Читать книгу Die Ungarn - Paul Lendvai - Страница 16

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Zu Misstrauen gegenüber den Fremden und zu Zwietracht und Hader in den eigenen Reihen trat noch die Gleichgültigkeit einer schweigenden westlichen Welt hinzu. Der geistliche Chronist wirft den europäischen Fürsten der Christenheit Versagen vor, da sie den Hilferufen des ungarischen Königs nicht entsprochen hätten. Keiner von allen Freunden Ungarns habe dem Land im Unglück geholfen. Auch den Papst oder den Kaiser nimmt Rogerius von dieser Mitschuld nicht aus. Alle hätten sie kläglich versagt. In einem Brief an Papst Vinzenz IV. schrieb Béla 1253: »… von allen Seiten erhielten wir … nur Worte … Wir haben in unserer großen Not von keinem christlichen Herrscher oder Volk Europas irgendeine Unterstützung erhalten.«

Der mongolische Albtraum bestimmte bewusst oder unbewusst die Korrespondenz des Königs mit den diversen Päpsten und auch seine außenpolitischen Handlungen. Die weitaus wichtigste und dauerhafteste psychologische Folge des Mongolensturmes war die historische Schlussfolgerung: »Wir Ungarn sind allein.« Das Bewusstsein der Isolierung, das für die Ungarn so charakteristisch ist, verdichtete sich fortan zu einem Einsamkeitskomplex und wurde zu einer bestimmenden Komponente im ungarischen Geschichtsbild. Während der Katastrophen des 16., 19. und 20. Jahrhunderts wurde dieses Gefühl der Ungarn geradezu einzementiert.

Die Angst vor einem zweiten Mongoleneinfall fand sogar in der dynastischen Heiratspolitik König Bélas einen bizarren Niederschlag. So schrieb er in seinem Brief an den Papst: »Wir vermählten im Interesse der Christenheit, unter Erniedrigung unserer königlichen Würde, sogar zwei unserer Töchter mit ruthenischen Prinzen, die dritte aber mit einem polnischen, um durch diese und andere Fremde im Osten über die geheimnisvollen Tataren Nachrichten zu bekommen.« Ein noch schwereres Opfer war offensichtlich die im selben Brief erwähnte Heirat des erstgeborenen Sohnes mit einem kumanischen Mädchen. Durch diese Verbindung sollte das kriegerische Reiternomadenvolk, das bereits einige Jahre nach dem Mongolenangriff in die entvölkerten Gebiete der Donau-Theiß-Ebene zurückgerufen wurde, noch fester an das Haus der Arpaden gebunden und seine Assimilierung an die christlich-abendländische Gemeinschaft beschleunigt werden.

Das Misstrauen gegenüber den Fremden, auch dann, wenn sie als Verbündete dringend gebraucht wurden, der Hader in den eigenen Reihen, selbst in Momenten der größten Gefahr, und schließlich das berechtigte Gefühl des Allein- und Ausgeliefertseins bildeten den Hintergrund der ersten großen Katastrophe in der Geschichte des christlichen Königreiches Ungarn. Dass sich die Ungarn verkannt, verkauft und von Feinden umlagert fühlten, hing aber wohl auch, ja vielleicht in erster Linie, mit einer in der internationalen Geschichtsschreibung einhellig kritisierten »schamlosen Erpressung« zusammen: Der österreichische Babenberger-Herzog Friedrich II., Vetter und Nachbar des flüchtenden Ungarnkönigs, lockte diesen in eine Falle, beraubte ihn und setzte ihn gefangen. Dem Österreicher gaben schon die Zeitgenossen den Beinamen »der Streitbare«, weil er sich mit fast allen Nachbarn überworfen hatte und 1236 sogar vom Kaiser vorübergehend geächtet und seiner Reichslehen enthoben worden war.

