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Witta vasichat?

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Die vielerörterte Frage lautete eigentlich dahin, ob man für den Sommerüberzieher ein neues Futter oder für das Futter einen neuen Sommerüberzieher anschaffen sollte. Freunde, denen das Kleidungsstück zur Begutachtung vorgelegt wurde, brachen in den fugierten Ruf aus: »Reiniget ihn.« Dementsprechend wurde gehandelt. Die Frau ging noch einige Tage überlegend durch die Straßen und widmete ihre Aufmerksamkeit jenen sonderbar nachdenklichen, fast leeren Schaufenstern, in denen zuweilen eine gebügelte Männerhose mit einer rosa Damenbluse oder ein grüner Unterrock mit einer karierten Männerweste von vergangenen Tagen stumme Zwiesprache halten. Dann öffnete sie die Tür eines dazugehörigen Ladens, in dem vor verhüllten Schränken eine seit dreißig Jahren auf irgend etwas wartende Dame stand und schließlich mit saurer Miene sagte: »Gut, wir werden den Mantel abholen.«

Am nächsten Tage klingelte es, und vor der öffnenden Frau stand ein blasses, blondes, zwölfjähriges Mädel mit blau erloschenen Augen und einem unerhört breiten, gradlinigen Mund.

»Is hier der Paletot abzeholen?«

Die Frau nickte, holte das von den letzten peinlichen Resten des Futter befreite Kleidungsstück aus dem Schrank und reichte es dem Kinde, das noch einmal den Mund weit öffnete, um mit heller Stimme zu schmettern: »Witta vasichat?«

Die Frau, die das Unglück hatte, nicht in Berlin geboren zu sein, sagte zunächst gar nichts. Das Mädchen hielt sie infolgedessen für schwerhörig, holte noch einmal tüchtig Atem und schrie, so laut und so rasch es konnte: »Witta vasichat?«

Die Frau, die immer noch nicht wußte, aber mutmaßte, daß ein irgendwie gearteter Irrtum vorliegen mußte, sagte: »Nein, er soll gereinigt werden.«

Das Mädchen zuckte bloß mit der rechten Schulter: »Wolln Se’n nich lieba vasichan?«

Nun lächelte die Frau und meinte: »Wird er denn davon auch sauber?«

»Nee.« (So eine dumme Dame war dem Mädchen noch nicht vorgekommen.) »Er kommt bloß nich wech.«

»Wieso kommt er denn weg?«

Das Mädchen wiegte ungeduldig den auf dünnem Halsstengel sitzenden Kopf: »Villeicht kommt er ooch nich wech.«

»Na also«, meinte die Frau. »Im übrigen ist es eure Sache, dafür zu sorgen, daß er nicht wegkommt. Ich übergebe euch einen Paletot, und ihr habt ihn mir gesäubert zurückzubringen.«

Das Mädchen ließ sich auf juristische Erörterungen nicht ein und sagte bloß: »Wenna wech is, dann issa wech.«

Da schwoll der guten Frau die Zornesader, und sie schrie: »Na, dann ›issa wech‹! Und er wird auch nicht ›vasichat‹!« und schlug dem Mädchen die Tür vor der Nase zu.

Am Abend erzählte es die Frau dem Manne. Der hörte schweigend zu. Dann ergriff er ihre liebe kleine Hand und küßte sie. Die Frau wurde nervös und fragte unsicher: »Hätte ich ihn doch versichern sollen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. Sein Auge sah wehmütig in die Ferne, dann sagte er, der das Glück hatte, in Berlin geboren zu sein, leise mehr zu sich, als zu seiner Frau: »Nu issa wech.«

[1924]

Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind

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