Читать книгу Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind - Paul Schlesinger - Страница 11
Der ewige Gruß
ОглавлениеEi, da kommt Herr Knopel. Mit meinen guten Augen erkenn ich ihn auf hundert Schritt. Ach, und man hat so selten die Freude, ihn zu sehen. Früher war er mir direkt unsympathisch. Damals war er nämlich Besitzer unseres Hauses, und er hatte etwa zwanzig solcher Steinhaufen. Wahnsinnig höflich war er nie, er war überhaupt nicht wahnsinnig. Man galt bei ihm als Nummer, und es war ihm so unerhört gleichgültig, wer in einem seiner Steinhaufen wohnte. Deshalb schimpften wir auf ihn immer. Natürlich – begegneten wir uns auf der Straße, so zogen wir voreinander den Hut.
Bis ihm eines Tages die Sache zu dumm wurde und er in kühler Sachlichkeit seine sämtlichen Steinhaufen an eine Aktiengesellschaft verkaufte. Seitdem wir eine Aktiengesellschaft als Hauswirt haben, wissen wir Herrn Knopel zu schätzen. Bei ihm hatte jeder von uns wenigstens eine Nummer. Jetzt sind wir überhaupt nichts mehr, keiner von uns kennt die Aktiengesellschaft, mit der wir nur noch auf dem Prozeßweg verkehren.
Ist es da ein Wunder, wenn ich mich freue, dem guten Knopel zu begegnen? Schon nehme ich den Stock in die andere Hand und ziehe meinen Hut. Herr Knopel richtet seine klugen, kalten Fischaugen auf mich und richtet sie wieder weg. Er bewegt nicht die breiten, dicken Lippen, noch weniger fällt ihm ein, auch nur eine Hand aus der Überziehertasche zu nehmen, um nach dem Hut zu greifen. Er grüßt einfach nicht wieder.
Da krieg ich eine Wut und stelle ihn: »Herr Knopel, ich habe Sie gegrüßt.«
»Na ja, und?«
»Herr Knopel, wir sind persönlich bekannt!«
»Wir waren bekannt miteinander. Sie wohnten in einem meiner Häuser. Ich habe die Häuser verkauft. Da sind wir doch nicht mehr persönlich bekannt miteinander. Das Grüßen kann doch nicht in alle Ewigkeit einfach so weitergehen – sparen wir uns die Mühe.«
Wendet sich um, läßt mich stehen.
Ich aber seh ihm nach, bewundernd. Wahrlich, ein großer Mann, dieser kleine Herr Knopel. Wieviel Mühe könnte man sich sparen, wenn man konsequent nach seinem Rezept verführe. Ich habe zwar nie ein Haus mit numerierten Menschen besessen. Aber habe ich nicht auch drei- bis fünfhundert Bekannte, die ich nicht mehr kenne und vor denen ich aus purer Dummheit den Hut ziehe.
Schon kommt einer mit ausgebreiteten Flossen auf mich zu: »Sind Sie nicht der Herr Vetter von Herrn Pichel?«
»Nein.«
»Aber Sie wohnten doch früher in der Steinstraße.«
»Nein.«
»Aber Ihre Frau spielt doch Klavier?«
»Nein.«
»Aber Sie waren vorigen Sommer in Warnemünde?«
»Nein.«
»Aber Sie haben vor zwanzig Jahren in Heidelberg studiert?«
»Nein.«
»Aber Himmeldonnerwetter, wir kennen uns doch?«
»Natürlich kennen wir uns«, sage ich kühl. »Wenn Sie es durchaus wissen wollen: Sie haben vor genau dreißig Jahren meine Kusine Frieda von der Tanzstunde nach Hause gebracht und ihr bei der Gelegenheit zwei Küsse gegeben, wofür Sie am nächsten Tag von mir zwei Ohrfeigen bekamen.«
»Ach ja, richtig«, sagt er tief geknickt. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, zieht (noch mal) den Hut, läßt eine von grauen Haaren umstandene Glatze sehen und verschwindet.
Und nun frage ich: War das unbedingt nötig?
Hat nicht Knopel ganz recht?
[1924]