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Kapitel II LANDNAHME ODER EROBERUNG? ZUR FRAGE DER UNGARISCHEN IDENTITÄT
ОглавлениеAuf die natürliche Einheit des Donauraums, den die Karpaten wie ein Schutzwall umschließen, haben Historiker immer wieder hingewiesen. Während die westliche Hälfte – von den Ungarn Dunántúl, Land jenseits der Donau, genannt – unter den Römern vier Jahrhunderte lang zusammen mit dem östlichen Niederösterreich (Noricum und Pannonien) eine Verwaltungseinheit bildete, war die große Ebene, das Alföld, zwischen dem linken Donau-Ufer und den Vorgebirgen Siebenbürgens gelegen, die eigentliche Drehscheibe der Völkerwanderungszeit. Skythen, Sarmaten, Hunnen (unter Attila), Goten und Langobarden, Gepiden und schließlich für 200 Jahre die Awaren versuchten, sich auf Dauer hier niederzulassen. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts gehörte Pannonien als Grenzprovinz zum ostfränkischen Reich. Großmähren unter Fürst Svatopluk kontrollierte das Gebiet nördlich der Donau, während die große Ebene östlich der Donau und Siebenbürgen zum Einflussbereich bulgarischer Fürsten gehörte. Großmähren und Ostfranken haben einander im Zuge ihrer Reichsbildungsversuche erbittert bekämpft. Die Bewohner waren überwiegend slawische Bauern, einschließlich der teilweise slawisierten Awarensippe. Die Existenz einer verschiedene slawische Idiome sprechenden Bevölkerung gilt als gesichert.
Dagegen ist der Streit über die ethnische Zugehörigkeit der Bewohner Siebenbürgens bis heute ein Zankapfel zwischen ungarischen und rumänischen Historikern. Die ungarischen Vor- und Frühgeschichtler verneinen vehement die Stichhaltigkeit der nicht minder nachdrücklich vertretenen rumänischen Behauptung, dass in den Hochtälern und Wäldern eine romanisierte dakische Bevölkerung überlebt habe. Fest steht jedenfalls, dass alle Gebiete im Donaubecken dünn besiedelt und die Berge der Karpaten praktisch unbewohnt waren, als Ende des 9. Jahrhunderts Reiterhirten eines ungarischen Stammesverbandes, aus den Steppen des heutigen Südrusslands kommend, am Einfallstor der Karpaten erschienen. Was deutsche und österreichische Historiker als Ungarnsturm oder Magyareneinbruch beschreiben, gilt den Ungarn selbst als Landnahme (Honfoglalás). Was zunächst nur wie ein Wellenschlag der Völkerwanderung aussah, gewann bald eine neue geschichtliche Dimension mit entscheidenden Folgen auch für die Deutschen und Slawen im Donaubecken.
Die Eindringlinge stellten für ihre Opfer und Gegner »das mongolische Schreckgespenst eines asiatischen Nomadenvolkes« dar. Bereits 863 berichten die alemannischen Annalen, »ein Volk der Hunnen« habe die Christenheit angegriffen, wobei der Chronist – wie später auch die eigene nationale Überlieferung – die Ungarn mit den Hunnen gleichsetzte. Neben den Skythen wurde alles, was die Hunnen belastete, auch den Ungarn in die Schuhe geschoben. Byzantinische und arabische Reisende sprachen von ihnen als einem »Turkvolk«: eine These übrigens, die noch im 19. Jahrhundert in den berühmten Reiseberichten des Orientalisten Ármin Vámbéry ihren Niederschlag fand.
Heute sind sich alle ernst zu nehmenden ungarischen und ausländischen Historiker, Anthropologen und Ethnologen einig, dass diese Theorie falsch ist. Mangels schriftlicher und archäologischer Quellen bleibt die Sprache der einzige wissenschaftlich zuverlässige Beweis für die Herkunft der Ungarn. Ihre in Europa einzigartige Sprache ging aus der finnisch-ugrischen Sprachenfamilie hervor. Die Vorfahren der Ungarn gehörten zur ugrischen Gruppe, wobei die Wissenschaftler noch immer darüber streiten, ob die Ur-Ungarn am westlichen oder östlichen Abhang des Ural (Europa versus Asien!) gelebt haben. Die nächsten Sprachverwandten der Ungarn sind die heute kaum 30 000 Köpfe zählenden Ostjaken und Wogulen, die noch bis in die Neuzeit Jäger und Fischer geblieben sind.
Die Ungarn trennten sich im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung von der ugrischen Völkergruppe und zogen zusammen mit anderen Sippen südwestwärts. Später übernahmen sie unter dem Einfluss von türkischen und iranischen Volksstämmen die Lebensweise nomadisierender Hirten. Das ursprünglich von Fischerei und Jagd lebende Volk stellte sich im Rahmen von schnell entstandenen und ebenso schnell verschwundenen Nomadenreichen auf Ackerbau und Viehzucht um. Wann ihre späteren Wanderungen begannen, wie lange sie gedauert haben, welche Wege sie nahmen und mit welchen Völkerschaften sie engere Kontakte pflegten, ist unbekannt. Über die Frühgeschichte der Altungarn und sogar über die Landnahme selbst sind die einzigen Quellen Mythen und Sagen, die erst 200 bis 300 Jahre später entstanden sind.
