Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 11

7. Dora und ihre Lieben

Оглавление

Sie war bereits vor geraumer Zeit aufgewacht, als er irgendwo heftiger bremsen mußte, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Sie liebte die Augenblicke, in denen sie ihn beobachten konnte, ohne daß er es merkte. Einmal verriet sie es ihm, und er wunderte sich: Ob sie nicht daran genug hat, wenn sie ihn auf der Bühne sieht? Natürlich sagte sie ihm nicht, daß sie auf ihn immer dann am meisten eifersüchtig war, wenn er in fremde Kleider und Schicksale schlüpfte, wo ihr von ihm nichts mehr gehörte.

Hätte ihr jemand vor zehn Jahren gesagt, sie würde sich von früh bis spät mit der Frage quälen, ob sie geliebt werde, würde er bei ihr sorgloses Lachen ausgelöst haben, für das sie alle um so mehr mochten, als es ihre fast unirdische Schönheit menschlich machte. Mit ihrem klaren Antlitz und dem streng geknoteten dunklen Haar schien sie den großen Frauen des tschechischen Risorgimento ähnlich. Dora glaubte damals, sie sei geboren, um geliebt zu werden. Weil sie aber auch von guter Natur war, mißbrauchte sie das nicht, quälte nicht ihre zahlreichen Verehrer, spielte nicht mit ihnen; sie wußte sie davon zu überzeugen, daß sie sie achte, selbst wenn sie nicht mit ihnen schlafen wollte. So wurden sie nicht zu Feinden, sondern zu Kameraden.

Den Vater hatte sie so früh verloren, daß es sie noch nicht verletzen konnte, und die Mutter hat ihn erfolgreich ersetzt: Bei aller Liebe wurde sie auch zu einer Autorität für sie. Ich habe mich daran gewöhnt, gab Dora einst Milan zu, in jeder Situation einen Schirm über mir, unter mir ein Netz und vor mir jemanden zu haben, der mir rät, wie und wo den Fuß hinzusetzen. Doch begann sie daran erst bei ihm zu leiden, denn anders als die meisten Halbwaisen hat sie dank der Mutter eine heitere und harmonische Jugend verbracht.

Das erste, was zwischen die beiden trat, war die Augustnacht 68, als sie als eine der ersten in Prag vom Motorenlärm russischer Flugzeuge und Panzer geweckt wurde. Sie wohnten in der Nähe des Flughafens und kriegten die Okkupation aus erster Hand mit. Doch während Dora in gerechtem Zorn entflammte, weil sie, wie ihre ganze Schule, dem scheuen Pierrot die Daumen hielt, den Millionen, obwohl er der höchste Politiker des Landes war, Saschenka nannten, atmete die Mutter beinahe auf. Der Verlauf des turbulenten gesellschaftlichen Prozesses, «Prager Frühling» genannt, erfüllte sie mit steigender Angst, dadurch könnte alles zunichte gemacht werden, wofür Generationen gekämpft hatten.

Doras Familie konnte man mit Recht eine kommunistische Dynastie nennen. Der Großvater, ein berühmter Anwalt der Armen, bezahlte dafür mit seinem Leben unter dem Fallbeil der Nazis; so fühlten sich seine beiden Kinder verpflichtet, die Worte des alten Arbeiterliedes in die Tat umzusetzen, «Wenn wir alle fallen sollten, stehen neue Kämpfer auf». Sie traten bereits in den ersten Nachkriegstagen in die Partei ein, und nach ihren eigenen Worten «folgten wir ihr, wohin immer sie uns schickte». Da sie aber des Vaters Aufrichtigkeit geerbt hatten, wählten sie den Weg des stärksten Widerstands, auf dem Knochenarbeit und Konflikte sie erwarteten.

