Читать книгу Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind - Paul Schlesinger - Страница 14

Rätsel der Seele

Оглавление

Auf einem Untergrundbahnhof traf ich gestern den elegantesten, smartesten Mann meiner Bekanntschaft. Ich kenne nicht sein Bankkonto, wohl aber die großzügige, zuweilen verschwenderische Art, Geld auszugeben. Frisch, wohlgenährt, prächtig gekleidet stand er vor mir. Wir freuten uns miteinander, aber ich beeilte mich mit dem Gespräch, denn ich wußte, wenn der Zug einfuhr, mußten wir uns trennen, und ich bereitete schon die Phase vor, mit der ich ihm schonend mitteilen wollte, daß ich dritter Klasse fahre – und er war ja eben jeder Zoll zweiter.

Wie erstaunt war ich, als er plötzlich die von mir selbst gedachten Worte sprach. Er bäte mich um Entschuldigung, er wolle mich nicht etwa veranlassen, mein Billett zweiter unausgenutzt zu lassen. Aber er fahre prinzipiell dritter, natürlich nicht wegen Billigkeit, sondern weil man in der dritten manchmal sitzen könne, während man in der zweiten immer stehen müsse. Außerdem seien die Leute der dritten Klasse besser erzogene Menschen ... Aber ich solle mich nicht stören lassen. Ich entpuppte mich nun auch; nur aus den von ihm angeführten Gründen führe auch ich immer dritter.

Dann kam der Zug, wir stiegen ein, natürlich fanden wir keinen Sitzplatz, wurden von den besser erzogenen Leuten hin und her gestupst, plauderten allerhand und trennten uns vergnügt erst auf der Straße.

Auf der Rückreise, zwei Stunden später, nahm ich aus einem mir völlig unbekannten Grunde eine Fahrkarte zweiter. Ich betrat einen fast leeren Wagen der zweiten Klasse, aber wen fand ich darin? Den elegantesten, smartesten Mann meiner Bekanntschaft. Wir sahen uns verlegen und schuldbewußt an, wie zwei Ehegatten, die sich gegenseitig bei was ertappt hatten.

»Nun fahren wir doch zweiter«, sagte ich mit katastrophalem Stimmklang.

»Ja«, gestand er kleinlaut. »Merkwürdig – wieso nur? Die menschliche Seele ist doch voller Rätsel.«

Ich versuchte, mich zu erinnern, und sprach: »Vielleicht tat ich es doch unter Nachwirkung unseres Gesprächs. Zum ersten Male nach langer Zeit prüfte ich den Preisunterschied, und die Differenz beträgt nur fünfzig Mark. Um diese Zeit ist die zweite Klasse wirklich leerer.«

Und er sagte tiefsinnig: »Manchmal trifft man auch in der zweiten Klasse einen Bekannten, mit dem sich ganz gut plaudert ...« Da unterbrach er sich plötzlich und sagte: »Außerdem wollte ich vielleicht eine Ihnen angetane Taktlosigkeit wiedergutmachen –«

»Mir gegenüber waren Sie doch nicht taktlos.«

»Aber sicher – habe ich Ihnen nicht zu einer Zeit, als ich Sie selbst noch für einen Bürger der zweiten hielt, gesagt, daß die besser erzogenen Menschen in der dritten Klasse fahren? Angenommen, ich hätte recht damit, so wäre es eine Anmaßung von mir, nachdem ich das gesagt habe, noch dritter zu fahren. Ich muß es auf mich nehmen, und ich werde in Zukunft nur zweiter nehmen.«

»Nein, mein Freund, Sie haben ein Recht auf die dritte. Als wir nämlich den Bahnsteig verließen, sah ich genau, daß Sie dem Schaffner eine Karte zweiter überreichten. Sie hatten das mit der dritten Klasse nur gesagt, weil Sie annahmen, daß ich dritter führe. Sie wollten mir eine Beschämung ersparen und bekannten sich zum begeisterten Anhänger der dritten.«

Er errötete leicht und lächelte. »Sie sind ein genauer Beobachter, vor Ihnen muß man sich in acht nehmen. Aber es ist doch wirklich ganz egal. ›Beschämung ersparen‹ ist wohl ein zu großes Wort – die Sache ist nicht der Rede wert.«

Er lächelte auf geschmeichelte Weise noch eine ganze Weile, und auch das Erröten schwand nicht sobald. Ich bin nämlich wirklich ein genauer Beobachter, und die Karte, die er abgegeben hatte, war tatsächlich eine – dritter.

April 1923

Die Nase der Sphinx oder Wie wir Berliner so sind

Подняться наверх