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Der Nasologe von Berlin

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Wöchentlich einmal spricht der »Phreno- und Physiognom« Reinhold Kohlhardt in irgendeinem Berliner Saal über die Bedeutung der Nase im menschlichen Gesicht, mit besonderem Bezug auf seelische Veranlagung und Berufsübung. Gestern geschah es in der Lyzeumsaula der Prinzenstraße vor etwa einem Dutzend Nasen. Eine davon hatte sich tief gesenkt, und die dazu gehörige alte Dame schlief schon zehn Minuten, bevor das Fest begonnen hatte.

Der Vortrag selbst war so schwer, daß der Nasologe ihn gar nicht allein halten konnte. Er hatte sich einen resoluten Herrn mitgebracht, der, die Anwesenden begrüßend und die Phrenologie für wichtig haltend, auseinandersetzte, der Vortragende werde den Beweis dafür antreten, daß sich der Charakter des Menschen in seiner gesamten Kopf- und Gesichtsform ausdrücke.

Harthold Reinkohl trat diesen Beweis indessen gar nicht erst an, denn wenn auch die Seele des Menschen im Gehirn sitze, so könne man auch schon an der Nase viel sehen, und heute wolle er justament nur über Nasen sprechen. Der schlanke, sympathische, kandidatenförmige Herr öffnete einen großen Koffer, entnahm ihm große, auf Pappe gezogene Umrißzeichnungen und sagte: »Dies ist eine pessimistische Nase. Der Mensch, der traurig ist, geht gebückt, er läßt die Mundwinkel hängen, die Augenwinkel schieben sich herab, und auch die Nase verlängert sich infolgedessen nach unten. Deshalb ist das eine pessimistische Nase. Natürlich sitzt die Seele nicht in der Nase, sondern im Gehirn. (Aber heute wolle er eben von Nasen sprechen.)

Dies ist eine optimistische Nase. Der heitere, freudige Mensch geht aufrecht, seine Blicke sind nach oben gerichtet, und auch seine Nase strebt nach oben. Natürlich sitzt die Seele nicht in der Nase, sondern im Gehirn. (Aber heute ...)

Dies ist die Judennase. (Und er zeigte eine fabelhafte.) Der Erwerbssinn ist in ihr außerordentlich entwickelt. So eine Nase wie diese Nase kommt allerdings heute sehr selten vor. Seitdem die Juden in der Berufswahl nicht mehr so beschränkt sind und sich auch andern Betätigungsgebieten zuwenden können, hat sich auch ihre Nase verändert. Denn mit der veränderten Veranlagung oder Stimmung kann sich auch die Nase ändern. Ein mißtrauischer, pessimistischer Mann kann, wenn er seine Sinnesart ändert, auch seine Nase ändern. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, sondern sehr langsam. Denn die Seele sitzt bekanntlich nicht in der Nase, sondern im Gehirn.

Das sind Lippen (der Nasenvorrat war offenbar ausgegangen), die Liebessehnsucht ausdrücken. Solche Lippen kommen meistens bei jungen Leuten vor. Natürlich sitzt die Seele auch nicht in den Lippen, sondern, wie ich schon mehrfach hervorgehoben habe, im Gehirn.

Das sind Lippen, die auf eine sehr edle Denkungsart schließen lassen. Diese Lippen sind sehr schön und edel geschwungen. Worin die Schönheit besteht, muß man eben fühlen, zu erklären ist so was sehr schwer. Dazu ist die Sprache zu arm ...«

Hier ließ der Reinhard Kohlhold eine Pause eintreten, und die anwesenden Nasophilen schöpften Atem. Sogar die alte Dame öffnete für einige Augenblicke die Augen.

September 1921

Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind

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