Ihr Name Javor hat Gewicht gehabt und sie beide das notwendige Quentchen Glück, so daß ihnen manches gelang. Die Mutter wurde Leiterin der Personalabteilung eines großen Verlagshauses, das als erstes mutig damit begann, moderne Weltliteratur herauszubringen. Der Onkel, ein Arzt, Mitglied des Stadtkomitees der Partei, bemühte sich erfolgreich, den Sumpf im Gesundheitswesen auszutrocknen. Ein tragisches Ende nahm allein Doras Vater, Mutters Liebe und Kommilitone aus gemeinsamem Jurastudium. Er leistete gerade seinen Grunddienst, als die heimische Armee ein Kontingent nach Korea zur Kontrolle der Demarkationslinie des Waffenstillstands entsenden mußte. Er hatte den Parteiauftrag angenommen, zog die maßgeschneiderte Uniform eines falschen Leutnants an und trat gleich beim ersten Inspektionsgang auf eine echte Mine. Von ihm blieb nur ein schmales Bändchen Gedichte, ebenso aufrichtig wie später peinlich, als sich die besungene Zeit als eine Epoche der Lüge und des unschuldig vergossenen Bluts erwies.

Doch die Gegenwart bemühte sich, das schlimmste Unrecht gutzumachen, Dora wirkte wie ein Sonnenkind, und niemandem wäre eingefallen, sie für die Vergangenheit mitverantwortlich zu machen, die auch das Siegel ihres Familiennamens trug. Sie kam als erste darauf zu sprechen, als die Mutter die Richtigkeit der politischen Erneuerung bezweifelte. Dora, tief getroffen von den Tag für Tag enthüllten Ungeheuerlichkeiten, begangen unter dem Banner der gerechtesten aller Revolutionen, fragte sie, ob nicht auch sie sich schuldig fühle. Nein! erklärte die Mutter kategorisch, höchstens betrogen. Dora sollte sich in ihrer Wohnung und ihrem Leben umsehen, da finde sie nichts, was nicht ehrlich erworben worden sei. Ihr Großvater und Vater bezahlten ihre Überzeugung mit dem Leben, und die Idee, für die sie gefallen sind, ist so lebendig und notwendig wie früher, die Mehrheit der Menschen dieser Welt stirbt doch noch immer an Hunger! Dora sollte sich umschauen und betrachten, wer am meisten nach Demokratie ruft!

Sie gehorchte und sah eine ganze Reihe Typen, die der Mutter recht gaben, doch die Sympathie für Dubček, mit seinem entwaffnenden, scheuen Lächeln und seinem natürlichen Anstand, wuchs in ihr, und der Einmarsch der fremden Armeen, Deutsche darunter, schrie zum Himmel. Die Mutter erlebte, wie ihre Argumente versagten, und hat damals zum erstenmal ein Machtwort gesprochen.

«Du gehst mir zu keinen Demonstrationen mehr! Du bist eine dumme Fünfzehnjährige, die jeder an der Nase herumführen kann, und darum bleibst du daheim. Wenn du mal achtzehn bist und es verdauen kannst, kannst du deinen Namen ändern lassen!»

Für Dora war auch Friedfertigkeit bezeichnend, ein Kaninchen ist im Vergleich mit dir ein Tiger! pflegte Milan zu sagen, anfangs eine Liebeserklärung, erst später ein Vorwurf, mit dem er auch ihr scheues Kind erziehen wollte. Bis jetzt aber mußte Dora um nichts kämpfen, alles hat ihr Lächeln in Ordnung gebracht oder die Mutter geregelt. Darum hat sie auch damals stumm nachgegeben und dachte das Ihre dabei. Die Begeisterung des berühmten Jahres ist übrigens schneller verraucht, als sie aufgeflammt war, und Dora konnte nur staunen, wie die lautesten Erneuerer in ihrer Klasse plötzlich Hals über Kopf den neuen Machthabern hinten hineinkrochen. Da hat die Mutter unbestreitbar recht behalten. Sie selbst ging wieder einmal den schwierigsten aller Wege.

Da sie an dem Prozeß, der nunmehr Konterrevolution hieß, nicht teilgenommen hatte, gehörte sie automatisch zum «gesunden Kern» der Partei, der von der Schraube der Repressionen nicht erfaßt wurde. Mit Hilfe des Namens, der wieder Klang hatte, versuchte die Mutter diesmal, die Ausschreitungen der Gegenseite zu verhindern. Noch ehe Dora das richtig einschätzen konnte, lernte sie Milan Čech kennen.