Der italienische Geistliche Magister Rogerius, der den Mongoleneinfall als Augenzeuge erlebt und selbst ein Jahr in Gefangenschaft verbracht hatte, beschrieb im 32. Kapitel seines Berichtes diese Schandtat:

Der König ritt nach seiner Flucht vom Heere bei Tag und Nacht, bis er das polnische Grenzgebiet erreichte; von dort eilte er, so schnell er nur konnte, auf direktem Wege zur Königin, die in der Grenzregion zu Österreich weilte. Der Herzog von Österreich kam ihm auf diese Nachricht hin, Arges im Herzen erwägend, aber unter dem Schein der Freundschaft entgegen. Der König hatte gerade seine Waffen abgelegt und sich, während das Frühstück bereitet wurde, am Ufer eines Gewässers zum Schlafen niedergelegt, nachdem er allein durch Gottes Fügung so vielen schrecklichen Pfeilen und Schwertern in langer Flucht entkommen war, als er wieder geweckt wurde. Sobald er des Herzogs ansichtig wurde, freute er sich sehr. Der Herzog indes bat den König unter anderen trostreichen Worten, er solle die Donau überschreiten, um sich auf dem jenseitigen Ufer in größerer Sicherheit auszuruhen. Als der König das hörte, stimmte er, nichts Böses ahnend, den Worten des Herzogs zu. Denn der Herzog betonte, er habe drüben eine Burg und könne dort den König ehrenvoller bewirten. Doch hatte er nicht vor, ihn zu bewirten, sondern plante, jenen zu vernichten. Während der König noch glaubte, der Scylla entkommen zu können, fiel er der Charybdis zum Opfer. Und wie der Fisch, der dem Eisbehälter entgehen will, um nicht zu erfrieren, in die Glut springt und gebraten wird, so fand er sich im Glauben, er sei dem Unglück entronnen, in einer noch misslicheren Lage. Denn der Herzog von Österreich bemächtigte sich seiner durch List und verfuhr mit ihm nach seinem Belieben. Er forderte von ihm eine Geldsumme, die, wie er behauptete, ihm selbst einst vom König abgepresst worden sei. Was weiter? Der König konnte ihm nicht eher entkommen, als bis er ihm einen Teil desselben Geldes in bar, einen Teil in goldenen und silbernen Gefäßen ausgezahlt und für den Rest ihm schließlich drei benachbarte Komitate seines Königreiches verpfändet hatte.40

Außerdem plünderte laut Rogerius der Herzog auch die ungarischen Flüchtlinge und fiel in das wehrlose Land mit Waffengewalt ein. Friedrich II., der Babenberger – nicht zu verwechseln mit dem Staufer-Kaiser –, versuchte sogar noch, Pressburg und Raab zu erobern. Die beiden Städte konnten sich aber behaupten. Der Chronist wusste nicht, dass zwischen Friedrich II. und Béla IV. alte Rechnungen beglichen wurden. Der Babenberger war bereits seit 1233 mehrfach in Ungarn eingefallen und hatte einen Aufstand ungarischer Magnaten gegen ihren König unterstützt. Als Andreas II. und seine Söhne, Béla und Koloman, den Herzog vertrieben und ihn bis nach Wien verfolgt hatten, konnte Herzog Friedrich II. einen Friedensschluss nur gegen eine hohe Geldbuße erlangen. Er hat diese Demütigung nie vergessen und, nicht gerade im Sinne der abendländischen Solidarität und entgegen den Mahnungen von Papst Gregor IX., die verzweifelte Lage der Ungarn ausgenutzt.

Der Historiker Günther Stökl wies auf den »begreiflicherweise sehr negativen Eindruck« hin, den »der Verrat ihres westlichen Nachbarn im ungarischen Geschichtsbewusstsein hinterlassen hat«41. Bekanntlich sind die Schulbücher in allen mittel- und osteuropäischen Staaten nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für eine ausgewogene Betrachtung der eigenen und regionalen Geschichte. Doch wird die Kluft selten so deutlich wie bei der Darstellung der von Rogerius geschilderten Episode. So lesen wir bei dem ungarischen Historiker Bálint Hóman (1935): »Friedrich … krönte die schimpfliche Verletzung des Gastrechtes zum größeren Ruhm der christlichen Solidarität mit einem Angriff auf das unter den Tataren leidende Land.« Ganz anders sieht die Rolle des Babenbergers der österreichische Historiker Hugo Hantsch (1947): »… Friedrich … verlegt den Tataren den Weg nach Deutschland … Österreich bewährt sich wieder als Bollwerk des Abendlandes, als Schild des Reiches.«

Es war eine Ironie des Schicksals, dass das totgesagte Königreich ausgerechnet gegen die neuerlichen Expansionsversuche Herzog Friedrichs von Österreich erfolgreich war. Nach dem Tode Friedrichs in der Schlacht an der Leitha im Juni 1246 griff Béla sogar in den Kampf um das Erbe der Babenberger ein und brachte vorübergehend die Steiermark unter seine Kontrolle. Bélas Sohn und Nachfolger wurde für einige Jahre steirischer Landesfürst. Doch konnten sich die Ungarn nach einer schlimmen Niederlage gegen Ottokar II. von Böhmen bei Marchegg in Österreich nicht mehr behaupten.

Zur »Vernichtung des Königreiches Ungarn«, wie sie der eingangs des Kapitels zitierte bayerische Mönch in seiner knappen Notiz konstatiert hat, kam es freilich nicht. König Béla IV. wandte sich nach seiner Rückkehr vielmehr mit großer Energie, beachtlicher Intelligenz, eiserner Konsequenz und beeindruckendem Mut der ungeheuren Aufgabe zu, das verwüstete und vor allem in der Großen Tiefebene und im Osten entvölkerte Land neu aufzubauen.

Béla hatte nach dem Abzug der Mongolen noch 28 Jahre vor sich und erwarb sich mit seinen staatsmännischen Leistungen den Ehrentitel eines zweiten Staatsgründers, nach Stephan dem Heiligen. Wie Stephan war König Béla ein Herrscher der Öffnung und Schöpfer einer groß angelegten Siedlungspolitik. Sein Hoheitsgebiet erstreckte sich über das gesamte Karpatenbecken und umfasste darüber hinaus Kroatien-Slawonien und Dalmatien sowie einen Teil Bosniens.

Dass der König seine politische Aktionsfähigkeit so außerordentlich schnell wiedererlangte, erklärt sich zum Teil daraus, dass gerade die am dichtesten besiedelten westlichen Landesteile von der Zerstörung durch die Mongolen am wenigsten betroffen waren. Trotzdem scheint er in seiner gesamten Innen- und Außenpolitik den Albtraum einer neuerlichen Überflutung des Landes durch die Mongolen nie wieder losgeworden zu sein. Die Priorität der Wehrkraft des Landes führte zur Organisation eines völlig neuen Verteidigungssystems. Dass nur einige Burgen den Mongolenangriffen standzuhalten vermochten, zeigte sich mit aller Deutlichkeit: Ausschließlich stark befestigte Orte boten ausreichende Sicherheit, weshalb der König in seinem Reich möglichst viele von Steinmauern umgebene Städte und Orte sehen wollte. Ferner stellte er ein neues, schlagkräftiges Heer auf und ersetzte die leichten Bogenschützen durch schwere Kavallerie.

Überdies gelang ihm die Wiederansiedlung der Kumanen in der Großen Tiefebene, doch war die Rolle dieser fremden Volksgruppe gerade im neu organisierten Heer herausragend. In seinem bereits zitierten Brief an Papst Innozenz IV. deutete Béla IV. diese Tatsache an: »Leider lassen wir jetzt durch Heiden unser Land verteidigen, und mit ihrer Hilfe bändigen wir die Feinde der Kirche.« Mit den Kumanen wurden auch die alanischen Jazygen, ursprünglich ebenfalls Steppenkrieger aus dem Osten (ungar. Jász), sesshaft.

Eine aus dem Jahr 1267 datierte Urkunde des Königs erklärt, er habe aus allen Teilen der Welt Bauern und Soldaten ins Land gerufen, um Ungarn zu bevölkern. So kamen außer deutschen Kolonisten auch Slowaken, Polen und Ruthenen nach Oberungarn (in die heutige Slowakei); Deutsche und Rumänen, aber auch viele Ungarn zogen nach Siebenbürgen. In den Städten fanden sich bald auch Franzosen, meist Wallonen, Italiener und Griechen. Nach 1250 kam es zu einer Zuwanderung von Juden aus Österreich. Die jüdischen Gemeinden von Buda, der neuen befestigten Residenzstadt, von Esztergom und Pressburg wurden dem persönlichen Schutz durch den König unterstellt. Laut der Historischen Chronologie Ungarns von Kálmán Benda war übrigens Esztergom bereits 1050 ein Zentrum jener jüdischen Händler, welche die Geschäftsverbindungen zwischen Russland und Regensburg betrieben und in der Stadt auch eine Synagoge errichtet haben sollen. Die Münzprägung wurde dem Erzbistum Esztergom zugewiesen, das wiederum einen aus Wien angereisten Juden namens Henschel damit beauftragt hatte.