Die meisten Geschichtsforscher billigen dem reichen Sagenschatz der Ungarn einen historischen Wahrheitskern zu oder betrachten die mythischen Berichte zumindest als Hilfsquelle für die Erschließung des wirklichen Geschehens. Darüber hinaus dienten sie später zusammen mit Heldengesängen und Sagen als Grundlage für eine neue Legitimation, zur Bekräftigung des »historischen Rechtes«: nicht auf ein besetztes Pannonien, sondern auf die rechtmäßige Wiedereroberung der alten Heimat.
So berichtet eine nur mündlich überlieferte Sage, dass die Brüder Hunor und Magor, die Söhne der Skythenkönige Gog und Magog, auf der Jagd einem wunderbaren weißen Hirsch gefolgt seien und so das Gebiet nördlich des Asowschen Meeres erreicht hätten. Nachdem sie das Wundertier aus den Augen verloren hätten, erblickten sie bei dem nächsten Ausflug die wunderschönen Töchter des Alanenkönigs Dula. Die Geschwister hätten die Töchter entführt und geheiratet. Dieser Ehe seien die Ahnen der Hunnen und Ungarn entsprungen, namentlich »der berühmte allmächtige König Attila und später der Fürst Álmos, von dem die Könige und Fürsten Ungarns abstammten«.
Die moderne Sagenforschung und die Sprachwissenschaft gestehen der beliebten Sage jedenfalls einen geschichtlichen Kern zu: eine enge Verbindung mit einem bulgarotürkischen Volk und den Alanen. Während die Selbstbenennung der Ungarn, »Magyar«, in die ugrische Zeit zurückreicht, geht der Name »Ungar«, »Hungarus«, »hongrois« auf die türkische Stammesorganisation der Onoguren zurück, der die Magyaren lange angehört haben. Onogur bedeutet »zehn Pfeile«, das heißt Stämme. Es ist aber auch möglich, dass die im Westen seit dem frühen 9. Jahrhundert üblich gewordene Bezeichnung an den Zusammenschluss der sieben ursprünglichen, lose miteinander verbundenen altungarischen Stämme mit den drei abtrünnigen Chasarenstämmen, den Kawaren, erinnert. Fest steht jedenfalls, dass die Ungarn längere Zeit dem türkischen Chasarenreich zwischen der mittleren Wolga und dem Unterlauf der Donau angehört haben. Die Altungarn sind aber nie ein »mongolisches Volk« gewesen, wie häufig behauptet wurde. Die Magyaren lebten seit 830 im Etelköz, dem Zwischenstromland, in einem riesigen Gebiet zwischen Don, Donau und Schwarzem Meer mit verschiedenen nomadischen Turkvölkern, mit Alanen und mit Slawen zusammen. In byzantinischen und orientalischen Quellen wurden sie überwiegend als »Türken« bezeichnet. Rund 200 Wörter bulgarotürkischen Ursprunges lassen bis heute sehr bedeutende türkische Komponenten bei der Entstehung des altungarischen Stammesverbandes erkennen.
Erstaunlicherweise konnte trotz der Völkermischung im Siedlungsgebiet die ugrische, also ungarische Sprache obsiegen, und der Name »Magyar« gewann die Oberhand in der ganzen Gemeinschaft. Das ist umso verblüffender, als nach dem Bericht des byzantinischen Kaisers Konstantin VII., dieser ersten und fast einzigen vertrauenswürdigen Quelle, nur zwei der sieben altungarischen Stämme ugrische Namen (Megyer und Nyek) trugen, während die Namen der übrigen fünf meist türkisch waren. Allerdings berichtete der Kaiser auch, dass die später angeschlossenen Kawarenstämme noch um die Mitte des 10. Jahrhunderts zweisprachig waren.
Gerade im Hinblick auf die historisch und politisch bis in unsere Tage so brisanten Auswirkungen der national-romantisch geprägten Legendenbildung in der ungarischen Geschichtsschreibung und Literatur ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass vor und zu der Zeit der Landnahme der ungarische Stammesverband alles andere als homogen, ja eher ein wahres »Völkergemisch« war. In der von nationaler Engstirnigkeit völlig freien Untersuchung des deutsch-ungarischen Frühhistorikers Thomas von Bogyay heißt es zur Herkunft und Volkswerdung, das anthropologische und archäologische Material spreche dafür, dass das ungarische Volksindividuum im Schmelztiegel der südrussischen Steppe entstanden sei.
