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Die entschlemmerte Diele

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Endlich ist der Geist des Herrn von Kahra bis an die Spree gedrungen. Der wird Augen machen, wenn er eine Berliner Diele betritt! Nun kehret Zucht und Ordnung, segensreiche Himmelstochter, bei uns ein. Es war aber auch höchste Zeit, daß das Schlemmen in den Dielen verboten wurde.

Im Ernst gesprochen: Die neue Verordnung wird sehr viel, vielleicht sogar das Entscheidende zur Vergeistigung des Berliner Dielenwesens beitragen. Das Volk hatte in der Tat nicht mehr das rechte Bewußtsein davon, was eigentlich eine Diele ist und weshalb man eine solche besucht.

Die Diele, wenigstens im Sprachgebrauch des zwanzigsten Jahrhunderts, ist zunächst ein angenehmer, wohltuend erwärmter Raum, ausgestattet mit allen Künsten, deren unsere moderne Innenarchitektur fähig ist. Hübsch lackierte Stühle, weiche Polster laden zum Verweilen. Bunte Vorhänge erfrischen das am Alltag abgestumpfte Auge, traulich beschirmte Lampen winken von jedem Tisch. Was ist natürlicher, als hier, friedlich bei der Lampe, ein gutes Buch zu lesen? Nirgends findet man mehr Behagen, mehr Muße, mehr Möglichkeit zur Konzentration. Aber die Diele bietet auch die Möglichkeit zu geselligem Genuß. Da ist zunächst der Stehgeiger mit seiner vortrefflichen Kapelle, deren klassischen Weisen zu folgen nur von moralischem Gewinn sein kann. Und dann überhaupt: die feine Form der Geselligkeit, die nirgend anders so genossen werden kann wie in Bars und Dielen. Da gibt es zum Beispiel Damen, hübsche, junge, gut gekleidete, in den besten Gesellschaftsformen erzogene. Und wie heiter zwanglos wickelt sich alles ab. Förmliche Vorstellung ist überflüssig, auch nicht immer ratsam. Man lächelt, ein seelenvoller Blick genügt oft, um Sympathie und Verständnis hervorzurufen. Man setzt sich zusammen, man plaudert. Man ist um keinen Unterhaltungsstoff verlegen. Die Welt ist voll von Sorgen und Kummer; hier schüttet man sein Herz aus, hier bespricht man die großen und kleinen Probleme des Tages: die Zentralheizung, die Butterpreise und vor allem Fragen der Kindererziehung und Säuglingspflege. Auch gelegentliche Bemerkungen über Kunst und Literatur finden verständnisvolle Würdigung. Am Ende beugt man sich galant über die zuweilen gewaschene Hand und geht, an Herz und Nerven gestärkt, nach Hause.

Das ist eine Diele, eine wirkliche Diele. Und man darf mit der Regierung fragen, was an einem solchen Ort nun noch mit übermäßigem Essen und Trinken bewirkt werden soll! Mit Recht wird es besteuert.

Ich, wenn ich mit meiner Familie in eine Diele gehe, trage in der linken Hand ein paar gute Bücher, in der rechten das Stullenpaket. Mein Junge hat seine englische Grammatik, mein Töchterchen ihre Buntstifte, meine Frau die von ihr unzertrennliche Handarbeit. Abends um neun packe ich regelmäßig das Stullenpaket aus, während Mutter in die Küche geht (der alte Brauch ...) und den mitgebrachten Malzkaffee kocht. Ab und zu werfe ich einer der hübschen jungen Damen einen seelenvollen Blick zu und biete also ein Bild, in dem sich altväterische Zucht mit weltmännischer Grazie verbindet.

Der Nation ein Vorbild.

September 1922

Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind

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