Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Paul Craig - Страница 274

b) Die Ausübung administrativer Gewalt

Оглавление

76

Das Verwaltungsverfahren, also die Gesamtheit der Vorschriften, die den Erlass administrativer Akte regeln, ist in Frankreich traditionell nicht kodifiziert. Obwohl an diesem Punkt zwei wichtige Anliegen der Regierenden zusammentreffen – nämlich einerseits der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, der insbesondere in einer Verbesserung des Zugangs der Bürger zum Recht Ausdruck findet und in dessen Lichte Zugänglichkeit und Verständlichkeit des Gesetzes zu Zielen mit Verfassungsrang erhoben worden sind,[82] sowie andererseits die Modernisierung des Staates, in deren Mittelpunkt die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und administrés steht –, hat es lange gedauert, bis die Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens auf die Agenda gerückt ist, nur um dann schließlich doch ausdrücklich aufgegeben zu werden.[83] Dieses Schicksal der Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens illustriert das konfliktbeladene Verhältnis zwischen Kodifikationsidee und französischem Verwaltungsrecht besonders deutlich. Mehr noch: Es zeigt; dass das Verwaltungsverfahren als Opfer der Aufwertung des Richters zum überlegenen Beschützer der Rechte der administrés gegenüber Verwaltungswillkür als eigener Untersuchungsgegenstand lange vernachlässigt worden ist.[84] So werden Verfahrensgarantien zum Schutz Privater wie etwa die Entscheidungsreife (maturité des décisions administratives) häufig unter dem negativen Begriff „procédure administrative non contentieuse“ zusammengefasst. Freilich bedeutet diese Vernachlässigung des Verwaltungsverfahrens nicht, dass es keine Regelungen gibt. So zielt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Verfahrensrechte, die auch im französischen Recht anerkannt sind, wenn sie in Art. 41 das „Recht auf eine gute Verwaltung“ proklamiert, das insbesondere das Recht, gehört zu werden, das Recht auf Zugang zu den Akten und die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen, umfasst.

77

Auch wenn die Verfahrensregeln, die sich auf den gesamten Entscheidungsvorgang beziehen, um Qualität und Effektivität des Verwaltungshandelns zu gewährleisten, ein einheitliches Ziel verfolgen, nämlich die Verwaltungsbehörden in Anhörungen und Untersuchungen mit den nötigen Informationen zu versorgen und gleichzeitig in einem kontradiktorischen Verfahren die Rechte der Gegenseite zu berücksichtigen, sind ihre Quellen vielfältig. Ebenso wie es kein allgemein anwendbares Regelungsregime für den Erlass von Verwaltungsakten gibt, existieren so viele Arten von Verwaltungsverfahren wie Arten von Verwaltungsentscheidungen – u.a. Entscheidungen durch den Präsidenten der Republik und den Premierminister, Verhängung von Strafen, Entscheidungen durch Kollegialorgane, stillschweigende Entscheidungen, Vergabe öffentlicher Aufträge. Ganz unabhängig davon, dass Rechtsprechung und Verwaltung selbst als traditionelle Quellen von Verfahrensregeln nicht versiegt sind, existieren unter dem Einfluss demokratischer, europa- und speziell unionsrechtlicher Anforderungen mittlerweile allgemeine Verfahrensvorschriften in Form von Gesetzen und Verordnungen.

78

Seit langem haben Richter allgemeine Verfahrensregeln entwickelt (u.a. – auf Grundlage des Gesetzes von 1905, das von den Beamten die Mitteilung des Akteninhalts verlangte – Verteidigungsrechte, Voraussetzungen für die Durchführung einer öffentlichen Untersuchung, die Begründung des Verwaltungshandelns, Konsultationsverfahren). Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs ermöglichte der Rückgriff auf „allgemeine Rechtsprinzipien“ eine Vervielfältigung der allgemeinen Verfahrensregeln, die zu einer zunehmenden Beschränkung der Verwaltungsbehörden führte.[85] Dazu gehören insbesondere der Grundsatz der Unparteilichkeit, der Grundsatz der Anfechtbarkeit jeder Verwaltungsmaßnahme in einem Beschwerdeverfahren und der Gleichheitsgrundsatz. Verfahrensregeln, die auf einem allgemeinen Rechtsprinzip basieren, beanspruchen allgemein Geltung. Gleiches gilt für die seit den 1970er-Jahren entstandenen Gesetzestexte: u.a. das Gesetz über die Begründung von Verwaltungsakten (vom 11.7.1979), das Gesetz über den Zugang zu Verwaltungsdokumenten (vom 17.7.1978) und das Gesetz über die elektronische Datenverarbeitung (vom 6.1.1978). Die Idee, dieses Ensemble von Regeln in einem Textkörper zusammenzufassen, ist fortgeschritten. An die Stelle des gescheiterten Verwaltungsgesetzbuchs ist dabei wohl die Idee einer Art „Nutzer-Charta“ getreten. Spuren finden sich im Dekret vom 28.11.1983 über die Beziehungen zwischen der Verwaltung und den Nutzern, auch wenn dieser Text das Scheitern des ambitionierteren Projekts einer „Charta der Beziehungen zwischen der Verwaltung und den Nutzern“[86] dokumentiert, sowie ferner im wichtigen Gesetz vom 12.4.2000 über die Rechte der Bürger in ihren Beziehungen zur Verwaltung, das ein weites Feld von Verfahrensregeln bestellt. Schließlich wird die angesichts des Fehlens eines Gesetzbuchs oder einer Charta bestehende Lücke im französischen Recht durch einen Ersatz rein privaten Ursprungs geschlossen: Auf Grundlage eines vom Kodifikationsausschuss (Commission supérieure de codification) 1988 beschlossenen Entwurfs ist ein ausgezeichneter Code de l'administration (Verwaltungsgesetzbuch) erschienen, der einen Abschnitt über die Beziehungen der Verwaltungen zu den Bürgern enthält.[87]

79

Als Antwort auf Korruption und unionsrechtliche Vorgaben hat sich das Verwaltungsvertragsrecht seit den 1990er-Jahren weiterentwickelt. Durch die Gesetze zur Korruptionsprävention und zur Gewährleistung von Transparenz bei der öffentlichen Auftragsvergabe sowie Gleichheit der Bewerber in wettbewerblichen Strukturen ist das Vertragsrecht komplexer geworden, ohne dass es sich grundlegend geändert hätte. Das Unionsrecht hat hier vom französischen Recht, das bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierte Regelungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge kennt, Impulse empfangen. Auch wenn die bestehenden Regelungen in dieser Entwicklung verbessert worden sind, etwa durch Schaffung und Umsetzung einer Richtlinie über den Rechtsschutz vor der Zuschlagsentscheidung, geht eine gewisse Kontinuität der Lösungen doch verloren. So bestehen heute für verschiedene Vertragskategorien unterschiedliche Regelungen wie etwa der Code des marchés publics (Gesetzbuch der öffentlichen Aufträge), der 2006 novelliert wurde, oder die Regelungen im Gesetz vom 29.1.1993 über Verträge zur Übertragung von services publics.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen§ 75 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Frankreich › III. Verwaltung und Demokratie

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх