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Musik
Phantasien eines Verschnupften

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Zuweilen gibt ein ganz gewöhnlicher Schnupfen Gelegenheit, die musikalische – man kann auch sagen: die seelische Struktur eines Hauses kennenzulernen. Für gewöhnlich hört man im Eigenlärm über die Geräusche der andern hinweg. Doch wenn ein sanftes Leiden die zärtliche Schonung der eigenen Familienmitglieder hervorruft, wenn alles auf Zehenspitzen geht, das Telefon nur noch verschämt röchelt und sogar der Einbrecher sich draußen die Schuhe auszieht – dann, o Mensch, nimm zwei Aspirine, eine heiße Limonade, hülle dich in die ganze Wolle deines Bürgertums, und wenn du dann noch nicht schwitzest – höre, was die Menschen im Hause spielen.

Moderne Nachbarschaft ist eine der unheimlichsten Angelegenheiten. Man denke an die Mieterversammlung. Wir Bewohner desselben Hauses leben doch – man kann sagen, was man will – unter denselben klimatischen Verhältnissen (die Zentralheizung funktioniert bei keinem), und dennoch ist die Mieterzusammenkunft immer ein Kongreß von Eingeborenen vierundzwanzig verschiedener Erdteile. Jeder redet in seiner Sprache an dem andern vorbei. Man will auch gar nicht verstanden werden. Im Grunde hassen wir uns gegenseitig, unsere Stiefel, unsere Zigarren, unsere Dienstmädchen, unsere Kinder, unsere Eheweiber. Eine der größten Verwirrungen bietet das Betreten der unter oder über uns gelegenen, also völlig gleichgroßen Wohnung. Wenn wir sehen, was andere Menschen aus diesen selben Räumen gemacht haben, so packt uns das Grauen. Wir erleben nämlich denselben Gedanken, von einem andern gedacht. Ich habe plötzlich den Kopf des andern auf der Schulter.

Wir haben dieselben Räume (auf Grund irgendwie ähnlicher Verhältnisse oder Ansprüche) – unser häusliches Leben ist in denselben Rhythmus gezwungen. Es macht schon etwas aus, vom Speisezimmer ins Schlafzimmer, vom Arbeitsraum zu den Kindern genau dieselbe Schrittzahl zu benötigen. Gleiche Weite des Blicks, gleiche Aussicht, gleiche Winkel und Krümmungen. Und wie unerhört anders hat der andere Mensch diesen selben Gedanken bevölkert, möbliert, will sagen: beseelt. Das kann reicher oder ärmlicher sein, spröder oder lasterhafter, eine gefühllose Öde oder ein Aufschwung zur Schönheit; familiäres Behagen oder pure Pflichterfüllung. Die Schönheit kann gebildet sein aus ein paar kargen Möbeln, von einer guten Hand geordnet; erlesene Dinge können zum Selbstbetrug vor dem Gebieter in grotesker Lächerlichkeit strammstehen. (Was können Möbel lügen – wie gut und wie schlecht!) Kann alles sein, würde uns gar nicht berühren – geschäh es nicht in unsern Räumen! Der andere in uns greift uns an, die Verzweiflung: Der Mensch unter – über – neben dir ist gar nicht das, was dir Mensch ist.

Diese Auseinandersetzung über die Verschiedenheit der Menschen mußte sehr langatmig sein, um das Folgende besonders wirkungsvoll zu machen:

Jeder dieser höchst verschiedenen Menschen hat ein Klavier, und alle spielen dieselben Stücke. Man entschuldige das nicht mit der notorischen Armseligkeit unserer Musikliteratur. Tatsächlich kommen die Menschen mit einem Bruchteil des Vorhandenen aus: sie nähren sich von einem knappen Dutzend Sonaten, Mozart oder Beethoven; ein paar Walzern, Notturnos oder Mazurkas von Chopin, zwölf bis zwanzig Minuten Wagner und einigen musikalischen Momenten Schuberts. Dann stehen noch ein paar Bachsche Fugen oder Händelsche Variationen in der Hausapotheke oder ein paar Schnäpse von Walter Kollo, Leo Fall und ähnlichen Melomanen.