Für den erstaunlich schnellen Wiederaufbau, die Förderung des Städtebaus und die von ihm als absolute Priorität betrachtete Aufstellung einer neuen Armee musste König Béla allerdings einen sehr hohen politischen Preis an die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, engstirnigen und eigensüchtigen Oligarchen zahlen: Die verhängnisvolle Machtkonzentration in den Händen der großen Herren blieb bestehen. Im krassen Gegensatz zu Bélas radikalen Maßnahmen und zu den vor dem Mongoleneinfall nur mehr zum Teil durchgeführten Reformen vermochten sie ihre alten Privilegien zu behaupten; auch brauchten sie, was noch folgenschwerer war, nun die königlichen Besitzungen und Burgen nicht mehr zurückzugeben, sondern bekamen sogar noch neue Schenkungen dazu. All dies sollte kurze Zeit später zu chaotischen Zuständen führen.

Bereits im letzten Jahrzehnt seiner Regierungszeit war König Béla mit seinem als Heerführer zwar begabten, aber viel zu machthungrigen Sohn, dem späteren István V., in einen schweren Konflikt verstrickt. Dessen Herrschaft als alleiniger König dauerte dann auch nur zwei Jahre. Er vermochte den wachsenden Spannungen zwischen der Machtfülle der Oligarchen, die übrigens samt vielen hohen Geistlichen auch untereinander in blutige Fehden verwickelt waren, und dem von König Béla als Gegengewicht gezielt durch Privilegien geförderten niederen Adel nicht mehr gegenzusteuern. Es war aber einmal mehr die besondere Brisanz der noch immer ungelösten Frage der Eingliederung der kumanischen Reiter in die ungarische Umwelt, die sich gerade in der königlichen Familie verheerend auswirkte. Die kumanischen Reiter waren zwar eine unerlässliche Stütze des neu gestalteten Heeres, vor allem auf Feldzügen über die Grenzen Ungarns hinaus, doch dauerte die vollständige gesellschaftlich-kirchliche und sprachliche Assimilation der Zehntausenden von einstigen Reiternomaden letztlich noch zwei bis drei Jahrhunderte.

Die Eheschließung von Bélas Sohn István mit Elisabeth, der Tochter des heimtückisch ermordeten Kumanenfürsten Kuthan, sollte eine dauerhafte Versöhnung mit dieser Bevölkerungsgruppe besiegeln. Es war geplant, die Kumanen mit dem Adel gleichzustellen. Doch setzte der frühe Tod Istváns all diesen Bemühungen ein jähes Ende.

Istváns Sohn, László IV. (1272–1290), war noch ein Kind, und die Königinmutter Elisabeth, die sich »Königin von Ungarn, Tochter des Kaisers der Kumanen« nannte, erwies sich als Regentin völlig überfordert – sie sank zu einer Marionette in der Hand von machthungrigen Oligarchen und zu allem bereiten Günstlingen herab. Sie und ihr Sohn haben im Grunde nur den Kumanen vertraut und durch ihre übertriebene und demonstrative Bevorzugung der Steppenkrieger den heiklen Prozess der Eingliederung eher behindert als gefördert.

Nur einmal trat der junge König László IV. mit einer historischen Tat in Erscheinung, allerdings in einem entscheidenden Moment für die Zukunft Österreichs. Das war auf dem Schlachtfeld bei Dürnkrut, wo das Heer der Ungarn und Kumanen – es wird auf 15 000 Mann geschätzt – den Kampf zwischen Rudolf von Habsburg und Ottokar II. von Böhmen entschied. In den Worten des Budapester Historikers Péter Hanák: »In der Schlacht auf dem Marchfeld halfen die ungarischen Waffen die Hausmacht und die kaiserliche Autorität der Habsburger begründen.«