Auch der ungarische Geschichtswissenschaftler Jenő Szűcs hat in mehreren grundlegenden Werken betont, dass die finnougrischen Volksgruppen und verschiedene Stämme türkischen Ursprunges wahrscheinlich bereits im 8. Jahrhundert unter Führung eines chasarischen Würdenträgers aus dem Verband des Chasarenreiches ausschieden und dass das grundlegende Element der ungarischen Herrschaftsbildung vor dem 9. Jahrhundert die ethnisch heterogene und sozial gegliederte Gefolgschaft war. Er wies überdies auf die durch »massenhaftes neues Fundmaterial« bewiesene Tatsache hin, dass sich die Symbiose der heidnischen Ungarn und christlich-slawischer Bevölkerungsteile bereits im Laufe des 10. Jahrhunderts vollzog. Die landnehmende ungarische Gesellschaft sei also keineswegs eine homogene nomadische Kriegerschicht gewesen. Die spätere ungarische Überlieferung verschwieg jedoch sowohl die engen Beziehungen zu den Chasaren, deren Führungsschicht sich im 8. Jahrhundert zum Judentum bekannte, wie auch die wirklichen Gründe für die Wanderung, die die Stämme samt ihren Verbündeten chasarischen oder türkischen Ursprunges bis an die Hänge der Karpaten führte.6
Laut dem zitierten Bericht Kaiser Konstantins VII. hätten die Stammeshäuptlinge den Sohn des alten Álmos, Árpád, als den Anführer des stärksten Stammes »nach chasarischem Brauch und Gesetz« auf den Schild gehoben und nach Reiternomadenart ihre Abmachung mit einem »Blutsvertrag« besiegelt. Die spätere Überlieferung ließ jedenfalls Álmos und Árpád bereits als die vom Himmel erwählten ersten Führer des Volkes erscheinen. »Die Legende ist nicht etwa eine der Formen, sondern die einzige Form, in der wir Geschichte überhaupt denken, vorstellen, nacherleben können. Alle Geschichte ist Sage, Mythos und als solcher das Produkt unserer geistigen Potenzen: unseres Auffassungsvermögens, unserer Gestaltungskraft, unseres Weltgefühls«, schrieb Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit.7
Zwei begnadete ungarische Chronisten, nämlich »Anonymus«, der unbekannte Notar König Bélas III. (1173–1196), und Simon Kézai, Hofprediger König Ladislaus’ IV. (1272–1290), sorgten durch ihre fantasievollen Überlieferungen und ihre Fabulierkunst dafür, dass die Frühgeschichte der Magyaren »im Schimmer und Duft eines magischen Geschehens« erscheint und dass so viele Generationen Erdichtetes für Geschichte gehalten haben. Die Ungarn, wie übrigens auch die von ihnen bekämpften Nachbarvölker, zeichneten ihr eigenes Geschichtsbild, indem sie es – bewusst oder unbewusst – immer wieder umwerteten und den Bedürfnissen der Zeit anpassten.
Das Streben nach historischer Legitimierung der Volkswerdung und der Landnahme spielt bis in unsere Zeit bei allen Völkern des Donauraums eine Schlüsselrolle. Und ganz besonders gilt das für die seit eh und je von einem tief verwurzelten Einsamkeitsgefühl geplagten Ungarn. Deshalb sind bei der Darstellung der dramatischen Schicksale von Völkern und Einzelpersönlichkeiten die Mythen und die Schilderung, wie ein Mythos zur geistig-politischen Macht geworden ist, oft wichtiger als trockene Daten und Namen oder die Stammbäume der diversen Könige.
Die schicksalhafte Landnahme wurde »Anonymus« zufolge in einem legendären Traum vorweggenommen. Das Charisma des Fürsten und Stammesführers gründet auf der überirdischen Fähigkeit, die ihm durch göttliche Fügung von einem heiligen Totemtier verliehen wurde. Fürstin Emese, die Frau eines skythischen Königs, träumte, dass sie auf göttliches Geheiß von einem Turul-Vogel – je nach den verschiedenen Versionen ein Habicht oder Adler, jedenfalls ein Greifvogel – geschwängert worden sei und dass dieser ihr die historische Sendung ihres noch ungeborenen Sohnes verkündet habe: Wie ein Feuerstrom werde ihr Sprössling sein und über weite Länder herrschen. Deshalb erhielt der Sohn nach seiner Geburt den Namen Álmos (álom = Traum). Álmos machte sich dann mit seinem ganzen Volk auf, um das neue Vaterland als ein von seinen Ahnen aus dem Geschlecht des Hunnenkönigs Attila ihm hinterlassenes Erbe zurückzuerobern. Der Turul-Vogel wies ihm den Weg bis ans Ziel, an die Karpaten. Álmos starb auf der Wanderung und verschwand sang- und klanglos aus der Weltgeschichte.
Die Stammesführer hoben seinen Sohn Árpád auf den Schild und machten ihn zum Oberhaupt ihres Stammesverbandes. Sie schworen ihm Treue, indem sie sich in die Arme schnitten, ihr Blut in den gemeinsamen Opferkelch fließen ließen, davon tranken und gelobten, ihren Fürsten stets aus dem Stamme Árpáds zu wählen. Die Nation verpflichtete Fürst Árpád, das zu erobernde Vaterland gerecht auf die 108 Sippen zu verteilen und den Nachkommen der Stammesführer das Recht auf freie Beratung vor dem Fürsten einzuräumen. Damit war, wenn man den ungarischen Geschichtsschreibern glauben will, sogar »der Grund zur ersten Verfassung« gelegt.
Die von »Anonymus« geschaffene Mär einer Verfassung zur damaligen Zeit und die damit verbundenen anderen Sagen sollten das Sesshaftwerden der ungarischen Stämme als einen bewusst herbeigeführten historischen Akt erscheinen lassen. Der Schriftsteller György Dalos stellte in einem anregenden Essay zum Katalog einer Berliner Ausstellung (1998) über Mythen der Nationen charakteristische Zitate aus alten ungarischen Schulbüchern zusammen.8 Diese zeigten mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, wie die uralten Sagen zu einem »historischen Recht« hochstilisiert wurden.