Diese Menschen also haben das fast gleichartige Bedürfnis nach musikalischer Heiterkeit oder Heroismus, Schwermut oder Tändelei. Sie sind innerlichst gezwungen, dieselben Ton-Gedanken-Gefühlsreihen immer wieder zu durchlaufen. Die Musik ist ihr seelischer Generalnenner.

Man merkt’s im ganzen Umfange erst im Schnupfenfalle: vom Parterre dampft Chopin zu mir herauf, im ersten Stock braust Beethoven, im vierten wabert Wagner. Zehn Minuten später hat sich’s gedreht: Wagner wabert aus dem Parterre, Chopin tropft auf mich herab, Beethoven prasselt mir von der Linken in die Weichteile. Man könnte (unter dem Einfluß der heißen Limonade) eine große Wut bekommen auf die gesamte Musik und feststellen, daß in den Konzerten in nur wenig vergrößertem Maßstabe dasselbe vor sich geht. Unsinn: wenn alle andern Komponisten nicht auf die Welt gekommen wären und Mozart nichts als die g-Moll-Sinfonie geschrieben hätte – wäre das ein Beweis gegen die Musik? Aber es ist richtig, daß für die Hausbewohner der Unterschied kein sehr großer wäre – mir wurde gestern die »Appassionata« von drei verschiedenen Seiten zugleich entgegengedonnert.

Vom Standpunkt eines gütigen Menschenbetrachters läßt sich sagen: Die Musik hat in weiten Kreisen die Stelle eingenommen, die früher die Heilige Schrift innehatte. Man hatte sich jahrhundertelang an den sehr schönen, sehr erhabenen Geschichten erbaut und wird es auch in Zukunft tun – aber der liebe Gott träufelte neue himmlische Propaganda auf uns herab. Als feiner Menschenkenner hatte er sich gesagt, daß die Methode, seine gesammelten Werke möglichst in einem, höchstens in zwei Bänden herauszugeben, die Menschen eher von der Lektüre abhält als zu ihr einladet. Die Art, das Ganze groß und feierlich zu nehmen, ist sehr anständig, aber nicht sehr reizvoll. Die unerhörte Fülle und Mannigfaltigkeit widerstrebt der einheitlichen typographischen Gestaltung. Jeder andere Dichter findet sich (soweit er nicht überhaupt an seinen gesammelten Werken zugrunde geht) dann doch zu einer ihm gemäßen Erscheinungsform. Nun tritt auch die Bibel gelegentlich vornehm und bis zu einem gewissen Grade weltmännisch in den Kreis der Werke, die gelesen sein wollen. Eine feine List des großen Psychologen, mit Goethe und Schiller, Möricke und Poe, E. T. A. Hoffmann und Gogol in scheinbaren Wettbewerb zu treten und zu tun, als seien die anderen Werke nicht von ihm.

Mit der Musik indessen ließ er es nicht soweit kommen. Das widerstrebt der Sammlung im Großen. Das vertreibt sich am besten durch Einzelausgaben und zwingt zu frommer Beschäftigung mit Fingersätzen und Pedalen.

Auch diese Abschweifung war nötig, um auseinanderzusetzen, daß es von diesem Standpunkt aus nicht so sehr darauf ankommt, wie gespielt wird. Wenn rings um mich her gewabert und gerast wird, wenn die Fingersätze fliegen und die Pedale ächzen, so weiß ich, daß in meinem Hause augenblicklich wenig gesündigt wird. Es bleiben höchstens einige Rechnungen unbezahlt. Denn der Dilettant ist an seinen Übungen mit allen Sinnen und Gliedmaßen beschäftigt. Man muß schon ein Künstler sein, um so zwischen Präludium und Fuge Vater oder gar Mutter zu werden.

Denn Künstler sind Priester und haben das Lächeln.

November 1921

Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind

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