Abgesehen von diesem historischen Zufall war das Leben des jungen Königs, den man schon zu Lebzeiten »László den Kumanen« (Kun László) nannte, eine ununterbrochene Kette von Skandalen, Liebesaffären, Intrigen und blutigen Abrechnungen. Der leidenschaftliche, temperamentvolle und der Überlieferung nach ständig verliebte König lehnte es, aus welchem Grund auch immer, kategorisch ab, mit seiner Frau, der Anjou-Prinzessin Isabella aus Neapel, einen Thronfolger zu zeugen. Er hat sie sogar ins Kloster sperren lassen. Als ihm sein Lebensstil, seine zahlreichen Geliebten und seine heidnische Gefolgschaft eine päpstliche Ermahnung eintrugen, drohte der zügellose Psychopath, »angefangen beim Erzbischof von Gran und seinen Bischöfen bis hinauf nach Rom, der ganzen Sippschaft mit Tatarensäbeln den Kopf abzuhauen«. So jedenfalls formuliert es der Erzbischof in einem Brief an den Papst. László IV. soll übrigens sogar während einer Sitzung des Königlichen Rates, also in Anwesenheit der Würdenträger und der hohen Geistlichkeit, einen Geschlechtsakt mit einer seiner kumanischen Geliebten vollzogen haben. Der König wurde exkommuniziert und schließlich im Alter von 28 Jahren im Auftrag eines ungarischen Magnaten von zwei Kumanen ermordet.

Da László kinderlos starb, stürzte das Land in anarchische Zustände. Die Oligarchen haben ihre Einflussgebiete als Familienbesitz regiert und das Land praktisch untereinander aufgeteilt. Der letzte Arpadenkönig András III. konnte die Zentralgewalt nicht wiederherstellen und den Zerfall nicht aufhalten. Er starb 1301 und hinterließ nur eine Tochter. Damit erlosch die Arpadendynastie im Mannesstamm, und es folgten wieder Jahre der inneren Kämpfe um den begehrten Thron des inzwischen als angehendes Mitglied der damaligen europäischen Staatenwelt anerkannten Ungarns, aus denen schließlich 1308 der Enkel von Königin Maria von Neapel, der Schwester Lászlós IV., unter dem Namen Karl Robert von Anjou als Sieger hervorging. Die auf lange Sicht historisch, politisch und vor allem psychologisch bedeutsamste Erbschaft aus der Zeit von »Ladislaus dem Kumanen« ist das von seinem Hofprediger Simon Kézai von A bis Z erfundene »neue Geschichtsbild« der Magyaren. König Béla vergleicht 1252 in seinem berühmten Brief an den Papst die Mongolen noch mit dem Hunnenkönig Attila und seinen mordenden und sengenden Hunnen. Kaum eine Generation später, zwischen 1282 und 1285, sieht der Hofschreiber des Enkels die Hunnen ganz anders: »Wie ein begabter Märchenerzähler entdeckt Meister Simon Kézai Attila als stolzen Urahnen der christlichen Könige.« Aus Quellen, die er »in Italien, Frankreich und Deutschland ringsherum« fand, stellte der aus einfachen Verhältnissen stammende und sich im Vorwort als begeisterter Anhänger König Lászlós IV. bekennende Hofgeistliche das offensichtlich erwünschte Geschichtsbild zusammen.

Der Hofschreiber wartet mit der überraschenden Theorie einer »zweifachen Landnahme« auf: Die 108 Ursippen hätten schon in grauer Vorzeit dasselbe Volk gebildet, damals Hunnen, heute Ungarn genannt. Aus Skythien kommend, hätten sie Pannonien um 700 schon einmal besetzt und dann unter Attila die halbe Welt erobert. Daraufhin hätten sie den Rückzug nach Skythien angetreten, um sich endgültig in Pannonien anzusiedeln. Die 108 Sippen von 1280 sind also bei Simon Kézai die Nachfahren der Urgemeinschaft – ohne die geringste Vermischung. Auf diese Weise kommt eine historische Kontinuität zustande, die so nie existiert hat.

Dieser »erfindungsreiche Fantast«, merkt Jenő Szűcs an, liefert eine historische, juristische, sogar »moralische« Begründung für das »historische Recht« der Magyaren auf das Karpatenbecken und für den Selbstbehauptungswillen des niederen Adels in seinem Existenzkampf gegen die Oligarchen. Der aufstrebende Kleinadel ist identisch mit dem Willen der Gemeinschaft der freien Krieger als Quelle jeder fürstlichen Macht.

In seinem Essay Nation und Geschichte zerpflückt Szűcs42 das neue nationale Konzept des königstreuen Klerikers, welches die Adelsnation als Stütze der legitimen und von den Magnaten bedrohten königlichen Macht präsentiert. Im Gegensatz zur westlichen Auffassung wird Attila, ja die ganze Hunnenzeit, von Kézai sozusagen nachträglich rehabilitiert. Man könnte über diesen Unfug achselzuckend hinwegsehen, wenn die mit der Fantasie eines Romanschriftstellers erfundenen Geschichten nicht das historische Selbstverständnis des ungarischen Adels und die nationale Geschichtsschreibung bis in die Neuzeit bestimmt hätten. Der österreichisch-ungarische Publizist Ladislaus Rosdy wies in einem Ungarn-Essay auf diese bedenkliche Langzeitwirkung der bald zum Gemeingut gewordenen historischen Fiktion hin:

Es gibt daher in dieser langen Zeit keinen Ungarn – von einer jeweils historisch besonders gebildeten und kritisch veranlagten Minderheit vielleicht abgesehen –, der von der nachweisbar gefälschten Hunnensaga des Meisters Kézai nicht überzeugt wäre; und selbst von den sonst so feinfühligen ungarischen Dichtern des 20. Jahrhunderts bekennen sich nicht wenige stolz zu dieser Tradition, die aber in Wirklichkeit kaum mehr ist als ein Ausdruck des mit Resignation vermischten Überlegenheitsgefühls des »letzten Nomaden«.43

Die Theorie von der »zweifachen Landnahme« war die Quelle, aus der Historiker, Wissenschaftler und nationale Politiker lange Zeit nach Belieben schöpften. Der romantische und heldenhafte Charakter der Hunnensagen von »Anonymus« und vor allem von Kézai übten auf Generationen von Politikern und Schriftstellern eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft aus, deren Intensität bis heute manche nur insgeheim zugeben. So schrieb zum Beispiel selbst der 1848 von den Revolutionären wegen seiner gemäßigt königstreuen Gesinnung kritisierte Staatsmann Graf Stephan Széchenyi am 21. November 1814 in einer auf Deutsch verfassten Tagebuchaufzeichnung (hier in seiner originalen Orthografie wiedergegeben):

Daß ich aus der aller ächtesten Race der Huhnen abstammen muss, ist schon der Beweis genug, dass ich in denen schönsten Alpen der Schweitz, oder in denen üppigsten Thälern und Gegenden Italiens nie so warm, nie so exaltirt und enthusiastisch fühlen und empfinden kann, als in der Öde Fläche meines Vaterlandes … In mir liegt … eine ganz besondere Leidenschaft zu denen überschwemmenden, verhärenden Kriegen … einer von denen unzähligen Reitern Atilas, mit denen er alle Länder verwüstete, scheint so nach meiner natürlichen Stimmung, wenn ich so ganz von jeder Cultur und Raisonement abstrahire, zum Beispiel, ein sehr glücklicher Mensch gewesen zu sein.44

Diese Worte, die freilich erst Jahrzehnte nach dem Selbstmord von Széchenyi, dessen Laufbahn und Rolle später erörtert werden, veröffentlicht wurden, sind tiefenpsychologisch sehr aufschlussreich. Sie zeigen, wie sehr Freiheitsdrang, Tapferkeit und soldatische Tugenden zu den Eigenschaften der Ungarn gezählt werden und wie oft andere, etwa Toleranz und politische Klugheit, die nachweisbar zu den Eigenschaften der meisten Arpadenkönige gehörten, übersehen werden.

Jedenfalls kann man ohne Übertreibung feststellen, dass es wenige Nationen (vielleicht ausgenommen die Serben) gibt, auf welche Ernest Renans Worte mehr zutreffen als auf die Ungarn: »Keine Nation ohne Fälschung der eigenen Geschichte.«

Die Ungarn

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