Dazu ein Beispiel von vielen. Es suggeriert die historische Legitimierung der Landnahme und ist in Ungarns Geschichte mit besonderem Blick auf die Entwicklung der Bildung und das Volksleben von 1864 nachzulesen:
Gegenüber dem Spott und der Verleumdung durch fremde Gelehrte, die unsere Ahnen als Blutsauger oder barbarische Meute darstellen und aus Voreingenommenheit, Unwissenheit oder nationaler Antipathie die Herabwürdigung unserer Nation zu ihrem Ziel machen, kann jeder Ungar mit stolzem Selbstwertgefühl auf eine natürliche und von nüchternem Verstand diktierte Verfassung verweisen, dies zudem bereits im 9. Jahrhundert, als sich gebildetere und glücklichere Völker Europas einer ähnlichen Einheit und bürgerlichen Verfassung nicht rühmen konnten … Man kann der ungarischen Nation nicht vorwerfen, sie hätte durch die Eroberung dieses Landes irgendeine lebensfähige Nationalität oder tatsächlich existierende Staatsrechte beeinträchtigt. Man kann der ungarischen Nation auch nicht den Vorwurf machen, sie hätte die Kultur in den von ihr eroberten Ländern vernichtet oder auch nur geschmälert … Unsere Vorfahren fanden in den eroberten Ländern keinerlei Gesellschaftsordnung oder historisches Recht vor. Und wenn diese Umstände nicht allein gereicht hätten, den Instinkt der Heimatsuche zu rechtfertigen, dann hätte die tausendjährige Geschichte bewiesen, dass der Ungar von Gott selbst zum richtigen Zeitpunkt in seine Heimat geführt worden ist.
Allerdings bedarf das Wort »Gott« einer Präzisierung, zumal da es in Wirklichkeit der bayerische König Arnulf war, der im Jahr 892 ungarische Stämme einlud, an einer Strafexpedition gegen seinen rebellischen Vasallen, den Mährerfürsten Svatopluk, teilzunehmen. Nach den unheimlichen Folgen und angesichts der späteren Verheerungen durch die Ungarn in ganz Pannonien haben Ostfranken und Mährer, auch in Briefen an den Papst, einander gegenseitig beschuldigt, diesem gefährlichen Feind als Verbündetem den Weg nach dem Karpatenbecken gewiesen zu haben. Die Verwüstungen müssen gewaltige Ausmaße angenommen haben, da sich Bayern und Mährer zwei Jahre danach zu einem Friedensschluss und noch etwas später sogar zu gemeinsamen Kampfhandlungen gegen die »blutrünstigen, heidnischen Hunnen« bereitfanden. Dass übrigens die »zivilisierten« Westler in bestimmten Situationen genauso barbarisch handelten, wie sie es den Ungarn unterstellten, zeigt ein 902 (oder 904) erfolgter Meuchelmord. Die Bayern luden den obersten Herrscher der Ungarn, den »Kündü« genannten sakralen Führer ihres Stammesverbandes, zu einem Gastmahl an die Fischa östlich von Wien ein. Als man sich zu Tisch setzte, wurde der damalige »Kündü« Fürst Kurszán mitsamt seiner Begleitung heimtückisch umgebracht. Damit wurde übrigens paradoxerweise die Position des Vizeherrschers (Gyula), der tatsächlich die militärische Führung ausübte, also die Stellung Fürst Árpáds, gefestigt. Die Ermordung Kurszáns ebnete unabsichtlich den Weg zur Alleinherrschaft Árpáds; aus seinem Geschlecht entstand eine heidnisch-sakrale Dynastie, die Ungarn bis zum Jahr 1301 regierte. Während der Kämpfe gegen Svatopluk erkannten die Ungarn, wie schwach dieses Land Pannonien war, und deshalb unternahmen sie zwei Jahre später, 894, einen eigenen Eroberungszug im Donaubecken und richteten ungeheuren Schaden an.
Die Altungarn kamen also zuerst als Verbündete der Mährer, dann der Ostfranken über die Karpaten. Die großen Ebenen, die letzten Ausläufer der eurasischen Steppenzone, erschienen ihnen, wie schon vorher den Hunnen oder den Awaren, als »das Gelobte Land«. Die Bedeutung der Ungarn für das spätere Schicksal der Deutschen und Österreicher in diesem Raum zeigte sich bereits im Jahr 881, als es zunächst bei Wien einen Zusammenstoß mit fränkischen Truppen und danach bei Pöchlarn einen Kampf mit den kawarischen Verbündeten der Magyaren gab. Diese Nachricht der Salzburger Annalen enthält nicht bloß (nach vielhundertjähriger Pause) erstmalig die Nennung Wiens, sondern auch die früheste Erwähnung der Ungarn durch einen bayerischen Beobachter. Zu Recht betont der Frühgeschichtsforscher Österreichs Herwig Wolfram die Symbolträchtigkeit des gemeinsamen Eintritts Wiens und der Ungarn in die Geschichte, einer Verbindung, die alle Wirbelstürme der gemeinsamen Geschichte überlebte.9
Dass sich aber der Beginn der tausendjährigen Pendelschläge zwischen Gegnerschaft und Partnerschaft alles andere als freundschaftlich gestaltete, zeigt bereits ein tragischer Zwischenfall in der Nähe von Stockerau in Niederösterreich. Infolge der argwöhnischen Einstellung der Einheimischen allem Fremden gegenüber kam es bald nach dem Jahr 1000 zu einem Mord. Der irische Pilger Koloman, Sohn eines keltischen Kleinfürsten, wurde für einen ungarischen Kundschafter gehalten und umgebracht. Als sich – zu spät – Kolomans Unschuld erwies, brachte man den Leichnam nach Melk, wo sich bald so etwas wie ein Koloman-Kult entwickelte.
