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Kapitel IX VERHEERENDE BILANZ DER TÜRKENHERRSCHAFT

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Die nationale Katastrophe von Mohács bedeutete eine Zäsur nicht nur in der ungarischen, sondern auch in der ost- und mitteleuropäischen Geschichte. Papst Pius II. bezeichnete Ungarn als »Vormauer und Schild der Christenheit«. Nun wurde aus der mitteleuropäischen Großmacht, die fast 150 Jahre einen Sperrriegel gegen die türkische Expansion gebildet und auf dem Balkan immer wieder als Speerspitze des Widerstandes gegen die osmanische Herrschaft gewirkt hatte, ein Niemandsland vor den Toren Wiens und zugleich ein Kriegsschauplatz für das ständige und mit wechselndem Glück geführte Ringen zwischen Habsburgern und Osmanen. Zwar verließ das Türkenheer bereits Anfang Oktober Ungarn mit reicher Beute, doch hatten die beiden rivalisierenden großen Adelsgruppen nichts aus der vernichtenden Niederlage gelernt. Im Gegenteil, sie setzten auf den Trümmern des Landes ihren verblendeten Kampf um den leeren Thron mit aller Härte fort. Nach dem unverhofften (freilich nur vorübergehenden) Abzug der Türken glaubten die Streithähne, die Türkengefahr sei gebannt, und verstrickten sich in einen verhängnisvollen Bürgerkrieg, der letztlich zum endgültigen Niedergang der ungarischen Staatsidee, zu einem beispiellosen Ausbluten des Ungartums und zur Dreiteilung des Karpatenbeckens führte.

Statt mit vereinten Kräften gegen die Gefahr von außen zu kämpfen, entbrannte ein Kampf auf Biegen und Brechen zwischen zwei Gegenkönigen: János (Johann) Zápolya, der reichste Großgrundbesitzer Ungarns, der den Bauernaufstand von 1514 in Blut erstickt hatte, trat nun, unterstützt vom Kleinadel, als Repräsentant des Ungartums, als die nationale Führungsfigur schlechthin, gegen den Habsburger Ferdinand I. auf, der auf die mit den Jagiellonen geschlossenen Erbverträge pochte. Was folgte, war eine Wiederholung der Szenen aus dem Jahr 1440. Wieder wurden die beiden Rivalen in derselben Kirche in Székesfehérvár gekrönt; zuerst Zápolya und ein Jahr später Ferdinand. Wieder setzte derselbe kirchliche Würdenträger die Krone auf des Königs Haupt. Bei der Krönung Ferdinands waren auch viele der hohen Herren anwesend, die schon bei der Krönung des anderen Königs ein Jahr zuvor dabei gewesen waren. Keiner der beiden Könige war stark genug, um den anderen zur endgültigen Kapitulation zu zwingen, geschweige denn dem Sultan Paroli zu bieten. König János war der Schwächere: Er konnte erst mithilfe der Hohen Pforte und Frankreichs aus einem kurzen Exil in Polen nach Ungarn zurückkehren und den Kampf gegen Ferdinand fortsetzen. Da János bereits 1529 Sultan Suleiman bei Mohács als seinen Souverän anerkannt und ihm gehuldigt hatte, galt er in den Augen der Gegner als ein zu allem fähiger Vasall der Türken.

Dass es 1538 dennoch eine historische Chance für einen Ausgleich zwischen den Gegenkönigen und für eine Verhinderung der Spaltung gab, hing mit den Bemühungen einer der fähigsten, schillerndsten und zugleich tragischsten Figuren in dieser Zeit der Wirrnisse zusammen. Der Mann war gebürtiger Kroate und hieß Georgius Utješenić-Martinuzzi, doch ging er unter dem Namen Frater Georg (György) in die Geschichte ein. Um seine Bedeutung und seine Rolle zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass die Magyaren anderthalb Jahrhunderte hindurch an zwei Fronten – gegen die Türken und gegen die Habsburger – gekämpft hatten. In diesem oft verwirrenden und manchmal blitzschnell sich wandelnden Krieg hatten beide Fronten ihre Helden, Verräter und Märtyrer.57

Frater Georg, geboren um 1480, entstammte dem kroatischen Kleinadel und wurde nach dem Militärdienst Paulinermönch. Zum Priester geweiht, bekleidete er wichtige Posten am Hof von König Johann, zuletzt als Finanzverwalter. Frater Georg erwies sich nicht nur als unentbehrlicher Berater und als ein Mann von absoluter moralischer Integrität, er war auch ein überzeugter Verfechter der Einheit Ungarns. (Laut Szekfű hat er »die Ungarn lieb gewonnen und die Deutschen gehasst«.) Es war sein Verdienst, dass die beiden Könige 1538 in Nagyvárad (Großwardein) ein Abkommen schlossen, das den Frieden sicherte und zugleich einen geheimen Erbvertrag zugunsten Habsburgs enthielt. Frater Georg wurde mit dem wichtigen Bistum Großwardein belohnt, später stieg er zum Erzbischof von Esztergom und schließlich sogar zum Kardinal auf.

