampf des abgekapselten sächsischen und deutschen Bürgertums gegen den Zuzug von Ungarn, Slawen und später Rumänen bis zu den blutigen Pogromen der deutschen Gewerbetreibenden und Handwerker gegen die Juden in Pressburg und Pest während der revolutionären Umwälzungen im Jahr 1848.

Vor diesen politischen, sozialen und zum Teil national-religiösen Spannungen (am Protestantismus hatte das Deutschungartum vor 1526 einen entscheidenden Anteil) müssen also die Vorbereitungen des jungen Königs Ludwig II. zur Abwehr des türkischen Vordringens gesehen werden – eines Angriffes, dessen Ziel letztlich nicht einmal Ungarn, sondern Wien und Österreich war. Der mit der Habsburgerin Maria verheiratete Ludwig II. hatte weder die Kraft noch die Mittel, geschweige denn ausreichend internationale Rückendeckung, um sich gegen den drohenden Vorstoß aus dem Süden rechtzeitig zu rüsten. Überdies erreichten die Rivalitäten zwischen den Magnaten und dem niederen Adel zu diesem Zeitpunkt einen neuerlichen Höhepunkt. Verböczy ließ sich als Haupt der (vorübergehend) siegreichen Gruppe zum Palatin wählen. Als eine seiner ersten Maßnahmen kündigte er den Fuggern, die die Interessen der Habsburger vertraten, die Pacht der Edelmetallbergwerke von Besztercebánya in Oberungarn auf. Dadurch provozierte er jedoch einen Aufstand der rund 4000 arbeitslos gewordenen Bergarbeiter. Die Unruhen ließen sich in Blut ersticken, die Kredite der Fugger aber waren für Ungarn unwiederbringlich dahin, und zwar gerade im Augenblick der verschärften Türkengefahr.

Verzweifelt baten die Ungarn daraufhin brieflich und durch persönliche Abgesandte in Rom und Venedig, Wien und London um Hilfe. Für Papst Clemens VII. stand der wahre Feind des Glaubens freilich nicht an der Donau; es war Martin Luther, der Reformator. Auch der spanische Habsburgerkaiser Karl V. war Zielscheibe päpstlicher Ermahnungen und schließlich einer vom Papst zusammengezimmerten französisch-italienischen Allianz. In Wirklichkeit wurde der türkische Angriff gegen Ungarn wohl auch durch das Bündnis zwischen dem allerchristlichsten König in Paris – die französischen Könige hatten diesen Ehrentitel im 15. Jahrhundert von Papst Paul II. erhalten – und dem heidnischen Herausforderer des christlichen Abendlandes gefördert. Jedenfalls konnte oder wollte Ferdinand seinem bedrängten Schwager nicht helfen.

Damals kam in Ungarn bereits Verbitterung darüber auf – ein Gefühl, das später noch viel intensiver empfunden wurde –, dass die österreichischen Habsburger ihre Kräfte vor allem auf den Ausbau ihrer Positionen im Westen konzentrierten und den Kampf gegen die Türken im Südosten, vor allem freilich in Ungarn, vernachlässigten. Kurzum, die Ungarn wurden überall feierlich begrüßt und zum Kampf gegen Suleiman ermuntert, in Rom sogar gesegnet, doch stets mit leeren Händen entlassen.

Ohne auf die 10 000 Mann starke Truppe des Woiwoden Zápolya aus Siebenbürgen zu warten, trat der junge König Ludwig II. an der Spitze eines in aller Eile zusammengestellten, schlecht ausgebildeten und dilettantisch geführten Heeres mit kaum 25 000 Mann am 29. August 1526 bei Mohács, einer kleinen Stadt in der Nähe der Donau, der etwa drei- bis fünffachen Übermacht des Sultans entgegen. Die Ungarn verfügten kaum über Geschütze und Fußtruppen, da die kirchlichen und weltlichen Würdenträger wohl mehr Angst vor den eigenen entrechteten und seit dem Dózsa-Aufstand gemaßregelten Bauern als vor Suleimans Kämpfern hatten. Die Türken waren taktisch und technisch, vor allem was die Artillerie betraf, den Ungarn weit überlegen.

Sultan Suleiman errang in anderthalb Stunden einen leichten und schnellen Sieg. Nach einem kurzen, heldenmütigen Kampf fanden die meisten kirchlichen und weltlichen Würdenträger Ungarns, darunter sieben Bischöfe, und an die 15 000 Soldaten (meist deutsche, polnische und tschechische Söldner) auf den Feldern vor Mohács den Tod. Der in voller Rüstung fliehende König ertrank während eines tosenden Wolkenbruches samt seinem Pferd in einem angeschwollenen Bach. Bald danach gingen bereits Gerüchte um, der König sei nach der Schlacht auf der Flucht von ungarischen Adligen erstochen worden, um Ferdinand den ungarischen Thron anbieten zu können. Beweise dafür gibt es nicht. Allerdings sind die Umstände des Todes des jungen Königs aus dem Haus der Jagiellonen niemals restlos aufgeklärt worden, ebenso wenig wie die seinerzeit aufgetauchten Vermutungen, der Woiwode Zápolya habe den Ausgang der Schlacht mit seiner Truppe bewusst in sicherer Entfernung abgewartet. Die Tatsache, dass Zápolya in seinem Kampf gegen Ferdinand um die Thronfolge kaum drei Jahre später ausgerechnet auf demselben Schlachtfeld von Mohács dem Sultan ewige Treue gelobte, nährte nachträglich den Verdacht bezüglich seines Verhaltens zur Zeit der Schlacht von Mohács.