Den entscheidenden Anstoß zur Landnahme, zur endgültigen Überquerung der Karpaten, gab weder die Suche nach Weidegründen für die Herde noch ein zunehmender Bevölkerungsdruck noch bloß die Aussicht auf Beutezüge, sondern – im Gegensatz zu den Heldengesängen – in erster Linie eine verhängnisvolle, schwere Niederlage gegen die Petschenegen, ein Turk sprechendes Nomadenvolk. Das Unglück begann mit einer Kriegshilfe, die die Magyaren den Byzantinern gegen die Bulgaren leisteten. Diesen gelang es schließlich nicht nur, einen Friedensschluss mit Byzanz zu erreichen, sondern auch das von Árpáds Sohn geführte Ungarnheer zu besiegen und aus dem Osten die Petschenegen gegen die Ungarn einzusetzen. Da die meisten Krieger der Ungarn im Süden oder in Mähren kämpften, konnten die Petschenegen von Osten her die kaum verteidigten, ja größtenteils wehrlosen ungarischen Siedlungen überfallen und verwüsten. Die geschlagenen Truppen und das schwer in Mitleidenschaft gezogene geplünderte Volk retteten sich über die Karpaten in das ihnen schon bekannte Pannonien. Es war also »eine Flucht nach vorn«.
Die meisten Historiker sind sich darin einig, dass die ungarischen Stämme im Herbst 895 in äußerster Bedrängnis zu ihrem Marsch ins Donaubecken aufgebrochen sind. Sie rückten von Nordosten über den Verecke-Pass, von Osten und Südosten durch die Siebenbürger Karpaten und entlang der Donau vor.
Die Vorgeschichte und der Ablauf dieser Westbewegung wurden in der Geschichtsschreibung, vor allem aber in der Überlieferung durch die Chronisten und in den literarischen Schilderungen der betroffenen Völker und ihrer später entstandenen Nationalstaaten jeweils anders dargestellt. Wenn auch das Land, wie schon erwähnt, in dieser Zeit keineswegs menschenleer oder verlassen war, gab es dort offenbar keine umfassende politische Organisationsform. Eher herrschte ein politisches Vakuum, und die ansässige Bevölkerung, die ein Gemisch aus verschiedenen slawischen Idiomen sprach, schien den anrückenden Ungarn mehr oder weniger wehrlos ausgeliefert.
Die Zahl der ins Land eingedrungenen Magyaren kann natürlich nur geschätzt werden. Tschechische, rumänische und russische Historiker nehmen an, dass es zwischen 200 000 und 500 000 gewesen seien, wobei manche selbst die untere Grenze für »maßlos übertrieben« halten. Moderne und ausgewogen urteilende ungarische Historiker schätzen die Gesamtzahl der landnehmenden Ungarn auf rund eine halbe Million und die der eingesessenen Einwohner auf etwa 100 000. Sie scheinen sicher zu sein, dass die slawisch sprechende Bevölkerung den Ungarn zahlenmäßig weit unterlegen war. Sonst hätte die Sprache der Eroberer nicht relativ leicht die Oberhand gewinnen beziehungsweise die Vermischung mit den Einheimischen nicht so problemlos vonstattengehen können. Jedenfalls waren die Ungarn mit ihren kawarischen und anderen Verbündeten zahlenmäßig stark genug, um in etwa fünf bis zehn Jahren alle bewohnbaren Teile des neuen Heimatlandes unter ihre Kontrolle zu bringen. Ödland und Sumpfgebiete mit natürlichen Hindernissen ließ man als ein einzigartiges Grenzsicherungssystem, »gyepű« genannt, bewusst unangetastet.10
Als erstes Steppenvolk konnten die ungarischen Stämme sich später zu einer starken Nation mit Assimilationskraft und Eigenbewusstsein, samt einem historischen Selbstverständnis, entwickeln. Die Einzelheiten der Besetzung des Landes sind ebenso wenig bekannt wie das Schicksal der Einheimischen. Die örtliche Führungsschicht wurde vermutlich vernichtet, die Massen in zwei bis drei Jahrhunderten assimiliert, meint Jenő Szűcs in seinen Studien über Nation und Geschichte, und in ihren jeweiligen Gesellschaftsschichten verschmolzen: also Sklaven mit Sklaven, Krieger mit Kriegern usw. Ausschlaggebend war die Lebens- und Interessengemeinschaft.
Dass die Eroberung des Karpatenbeckens durch die Ungarn ein entscheidender Faktor in der Herausbildung des mittelalterlichen Europas gewesen sei, darin stimmen die Historiker, unabhängig von ihrer nationalen oder ideologischen Warte, im Grunde überein. Doch bleibt bis in unsere Tage das, was die Ungarn als Heldenepos ihrer siegreichen Vorfahren bejubeln, für die Deutschen, Slawen und Rumänen eine »Tragödie«, ein »Unglück«, ein »Schicksalsschlag«. So bezeichnete der deutsche Historiker Georg Stadtmüller den Einfall der Magyaren als »eine Katastrophe … Die Magyaren haben die Vormachtstellung des deutschen Reiches im Donauraum endgültig vernichtet, das deutsche Kolonisationswerk in Westungarn zerstört und die Fortsetzung der großartigen bayerischen Südostkolonisation auf mehr als anderthalb Jahrhunderte hinaus unmöglich gemacht.«11 Manche ungarische Historiker, wie zum Beispiel Szabolcs de Vajay in seinem kontroversen Werk Eintritt des ungarischen Stämmebundes in die europäische Geschichte, reklamieren allerdings eine doppelte Funktion für die frühen Ungarn: Einerseits dienten sie im Karpatenraum als Bollwerk gegen den frühen »Drang des Deutschen Reiches nach Osten«; andererseits hätten sie durch den Abschluss eines neunjährigen Waffenstillstandes im Jahr 926 in hohem Maße zur Einheit der Deutschen beigetragen, die sich erst in der Abwehr einer Bedrohung aller zu verständigen vermochten.
