Читать книгу Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind - Paul Schlesinger - Страница 13
Aphorismen über die Liebe
Оглавление1 Alle Ratschläge, die in Liebesangelegenheit gemacht werden, sind falsch. Mit Recht werden sie von den Liebenden mißachtet, woraus dann so oft großes Unglück entsteht.
2 Das einzige, was ein Liebhaber von seiner Freundin wirklich verlangen kann, ist ihre Untreue. Nichts ist für ihn unerträglicher als ihre Abkehr aus purer Versandung des Gefühls.
3 Es gibt keinen verlassenen Liebhaber, der nicht seine Freundin »nur noch einmal« sprechen möchte. Warum nicht noch dreimal? Warum nicht noch einen Kuß; oder noch zehn Küsse? Natürlich: unter »einmal sprechen« versteht er zwanzig Küsse.
4 Wenn der Mann die Geliebte auf einer Lüge ertappt, ist das für ihn eine sehr große Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung. Selbst wenn es sich nachher herausstellt, daß es gar keine richtige komplette Lüge gewesen ist, bleibt genug, um einer Inkorrektheit symptomatischen Wert beizumessen. Der Mann ahnt nicht einmal, wieviel er selbst lügt.
5 Bis zu welchem Grad der Mann unfähig ist, eine Frau zu begreifen, das ahnt er erst beim Anblick des glücklicheren Nebenbuhlers. Niemals versteht ein Mann die spätere Wahl der Geliebten. Und wenn sie ihn offensichtlich äußerer Vorteile wegen verlassen hat, seufzt er und sagt: Wie unglücklich muß sie sein!
6 Jammervoll ist die Lage des Mannes, der sich in gesundem Selbstgefühl sagen darf oder dem es auch noch bestätigt wird, der Nachfolger sei ein Mann von ungleich geringerer geistiger Qualität, seelischer Verfeinerung. Er kann es nicht begreifen, daß seine eigene seelische Verfeinerung in den meisten Fällen die Quelle seines Unglücks ist.
7 Die Liebe, über die noch geredet werden muß, ist nicht mehr der Rede wert.
8 Wirklich treu ist nur der Unglückliche, und auch der nur, wenn er das Glück hat, eine völlig menschenleere Insel zu bewohnen.
9 Eine unglückliche Ehe ist ein Kinderspiel – aber eine glückliche – das will durchgemacht sein!
10 Es war einmal ein Dichter, der die planmäßige Gepflogenheit hatte, alle Liebschaften, die er darstellte, in ein ungewisses Licht zu rücken. Die Leser seiner Romane waren infolgedessen sehr unzufrieden mit ihm. Eine junge Dame, die seiner habhaft wurde, fragte ihn über eine seiner Romanfiguren: »Hat sie ihn nun wirklich geliebt?« Der Dichter ärgerte sich mächtig über die dumme Frage und setzte der Dame auseinander, daß es in der Liebe überhaupt »wirklich« nicht gebe, daß jede Liebe anders sei. Trotzdem konnte der Dichter nicht verhindern, sich in jene Dame zu verlieben. Als sie ihm um den Hals gefallen war und er ihr den ersten Kuß auf den Mund drückte, fragte er sie beglückt: »Liebst du mich nun wirklich?« Und als sie ihn später verließ, war sein letztes, verzweifeltes Wort: »Hast du mich nun wirklich nicht mehr lieb?« Dieser Dichter war ein Narr.
11 Die Geschichte des Grafen von Gleichen wird nie zu Ende erzählt. Jawohl, er war mit beiden Frauen glücklich. Er fühlte sich stark genug, beide zu lieben, und sein Leben war ein Fest. Aber es geschah, daß die beiden Frauen nicht gleich glücklich wurden. Sei es, daß die eine (es war die zweite) dennoch glaubte, nur einen halben Mann zu besitzen – sei es, daß sie verliebten Einflüsterungen eines andern Gehör schenkte ... sie verließ ihn. Der Verlust traf den Grafen mit tödlicher Wucht. Er war unfähig, sich mit dem halben Glück zu begnügen, das ihm doch geblieben war; ging hin, ließ sich scheiden, und zwar von allen beiden.
12 Der Verlassene, der in seiner Geliebten auch eine Freundin zu besitzen glaubt, begeht oft den Fehler, sich bei der Freundin über die Geliebte zu beschweren. Dabei verliert er gewöhnlich auch noch die Freundin. Viel öfter hätte er Anlaß und Recht, die Freundin bei der Geliebten zu verklagen. Denn die Freundin hätte es sein müssen, die dafür sorgte, daß ihm unnötige Schmerzen, Qualen der Unsicherheit erspart blieben.
13 Treue und Untreue sind nur zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache: für die Liebe.
April 1923