Unbestritten blieben allerdings die beschämenden Begleiterscheinungen wie Plünderungen, die Zwietracht und das völlige Durcheinander im Zeichen des unaufhaltsamen Kräfteverfalls. Königin Maria flüchtete mit den wertvollsten Schätzen des Hofes, von 50 Reitern begleitet, aus Buda: nicht nur vor den Türken, sondern auch vor den Ungarn, zuerst nach Pressburg und dann nach Wien zu ihrem Bruder. Die Ungarn hatten die Habsburgerin und ihre deutschen Höflinge nie gemocht. Die Königin und ihr Hofstaat lebten abgeschlossen für sich, und ihr Auftreten in der Hauptstadt – und nicht nur dort – soll den Hass gegen die Deutschen immer noch mehr angestachelt haben.

Palatin István Báthory – nicht verwandt mit dem späteren gleichnamigen Fürsten von Siebenbürgen – hat mit seinem Freund Graf Batthyány nach seiner rechtzeitigen Flucht von Mohács seine Zeit mit der Plünderung der vor den Türken flüchtenden Chorherren zugebracht: Mit den uralten Schätzen des Bischofspalais von Pécs fiel ihnen reiche Beute in die Hände. Andere ungarische Adlige und Offiziere plünderten die Schatzkammer des Erzbistums von Esztergom, überfielen das Schiff der Königin und vergewaltigten ihre Hofdamen. »Noch bluteten die Wunden, noch rauchten die brennenden Städte, noch waren die Tausende von ungarischen Gefangenen noch nicht einmal auf dem Marsch in die Ferne, als die zerstreuten Adligen nur ein einziges Gefühl erfüllte: Jubel über den Sturz des deutschen Hofes, über die Flucht der deutschen Königin«, schrieb der Historiker Szekfű und fügte hinzu, es sei primär die Agitation des Kleinadels gewesen, die den Hass gegen »die Deutschen« entfesselt und deutsche Händler, Handwerker und Ärzte dazu gezwungen hätte, sich zeitweilig zu verstecken.55

Es gibt also keinen Grund, die Stichhaltigkeit eines Berichtes des polnischen Gesandten zwei Monate nach Mohács zu bezweifeln, der ausführte: Die Ungarn seien fast wie neu geboren … Größte Freude habe weite Kreise des Adels erfasst, nachdem jetzt die Fremdherrschaft vorbei sei. Vielleicht waren die zitierten Herren dieselben, die sich noch vor der Schlacht brüsteten: »Mit unseren Siegelringen allein schlagen wir das ganze türkische Heer tot.« Die Stimmung »Freude statt Trauer« war wie so oft in der Geschichte Ungarns ein Selbstbetrug. In den nächsten anderthalb Jahrhunderten konnte der Kleinadel, und nicht nur er, lernen, was ein fremdes Joch wirklich bedeutete.

Das siegreiche türkische Heer besetzte und plünderte die Königsresidenz, die Stadt und die Burg Buda, verwüstete Transdanubien und die Donau-Theiß-Ebene und zog sich dann mit Zehntausenden von Gefangenen aus Ungarn vorerst wieder zurück. Die innere und äußere Lage Ungarns, das damals rund dreimal so groß war wie heute, hatte sich aber durch die Katastrophe von Mohács politisch, geografisch und letztlich demografisch völlig und unwiderruflich geändert. Erst die künftigen Generationen haben die Tragweite und die Folgen dieser Niederlage wirklich begriffen.

»Mohács« wurde für alle künftigen Generationen zum Synonym für nationale Katastrophe, und das war keine Übertreibung: Ungarn verschwand als selbstständige politische Kraft für fast 400 Jahre von der politischen Landkarte Europas. Die Ungarn schienen ausgelöscht.

Sogar das Temperament der Magyaren, dieses »eigentümliche Gemisch des Sanguinischen, Phlegmatischen und Melancholischen« (Jókai), kann durch dieses tief verwurzelte und historisch geprägte Gefühl des Gefährdetseins erklärt werden. Die Beschäftigung mit dem »magyarischen Volkstod«, der Pessimismus als Grundstimmung, die Einsamkeit der Nation, die Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit, die Bedrohung des Einzelnen werden zu den großen Themen der Literatur. Zahlreiche Gedichte beschäftigen sich mit dem nationalen Schicksal.

Der Schriftsteller Géza Ottlik hat in seinem außerhalb Ungarns kaum bekannten Meisterwerk Schule an der Grenze (1950) diese einzigartige Beziehung zwischen dem Ungartum und seinen Niederlagen sehr einprägsam am Beispiel einer Schulklasse skizziert:

Es näherte sich der 400. Jahrestag der Schlacht von Mohács. Es scheint eine merkwürdige Sache zu sein, eine Niederlage zu feiern, doch der, der jetzt hier den Sieg hätte feiern können, das mächtige Osmanische Reich, existiert nicht mehr. Von den Mongolen ist auch jede Spur verloren, wie inzwischen, fast vor unseren Augen, sogar vom zähen Habsburgerreich. Wir haben uns also angewöhnt, dass wir unsere verlorenen großen Schlachten, die wir überlebt haben, allein feiern. Vielleicht haben wir uns auch daran gewöhnt, dass wir die Niederlage für eine aufregende, aus dichterem Material gemachte und wichtigere Sache halten als den Sieg – jedenfalls für unseren (wahrhaftigeren) Besitz …56

Die Ungarn

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