Als noch bedeutsamer für die europäische Geschichte erwies sich die mit der Landnahme erfolgte Spaltung der slawischen Welt: Durch die Niederlassung im Donaubecken trieben die Ungarn für immer einen Keil zwischen Nord- und Südslawen. Ende des 19. Jahrhunderts gelangte der herausragende tschechische Historiker František Palacký zu der bitteren Schlussfolgerung: »Der Einfall und die Ansiedlung der ungarischen Nation in Ungarn gehören zu den wichtigsten Fakten der gesamten Geschichte; im Laufe der Jahrhunderte ist die slawische Welt von keinem unheilvolleren Schlag getroffen worden.« In den Augen Palackýs scheinen die Ungarn fast so viel Unheil gegen die Tschechen angerichtet zu haben wie die Deutschen. Jedenfalls bleibt für die tschechischen, slowakischen und polnischen Historiker beziehungsweise in den von ihnen verfassten oder geprüften Schulbüchern die ewige Spaltung der Slawen das weitaus folgenschwerste Ergebnis der Landnahme und der Herausbildung des ungarischen Staates.12
Die tief verwurzelten Ressentiments zwischen Ungarn einerseits und Tschechen und vor allem Slowaken andererseits haben ihren Ursprung also bereits in der Frühgeschichte, und sie wurden auf beiden Seiten auch durch die jeweiligen Sagen oder Entstellungen ins Bewusstsein der folgenden Generationen einzementiert. So behaupten Tschechen und Slowaken gern, dass die landnehmenden Ungarn größtenteils Slawen gewesen seien, dass sogar Staatsgründer Árpád und König Stephan der Heilige dem slawischen Volk angehört hätten. Unter Hinweis auf die noch zur Zeit des Großfürsten Géza verbreiteten Gerüchte über »zwei Ungarn«, ein »weißes« und ein »schwarzes« Ungarn, reklamierte man in der Slowakei die Bewohner des sogenannten »weißen« Landesteils (West- und Mittelungarn) als Slawen; im sogenannten »schwarzen« Ungarn hätten hingegen die der Magyarenwanderung folgenden Turkstämme der Kawaren und Petschenegen sowie der Stamm der Szekler (Székelyek) gelebt, deren Herkunft übrigens bis heute ungeklärt ist.13
Die Ungarn wiederum erweckten in manchen Sagen und in den danach entstandenen Epen und Bildkunstwerken den Eindruck, als hätten die Bewohner des Karpatenbeckens die Eroberer unter Fürst Árpád geradezu mit einhelliger Begeisterung empfangen. Dieses Bild vermittelt vor allem das monumentale Gemälde des berühmten Malers Mihály Munkácsy, Landnahme der Ungarn, das im Budapester Parlament den nicht zuletzt für ausländische Würdenträger bestimmten repräsentativen Empfangssalon ziert. Das Kunstwerk zeigt den majestätisch auf seinem Schimmel sitzenden Árpád mit seinem berittenen Gefolge im Moment der triumphalen Ankunft in der neuen Heimat. Die Bewohner, größtenteils zu Fuß, empfangen ihren neuen Herrscher jubelnd und bringen ihm Geschenke dar.
Das weiße Pferd ist in den ungarischen Sagen ein besonders wichtiges Element. Fürst Árpád besiegt Svatopluk in der Schlacht, aber ehe es dazu kommt, fordert er den Fürsten Mährens zur Unterwerfung auf: Árpád schickt ihm ein weißes Pferd als Geschenk und wünscht von ihm als Gegengabe Erde, Gras und Wasser. Dies war bei den alten Skythen das Symbol einer freiwilligen Unterwerfung. Nachdem Árpád das Geforderte erhalten hat, nimmt er mit voller Sicherheit und bestem Gewissen das ganze Land in Besitz, heißt es in der Legende. In Wirklichkeit gehörten diese Riten zu den üblichen Abmachungen oder Verträgen zwischen Nomadenstämmen.
Über gegenseitige Vorwürfe zwischen Bayern und Mährern, dass sie nach heidnischer Sitte mit den Ungarn Frieden geschlossen und über einem Wolf und einem Hund als Totems Eide geschworen hätten, erfährt man aus einem Brief, den Bischof Theotmar von Salzburg im Jahr 900 dem Papst geschrieben hat. Theotmar fiel am 4. Juli 907 bei einem groß angelegten Feldzug der Bayern, mit dem sie Pannonien zurückerobern wollten. Der Angriff endete bei Pressburg mit einer vernichtenden Niederlage und dem Tod des Markgrafen Luitpold sowie eines Großteils des bayerischen Adels. Die Sage vom weißen Pferd wurde mit einem erfundenen Bericht über den Tod Svatopluks weitergesponnen, der nach einer späteren Schlacht vor den siegreichen Magyaren geflohen und in der Donau ertrunken sein soll. Tatsächlich erfolgte die Vernichtung des kurzlebigen Staates aber erst nach dem Tode Svatopluks, der nach nomadischer Sitte den Vertrag mit den Ungarn nur zur Besiegelung des gemeinsamen Vorgehens gegen die Bayern (894) und keinesfalls als Abmachung zur Aufgabe seines Landes geschlossen hatte.