Nun strebte er zwar die Vereinigung Ungarns unter Ferdinand an, doch war er auch stets entschlossen, dem Habsburger Siebenbürgen nur dann zu übergeben, wenn dieser Anstalten machte, Ostungarn und das Kerngebiet Siebenbürgens gegen die Türken auch tatsächlich zu verteidigen. Frater Georgs Rolle wurde ausschlaggebend, als König Johann kurz vor seinem Tod (1540) aus einer späten Ehe mit der polnischen Königstochter Isabella aus dem Haus der Jagiellonen noch ein Sohn, János Zsigmond (Johann Sigismund), geboren wurde. Der sterbende König vertraute den Säugling Frater Georg an. Der Bischof proklamierte das Kind sofort zum König und zog mit ihm und der Königinwitwe nach Buda.

Während die Gegenkönige einander auf den Trümmern des Staates bekriegten, besetzten die Türken schrittweise den fruchtbaren Teil des Landes, das eigentliche Siedlungsgebiet der Magyaren, die Donau-Theiß-Ebene samt ihren Randgebieten. Mit Lug und Trug gelang es Suleiman 1541 nach zwei vorübergehenden Einnahmen, auch die Hauptstadt Buda ohne einen Schuss oder Schwertstreich endgültig zu besetzen: unter dem Vorwand des Schutzes des einjährigen Johann Sigismund und seiner Mutter. Ungarn wurde in drei Teile gespalten. Das Königreich Ungarn schrumpfte auf einige westliche Komitate und Oberungarn (die heutige Slowakei) zusammen und wurde von Wien aus wie eine österreichische Provinz regiert.

Dass aber Siebenbürgen als selbstständiges Fürstentum, wenn auch unter dem Schutz des Sultans, entstehen und existieren konnte, war in erster Linie den unermüdlichen Bemühungen von Frater Georg zu verdanken. Zehn Jahre lang hat der verschlossene und persönlich unbestechliche Mönch versucht, in diesem bizarren Dreieck zwischen den Türken, dem Habsburger Ferdinand und der launischen polnischen Königinmutter eine für alle Seiten annehmbare, im Grunde aber den elementaren Interessen des Ungartums dienende und auf die Einheit des Landes zielende Politik zu betreiben. Seine Todfeindin wurde verblüffenderweise die Königinmutter, die aus Abneigung, später aus unkontrollierbarem Hass, sogar die Interessen ihres Sohnes und der Familie aufs Spiel setzte, wenn ein Vorschlag von dem viel zu mächtigen, immer ernsten und jeglicher Lust abholden Frater Georg kam. Gegenseitige Intrigen bei den Türken, Belagerungen und Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Einheiten, gefolgt von tränenreichen Entschuldigungen beiderseits und kurzfristigen Versöhnungsgesten zwischen dem asketischen Mönch, dem starken Mann des Fürstentums, und der von polnischen Rittern umgebenen und von einigen Magnaten unterstützten lebenslustigen Königinmutter, spiegelten das Auf und Ab in einem von beidseitigem Misstrauen geprägten Spannungsverhältnis. Doch gerade die herausragenden diplomatischen Fähigkeiten des sprachkundigen Fraters Georg, seine vielfältigen Kontakte und seine differenzierte Haltung gegenüber türkischen Kommandanten südslawischer Herkunft haben ihn, auch angesichts seiner grundsätzlichen Loyalität zum ewig schwankenden König Ferdinand, letztlich nach allen Seiten als eine unsichere und undurchsichtige Gestalt erscheinen lassen. In den Augen der Magnaten und Adligen wirkte der fast 70-jährige, von unbändiger Energie getriebene und stets in einer Filzkutte auftretende Staatsmann geradezu unheimlich.

