Читать книгу Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind - Paul Schlesinger - Страница 19
Abschiedsvisite bei Castan
ОглавлениеNur auf diesem Wege anstandshalber die Mitteilung, daß ich dir, lieber Castanb, heute einen heimlichen Abschiedsbesuch gemacht habe. Mittwoch wird dein Panoptikum versteigert. Einmal wollte ich noch sehen, was eigentlich bei dir los war.
Die Heimlichkeit war nicht sehr freiwillig. Ich ging rasch in den großen Restaurationssaal, in dem von Tischen, Stühlen, Waffen, Bildern ein ziemliches Durcheinander herrschte. Einen einsamen Herrn sah ich bei einem halben Glase Bier sitzen. Ich ging nur zwei Schritte auf ihn zu – dann erkannte ich: Das ist immer noch der gleiche Herr aus Wachs, der seit meiner Kindheit Tagen an dem Tische saß und von so vielen Provinzlern angesprochen wurde: Wieviel Uhr es denn sei – oder so. Das Wiedersehen mit mir ging nicht ohne Erschütterung vor sich. Damals war der einsame Herr viel älter als ich. Heute, nach mehr als dreißig Jahren, bin ich etwas älter als er – oder viel, viel älter.
Ein Arbeiter ging durch den Raum. Ich bat um die Erlaubnis, eine Besichtigung vornehmen zu dürfen. Man wies mich auf eine kleine Treppe, dort, im zweiten Stock, seien die Herren, die etwas zu erlauben hätten.
Auf der Treppe las ich die Worte: »Zur Schreckenskammer«. Schon zwängte sich aus vergittertem Fenster ein Sträfling zur Flucht. Mein Herz stand still. An die Schreckenskammer hatte ich nicht gedacht. Nichts hatte ich als Kind mehr gefürchtet als diese Treppe, und nie hatte ich sie betreten. Und jetzt wollte ich so einfach – weil die Herren gerade oben seien –, so geschäftsmäßig kühl da hinaufgehen? Ich mußte mich zusammennehmen. Ich stieg hinauf, ich trat ein. Die Herren waren gar nicht da – aber etwas anderes, Fürchterliches stürzte sich auf mich: das entsetzlich schweigsame Alleinsein mit fünfzig wächsernen Mördern und Mörderinnen. Sie standen herum, ihre abgeschlagenen Häupter hingen an den Wänden. Folterinstrumente, Beile, schreiende Menschen, gemartert von der erfinderischen Justiz aller Jahrhunderte – und ich allein, wieder das gequälte Kind, das unten an der Treppe wartete, während die älteren Geschwister so ruhig hinaufgegangen waren –. Fort, nur fort!
Ich stolperte die Treppe hinunter. Erst vor Dornröschen beruhigte ich mich. Nun bewegte der Elektromotor nicht mehr ihren Busen, der früher so regelmäßig auf und nieder ging. Dann kam ich zu den Riesen, deren Namen ich früher so genau kannte und die ich nun alle vergessen habe. Und daneben stand noch immer Herr Ulpts, der Zwerg, den ich doch noch lebendig gekannt hatte. Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge.
Ich trete an einen vergitterten Balkon, und ich sehe hinab in den berühmten Kaisersaal, in dieses feierlich tote Gewimmel von wächsernen Gestalten! War hier nicht einst die Kaiserproklamation nachgebildet? Die beiden Gardes-du-Corps in rotem Wams stehen immer noch zu Füßen des Podiums. Aber dann, das weiß ich auch noch, stand Wilhelm der Zweite vor dem Thronsessel. Er ist nicht mehr da; an seiner Stelle sitzt, grausig puppenhaft von Hermelin umflossen, Friedrich der Erste, König von Preußen – den letzten hat der erste abgelöst. Links von ihm erkenne ich eine feldgraue Gruppe: Hindenburg und Ludendorff.
Mir ist, als hätte wer geseufzt. Ich blicke auf. Dort drüben ist noch ein Balkon, über ihn lehnt sich eine dunkle schlanke Dame. Hat sie geseufzt? Aber nein, sie ist ja aus Wachs und wartet nur, daß sie unter den Hammer kommt.
Es zieht mich hinunter in den Saal der prunkenden Uniformen. Bismarck, Moltke, Prinz Friedrich Karl – sie haben ihre stolze, ablehnende Haltung mir gegenüber seit dreißig Jahren bewahrt. Da Kaiser Friedrich – daneben an der Wand doch noch Wilhelm der Zweite. Kein Lüftchen bewegt seinen Federbusch. Welch wächserne, gläserne Öde in dieser Fürstengruft! Eine Bewegung, eine einzige, und es müßte klirren von Orden, Ketten, Waffen. Nichts. Nur ich – lebe. Eigentlich sind sie alle wehrlos, auch Sie, Herr Poincaré mit dem Ordensband, und ihre britische Majestät ...
Und Goethe, Schiller, Wagner, Rubinstein – mußte das sein? Hat das sein müssen, lieber Castan? Da steht auch Ebert neben Scheidemann. Weiß Gott, niemals war ich so überzeugt vom Vorzug der Unberühmtheit.
Da – ich lache hell auf! Ihr seid auch noch da, ihr geliebten Vexierspiegel? Wer kann da widerstehen? Ich will ganz allein über mich lachen. Ich mach mich ganz dick, und ich zerfließe in die Breite. Ich schneide eine Grimasse – ha, mein Mund reicht von Paris nach Petersburg. Und nun ganz dünn. Ich will doch probieren, ob ich so aussehen kann, wie ich eigentlich aussehen möchte – so ist es gut. So ungefähr. Das ist mein seelisches Format. Wenn ich mich so fotografieren lassen könnte ... Ich dreh mich nur halb – was ist das? Mein Bauch ist gewölbt, geschwollen, ein Ballon – ich lache laut – mich erschreckt mein eigenes Lachen. –
Fort – hinaus. Adjö, lieber Castan. Hinaus auf die graue, trübe Friedrichstraße. Sie ist verwahrlost, im Straßenschmutz liegen Bettler, an den Ecken schreien die Händler. Jawohl – wir haben einen Krieg verloren; aber wir sind nicht aus Wachs, wir leben.
Zusammenfassend, lieber Castan: Als ich ein Kind war, hast du mir wohl Spaß gemacht. Heute warst du ein schwerer furchtbarer Traum. Und ich weiß nicht, welcher deiner Säle keine Schreckenskammer war.
Und nun ziehe in Frieden. Ich weiß, deine Lebensarbeit ist nicht tot. Deine Puppen werden nicht zerschlagen, nur versteigert. Sie werden sich da oder dort auftun, und das Volk wird staunen, und die Kinder werden gaffen und sich fürchten.
Aber ich bin von dir erlöst – für den Rest meiner Tage.
Februar 1922