Das weiße Pferd als Symbol des siegreichen Ungartums unter Fürst Árpád war – neben anderen Motiven wie etwa dem angeblichen »Blutvertrag« von Pusztaszer und der Taufe Stephans des Heiligen – das große Thema der Monumentalmalerei des 19. Jahrhunderts, vor allem im Zusammenhang mit der Millenniumsfeier der Landnahme im Jahr 1896. Als nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Räterepublik im November 1919 der Admiral und spätere Reichsverweser Miklós Horthy an der Spitze der Truppen der Gegenrevolution auf einem Schimmel in Budapest (»der sündhaften Stadt«) einritt, wurde diese wohlüberlegte Geste weithin verstanden: Es war das sichtbare Signal für eine scharfe Rechtswendung, zum extremen Nationalismus hin. Nach mehr als zwei Jahrzehnten schwang sich übrigens der greise Staatsmann noch einmal in den Sattel, um an der Spitze ungarischer Truppen auf einem Schimmel in die mithilfe der Achsenmächte durch den Wiener Schiedsspruch zeitweilig zurückgewonnenen Städte Kassa (Kaschau/Košice) und Kolozsvár (Klausenburg/Cluj) einzuziehen. Die dort lebenden Magyaren empfanden dies als symbolhaft und empfingen ihn mit frenetischem Jubel.
So führt eine gerade Linie von der Überlieferung zu den widerspruchsvollen und sich letztlich als Bumerang erweisenden politischen Heldentaten unserer Zeit. Und stets hatte der Mythos des weißen Pferdes in bestimmten Situationen scharf umrissene nationale Funktionen zu erfüllen.
Nationale Mythen prallen bis heute vorwiegend im rumänisch-ungarischen Verhältnis, insbesondere bezüglich des von beiden Nationen beanspruchten historischen Rechtes auf Siebenbürgen, aufeinander. Der Streit darüber, ob Rumänen oder Ungarn nach der Landnahme als geschlossene oder zumindest zahlenmäßig bedeutende Gruppe die ersten Siedler und sodann die bestimmende politische Kraft in Siebenbürgen gewesen seien, hat Generationen von Historikern, und keineswegs nur zwischen Budapest und Bukarest, entzweit. So setzte sich zum Beispiel der britische Historiker R. W. Seton-Watson vor dem Ersten Weltkrieg wortgewaltig für die historischen und politischen Interessen der Rumänen (auch aller Slawen) im Kampf gegen die ungarisch-österreichische Vorherrschaft ein, während sein Kollege A. C. Macartney eine wesentlich ausgewogenere Auffassung hinsichtlich der brisanten Frage der Minderheiten in Großungarn vertrat.14
Derlei historische und politische Kontroversen zwischen mehreren Generationen von rumänischen und ungarischen Wissenschaftlern und Schriftstellern überdauerten alle Systeme und Regierungen. Und Aussichten auf eine Entschärfung der Schulbücher oder auf einen Grundkonsens der Historiker sind auch im Zeitalter eines vereinten Europas gleich null.
Gerade deshalb ist die Wirkung der in Volksliedern und -bräuchen sowie in Gedichten und in der Jugendliteratur überlieferten Sagen über die rätselhafte Herkunft der Siebenbürger Szekler (ungar. Székelyek) bis heute psychologisch nicht unerheblich. Sie gehören zum Sagenkreis um Attila und Árpád, den Turul-Vogel und das weiße Pferd, um die angeblich uralte Identität von Hunnen und Magyaren.
Im Mittelpunkt steht die mythische Gestalt Csaba, der jüngste Sohn des Hunnenkönigs Attila. Als er das Verderben der hunnischen Nation seinen Gang nehmen sah, schoss Csaba aus seinem Köcher einen Zauberpfeil ab, um damit seine Mutter, die Zauberfee, zu Hilfe zu rufen. Wo der Pfeil mit der Spitze stecken blieb, fand er das wunderwirkende Kraut, dessen Saft Wunden heilte. Mit diesem Wundermittel erweckte er seine gefallenen Krieger wieder, stellte sie in Schlachtordnung auf und führte sie gegen den Feind. Angesichts dieses Totenheeres erfasste die Gepiden blankes Entsetzen, sodass sie die Überbleibsel von Csabas Volk in Frieden abziehen ließen. Csaba geleitete dann mit seinem inzwischen berittenen Totenheer die Reste des Hunnenvolkes bis an die Grenze Siebenbürgens, wo er sie im heutigen Szeklerland ansässig werden hieß. Dann aber führte er die toten Krieger in ihr altes Vaterland, ins Land Attilas, heim. Den im Szeklerland zurückgelassenen Sippen versprach er, dass, sooft ihnen eine große Gefahr drohte, er und seine Kämpfer dem Grabe entsteigen und zurückkehren würden, um sie zu retten. So entstand die magyarisch-szeklerische Volkssage vom Warten auf Csaba. Oft hat sich die kleine Szeklernation in großer Gefahr befunden, und jedes Mal ist sie gerettet worden: nicht durch aufopfernde Tapferkeit allein, heißt es in der Legende weiter, sondern auch durch wahre Gotteswunder. Csaba und seine Hunnenkrieger seien unter großem Getöse mitten durch den Himmel herbeigeeilt, um die Feinde zu zerstreuen. Aus den Hufspuren ihrer Rosse sei am Himmel jene glänzende Bahn entstanden, die im Allgemeinen Milchstraße, von den Ungarn aber bis heute »Straße der Heere«, genannt wird.
In dem erwähnten Sammelband, den Kronprinz Rudolf herausgab, gelangte der seinerzeit äußerst populäre und höchst produktive Schriftsteller Mór Jókai zu der Schlussfolgerung, überlieferte Sage und Geschichte seien so miteinander verwoben, dass man entweder, wie die öffentliche Meinung es tue, das Ganze hinnehmen oder es insgesamt ablehnen müsse. Da hat er wohl recht. Nur mit seiner These einer Identität von Hunnen und Magyaren ging der temperamentvolle und bis ins hohe Alter launige Romancier wohl zu weit.
