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Ein Spazierstock hängt im Regen ...

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Eine wäßrige Nacht. Wir waten vom Theater zur Stadtbahn, haben gerade ein paar Minuten trockenes Obdach, und dann klatscht uns das Wasser wieder ins Gesicht. Die Menschen patschen unter den glänzenden Schirmen durch die Pfützen.

An unserer Bahntreppe ist im Sommer ein grüner Fleck, sorglich mit mannshohem Lattenzaun eingefriedet. Damit die Droschkenpferde nicht die Böschung hinaufrasen. Jetzt im Winter ist der Zaun ziemlich überflüssig.

Nein, er ist es nicht. Denn plötzlich mache ich einen Griff nach dem Zaun. Die Frau an meinem Arm bemerkt es gar nicht. Sie sieht nur plötzlich, daß in die Krücke meines aufgespannten Schirms eine andere Krücke eingehakt ist, und an der hängt ein Spazierstock.

»Wo kommt der Stock her?« tönt es durch den prasselnden Regen.

»Ich hab ihn mir gelangt.«

»Woher?«

»Vom Zaun ... er hing am Zaun.«

»Wie kommt er an den Zaun?«

»Weiß nicht. Ich habe immer darüber nachgedacht, wozu der Zaun da ist – jetzt weiß ich’s.«

»Und du hast ihn dir einfach genommen?«

»Natürlich – ich kann doch nicht noch eine halbe Stunde im Regen daneben stehenbleiben. Übrigens prima Malakka, zwanzig Goldmark.«

»Und du ... das geht doch gar nicht.«

»Du siehst doch, daß es geht. Hätte ich den Stock da hängenlassen sollen? In jeder Minute gehen fünfzig Leute vorüber, sehen ihn oder sehen ihn nicht – ich habe ihn gesehen.«

»Ob ihn jemand verloren hat?«

»Wahrscheinlich – übrigens ein ordentlicher Mensch, dieser Verlierer. Der schmeißt seine Sachen nicht einfach auf die Straße wie jeder andere Liederjahn, sondern hängt ihn an den Zaun.«

»Vielleicht war er betrunken, dacht’, er stünde im Regen wie zu Hause unter der Brause, und fing an, sich auszuziehen. Zuerst hängt er den Stock auf ...«

»Man zieht sich doch nicht unter der Brause aus.«

»Er war doch betrunken.«

»Hm.«

Endlich waren wir zu Hause. Wir trockneten den Stock ab, dann nahmen wir ihn mit ins Schlafzimmer wie einen zugelaufenen Hund.

»Vielleicht«, sagte ich, »ist der Stock weder verloren noch war der Verlierer betrunken – es war möglicherweise ein ganz normaler Mensch, der morgens mit einem Stock von Hause ausgegangen war, dann aber abends im Regen die völlige Unbrauchbarkeit eines Stockes einsah und ihn einfach von sich abtat.«

Schweigen. Eine Viertelstunde später, man hatte sich schon gute Nacht gesagt – meint die Frau etwas ängstlich: »Du ... gehst du mit dem Stock aus?«

»Natürlich, sowie die Sonne scheint.«

»Und wenn du nun dem Besitzer begegnest? Es ist ein so wundervoller, ein so charakteristischer Stock. Er erkennt ihn wieder, er kommt auf dich zu, er schlägt dich nieder ...«

»Womit? Er hat doch keinen Stock.«

»Richtig – den hast du ja«, und schläft beruhigt ein.

[1924]

Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind

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