Im Sommer 1551 setzte der inzwischen von Ferdinand zum Woiwoden von Siebenbürgen ernannte Frater Georg eine neue Vereinbarung zwischen dem Habsburger und Isabella durch: Die Königinmutter verließ das Land, und ihr Sohn Johann Sigismund sollte für seinen Thronverzicht mit dem schlesischen Herzogtum Oppeln abgefunden werden. Ferdinand wurde von den Ständen Siebenbürgens als König anerkannt. Die heilige Krone, seit 1532 im Besitz der Zápolya-Familie, hat man jubelnd nach Pressburg (Pozsony) gebracht, in die neue Hauptstadt des Königlichen Ungarns, wie das verbliebene ungarische Königreich unter den Habsburgern offiziell hieß. Inzwischen zog auch Ferdinands Söldnergeneral Giovanni Castaldo mit einem kleinen deutsch-spanischen Heer in Siebenbürgen ein. Die Türken nahmen all das zunächst nicht zur Kenntnis. Wenig später entsandte der Sultan jedoch eine Strafexpedition. Frater Georg, der inzwischen auf Vorschlag Ferdinands den Kardinalshut erhalten hatte, versuchte, den angelaufenen türkischen Angriff wieder einmal durch Geld, persönliche Kontakte und psychologisches Einfühlungsvermögen, freilich auch mit Heuchelei und Geheimdiplomatie abzuwehren. Seine Feinde verdächtigten deshalb Frater Georg neuerlich, er wolle in Wirklichkeit nur die Familie Zápolya mithilfe der Habsburger loswerden und dann mit türkischer Rückendeckung auch Ferdinand ausmanövrieren, um schließlich die ungeteilte Herrschaft über Siebenbürgen für sich zu erringen. Den verunsicherten General Castaldo soll angeblich der Sekretär Frater Georgs bei einer nächtlichen Audienz vor einer tödlichen Falle gewarnt haben. Castaldo ersuchte daraufhin König Ferdinand in einem dramatischen Brief, ihm die Ermächtigung – falls notwendig – zur Beseitigung des unheimlichen Mönches zu erteilen.

Am 17. Dezember 1551 wurde Frater Georg während des Morgengebetes in seinem Schloss überfallen und von Sforza Pallavicini sowie acht spanischen und italienischen Offizieren mit 50 Dolchstößen ermordet. Die Leiche lag 70 Tage im geplünderten Schloss. Es ist durchaus möglich, dass die hartnäckigen Gerüchte über die Gold- und Silberschätze des Kardinals das wichtigste Motiv für den Meuchelmord waren. Da es sich bei dem Opfer um einen Kirchenfürsten handelte, fand der Prozess im Vatikan statt. Er dauerte drei Jahre und förderte keine Beweise für einen angeblichen Verrat des Mönches zutage. Schließlich wurden Ferdinand, Castaldo und die anderen am Mord Beteiligten auf Druck des Kaisers vom Papst freigesprochen.

Der Dolch habe nicht nur den Körper des Paulinermönches, sondern auch den Ungarns getroffen, kommentierte Szekfű den bitteren Schluss. In der Tat neigen die meisten ungarischen Historiker dazu, die Ermordung des einzigen Menschen, der eine Wiedervereinigung Ostungarns mit dem Königlichen Ungarn unter Habsburg hätte erreichen können, nicht nur als moralisch verwerflich, sondern auch als politisch grund- und sinnlos zu betrachten. Die bald danach anlaufende türkische Großoffensive und die darauffolgenden heftigen Kämpfe zwischen dem Habsburger und dem inzwischen als Fürst von Siebenbürgen installierten Johann Sigismund lassen den Eindruck zu, dass auch für den tragischen Fall der faszinierenden Persönlichkeit Frater Georgs gelten dürfte, was Talleyrand nach der Erschießung des Herzogs von Enghien gesagt haben soll: »Es war mehr als ein Verbrechen; es war ein Fehler!«

Die nach dem Meuchelmord wieder aufgeflammten Kämpfe um die Grenzziehung zwischen dem königlich-habsburgischen Ungarn und dem in allen Richtungen ausgeweiteten türkischen Herrschaftsgebiet brachten in den folgenden Jahren nicht nur keine Wende zugunsten der Wiedervereinigung Ungarns, sondern führten letztlich zum endgültigen Verlust Siebenbürgens. Der von der Hohen Pforte eingesetzte und zum Fürsten ausgerufene Johann Sigismund Zápolya übernahm nach dem Tode seiner Mutter Isabella 1559 die Regierungsgeschäfte und führte den Kampf auch gegen Kaiser Maximilian II. (1564–1576) weiter.