Auch wenn es Mór Jókai noch so gern gehabt hätte: Die Szekler sind nicht mit den Hunnen verwandt, vielmehr bleiben ihre Herkunft und ihr Werdegang bis zum heutigen Tag eine offene Frage. Neuerdings wird angenommen, dass die Szekler ursprünglich als ein bulgarotürkischer Stamm zusammen mit den Kawaren oder vor den Magyaren ins Karpatenbecken eingewandert seien und bereits in den Kämpfen vor der Landnahme aufseiten der Ungarn gestanden hätten. Wie dem auch gewesen sein mag, sicher ist, dass die Szekler noch bis in die frühe Neuzeit hinein eine Variante der türkischen Schrift verwendet haben. Sie sprachen zwar schon früh ungarisch, behielten aber jahrhundertelang ihre unterschiedliche Gesellschaftsstruktur und ihre Sonderstellung. Bereits Anfang des 13. Jahrhunderts haben die Könige sie zur Grenzsicherung in Siebenbürgen eingesetzt, und ihr Siedlungsgebiet heißt bis zum heutigen Tag Szeklerland.15
Was Jókai vor fast einem Jahrhundert über das Bewusstsein der engen hunnisch-ungarischen Verwandtschaft, über den Glauben an die urgeschichtliche Identität schrieb, ist in der Tat ein im Weltmaßstab einzigartiges psychologisch-literarisches Phänomen. Es waren die schon erwähnten verheerenden Raub- und Beutezüge nach der Landnahme, die den schlimmen Ruf der Magyaren begründeten. Als 1939 eine Essaysammlung mit dem Titel Was ist der Ungar? erschien, beschäftigten sich die herausragenden Vertreter des ungarischen Geisteslebens, wie so oft vorher und nachher, mit der Frage der nationalen Identität. In diesem Zusammenhang legte der Historiker Sándor Eckhardt seine auch für spätere Generationen ungemein nützliche, mit profunder Quellenkenntnis verfasste Studie Das Ungarnbild in Europa16 vor. Darin stellte er verblüfft fest, dass das negative, ja zuweilen grausige und schreckenerregende Bild, das westliche Chronisten von den Ungarn zeichneten, so auch die Mär vom »ungarischen Kannibalismus«, von den frühen Chronisten »Anonymus« und Kézai als äußerst positive Züge der Altungarn wiedergegeben wurden. Regino, der Abt von Prüm, hatte Anfang des 10. Jahrhunderts als Erster berichtet, dass dem »Gerücht« zufolge die Ungarn Menschenfleisch essen und Menschenblut trinken und das Herz des Feindes aus dessen Brust reißen, um dadurch die eigene Tapferkeit zu steigern. Dieses Märchen war in Wirklichkeit der Rest eines antiken, noch auf Herodot zurückgehenden Stereotyps.
Die Magyaren seien die Nachfahren der sagenhaften asiatischen Skythen, wurde behauptet, furchtbar anzusehen, halb Mensch, halb Affe, eine von Teufeln gezeugte Hexenbrut. Die Quellen, Chroniken und Jahrbücher, waren alle voneinander abgeschrieben, aber nicht aufgrund der Aussagen von Augenzeugen, sondern nach den Charakterisierungen älterer Chronisten. Reginos Bild wurde unzählige Male wiederholt und sogar erweitert. Bald identifizierte man die »neuen Barbaren« mit den Hunnen, an die man sich in Europa nur zu genau erinnerte. Attila war ja in den Augen des Westens zum Inbegriff des Barbarentums, zum Antichristen geworden. Zur Zeit der Renaissance tritt Attila in italienischen Sagen schon als ungarischer König auf. Er ist hier die blutschänderische Frucht einer in einem Turm eingesperrten Königstochter und eines Windhundes, hat Hundeohren und sinnt immer auf Ränke.17
All das war damals schon und die nachfolgenden Jahrhunderte hindurch nicht gerade geeignet, das Ansehen der Ungarn in der Welt zu heben. Trotzdem gelangte die Gleichsetzung mit Skythen und Hunnen, vom Westen kommend, in die ungarische Geschichtsschreibung. Die Dynastie der Arpaden ließen bereits die ersten Chronisten vom Schreckgespenst Attila abstammen. Als Import haben sich diese Hunnensagen dann tief und unverwüstlich in das ungarische Bewusstsein eingeprägt. Die Gleichsetzung von Hunnen und Ungarn wurde zum Volksglauben. Und allmählich bekannte sich das Ungartum – keineswegs nur im Mittelalter, sondern noch im 19. und zum Teil im 20. Jahrhundert – stolz zu diesem Erbe, um die eigene Ursprungsgeschichte mit dem prachtvollen Epos von der welterobernden Geißel Gottes identifizieren zu können. Die Geschichtsfantasien der ersten Chronisten lieferten eine Rechtsgrundlage für die Landnahme – ein außerordentlich wichtiger Faktor im Geschichtsbewusstsein der Ungarn insgesamt. Man könnte noch viele Einzelheiten über die Streifzüge der Ungarn nach der Landnahme, über die kollektive Wahrnehmung und Erinnerung sowie die Rezeption durch Chronisten und Historiker erwähnen. Wesentlich daran ist für unseren Zusammenhang nur, dass die angebliche hunnischungarische Verwandtschaft im Verein mit dem »mongolenhaften Nomadengesicht der Magyaren« bis in unsere Tage die Dialektik zwischen dem westlichen Bild von außen und dem Selbstbild der Ungarn prägt.