Indessen unternahm Sultan Suleiman einen letzten Versuch, Wien zu erobern. Eine starke türkische Streitmacht zog von Esseg über die Donau vor die Festung Szigetvár und eroberte sie nach einmonatiger Belagerung. Miklós (Nikolaus) Zrinyi, der Ban (Statthalter) von Kroatien, der sowohl für die Ungarn als auch für die Kroaten als legendenumwobener Held der Türkenkämpfe gilt, verteidigte die Festung mit einigen Hundert Soldaten bis zuletzt. Er starb bei einem letzten Ausfallversuch im Kampf gegen die osmanische Übermacht. Suleiman »der Prächtige« war kurz vor der Einnahme der Festung gestorben; doch die Nachricht wurde zunächst geheim gehalten. Kaiser Maximilian hatte in jenen Tagen als Feldherr über ein 80 000 Mann starkes Heer in der Nähe von Györ versagt. Er hatte weder einen Entlastungsangriff gegen Esztergom zur Rettung Szigetvárs gestartet noch die durch Suleimans Tod ausgelöste Verwirrung zur Beendigung der Türkenherrschaft in Ungarn ausgenutzt. Statt entschlossen zu handeln, nahm Maximilian 1568 in einem Friedensabkommen mit dem neuen Sultan in Adrianopel die Spaltung Ungarns hin, indem er die Eroberungen Suleimans als Teil des Osmanischen Reiches anerkannte. Johann Sigismund verzichtete auf den ungarischen Königstitel und nannte sich fortan »Fürst von Siebenbürgen und Herr über Teile Ungarns«, das heißt über die östlich der Theiß gelegenen Komitate. Das Fürstentum blieb dem Sultan weiterhin tributpflichtig. Die Friedensverträge besiegelten also formell die Teilung des Karpatenraums in drei getrennte Regionen für über anderthalb Jahrhunderte.

Es ist heute müßig, darüber zu spekulieren, ob die Niederlage von Mohács oder der Fall von Buda den absoluten Tiefpunkt im Niedergang des historischen Ungarns im Sinne der definitiven Dreiteilung darstellte. Alle ungarischen Historiker sind sich aber einig, dass die rund 170 Jahre der Osmanenherrschaft die größte Katastrophe der ungarischen Geschichte bedeuteten, mit schicksalhaften demografischen, ethnischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Wurzeln jener Entwicklung, die mit dem erzwungenen Friedensvertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg zur Amputation des historischen Ungarns führte, in die Türkenzeit vor über 400 Jahren zurückreichen.

Für die Zukunft Ungarns war es besonders tragisch, dass die fast ausschließlich von Magyaren besiedelten Gebiete, also die Große Tiefebene und die Hügellandschaft Transdanubiens, die schwersten Verluste hinnehmen mussten, während die von den Deutschen bewohnten Städte und auch die Siedlungsgebiete der Slowaken, Rumänen und Ruthenen in Nordungarn und Siebenbürgen relativ glimpflich davonkamen. Das früher reichste Gebiet in Südungarn und die zentrale mittlere Ebene waren in den ersten Kämpfen am stärksten verwüstet worden, und die Bevölkerung war schon Mitte des 16. Jahrhunderts ausgerottet worden. Vor Mohács stellten die Magyaren rund 75 Prozent bis 80 Prozent der auf 3,5 bis 4 Millionen geschätzten Gesamtbevölkerung. Um 1600 schätzte man sie aber nur mehr auf etwa 2,5 Millionen. Nach dem Rückzug der Türken betrug die geschätzte Einwohnerzahl rund 4 Millionen; das heißt, um 1720 hat sie den spätmittelalterlichen Stand knapp überschritten.58

Bei diesen Zahlen müssen zwei wichtige Faktoren beachtet werden. Unter normalen Umständen hätte sich die Bevölkerung in 200 Jahren mindestens verdreifachen müssen, meinte Thomas von Bogyay. Nach seinen Schätzungen ging der natürliche Zuwachs von acht bis zehn Millionen Menschen aber vollständig verloren – fast ausschließlich auf Kosten des Ungartums. Szekfű ging sogar so weit zu behaupten, dass ohne türkische Intervention die Bevölkerung bis Ende des 17. Jahrhunderts auf 15 bis 20 Millionen hätte steigen können. Der Anteil der Ungarn wäre dann 80 bis 90 Prozent gewesen. Vorsichtigere Schätzungen gehen von einem Nettoverlust von einer Million Menschen aus. Danach hätte Ungarn nach der Türkenzeit etwa so viele Einwohner aufweisen sollen wie England.

Die Ungarn

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