Eine Klassenkameradin vom Sprachinstitut, die er vernaschen wollte, bekam von ihm zwei Karten für den «Hamlet», und sie lud die von allen geliebte Dora ein, um ihre tolle Errungenschaft vorzuführen. Dora hatte das Stück schon vorher gelesen und gesehen, aus anderen Vorstellungen kannte sie auch den Darsteller, den Senkrechtstarter der Nachaugustära. Sein wie zerstreut wirkender Hamlet, außerstande, die uferlose Brutalität menschlichen Machtstrebens zu begreifen, sprach sie an wie bisher kein Mensch in ihrem Leben; sie hatte das Gefühl, er betrete direkt ihre Seele.

Obwohl sie von geselligem Wesen war, mied sie Premierenfeiern, sie wollte sich den Eindruck nicht damit verderben, daß sie Personen eines guten Stücks entzaubert sieht. Diesmal ging sie gerade deswegen hin. Sie wollte sich bestätigen lassen, daß zwischen dem Helden und seinem Darsteller Welten liegen und ihre Verzauberung ausschließlich dem Dänenprinzen galt.

Die Feier war schon längst feuchtfröhlich geworden, nur er kam und kam nicht. Doras Freundin Lada hat seinen Kollegen geglaubt, eine neue hätte sie ausgebootet, die ihn in seiner Garderobe abgefangen hat. So lag sie beschwipst kurz darauf in den Armen des Horatio. Dora verließ gerade den Club, als er eintrat, bleich wie der Tod. Ohne Hintergedanken fragte sie ihn, ob sie ihm irgendwie helfen könne.

«Bitte, bitte, ja», antwortete er, sobald er sie wahrnahm, «könnten Sie mit mir irgendwo eine Weile schweigen?»

Sie verstand das als Aufforderung, ihn in Ruhe zu lassen, doch er war schon mit ihr am Weggehen und wischte mit einer Handbewegung den Beifall weg, der jetzt zu seinen Ehren aufbrauste. Draußen hakte er sich bei ihr ein und führte sie zu seinem gelben kleinen Fiat um die Ecke.

«In allen Kneipen ringsherum sitzen jetzt diese fürchterlichen Leute, die alles auf der Welt in einen Brei zerkauen. Fahren wir ein bißchen durch die Luft, ja?»

Er brachte sie auf den Vyšehrad, sie machten einen Rundgang durch die verlassenen Schanzen der alten Festung, und er erzählte ihr von den Seinigen, die dort hinter der Friedhofsmauer lagen. So erfuhr sie, daß den Namen Čech eine andere berühmte Dynastie führte, von der sie noch nie etwas gehört hatte, obwohl sie seit Generationen die Bau- und Bürgermeister der Prager Bezirke Vinohrady und Vršovice stellten. Dann kletterten sie ein bißchen waghalsig den Felsen hinab zu dem Horymír-Sprung, wo er sein Sakko ausbreitete und ihr vorschlug, sich neben ihm zu lagern und ihren Kopf auf seinen Arm zu legen. So, während über ihnen die Sternenuhr langsam weiterlief, schilderte er ihr, wie er nach vergeblichen Versuchen, Architektur zu studieren, was ihm als «Millionärssöhnchen» nicht gelang, vor Verzweiflung bei einer Schmiere landete und bis zum Ende seiner Tage in Klattovy versauert wäre, hätte es da nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit einem von den Deutschen hingerichteten Parteihelden gegeben, über den gerade ein Film gedreht werden sollte.

«Sobald ihr mir einen Kommunisten liefert, der dem Fučík nur halb so ähnlich sieht, kriegt er die Rolle!» erwiderte der Regisseur und Staatspreisträger listig auf die heftigen Einwände der ewigen Kaderreferenten, «bis dahin hat sie der Čech».

Er durfte spielen, und es ist ein ganz anständiger Film entstanden, der jedoch vor allem deshalb ein Erfolg wurde, als sich herumgesprochen hatte, daß darin ein junger, sie soll entschuldigen, daß es so eitel klingt, aber so war es eben! Gerard Philippe spielte; auch Dora hat es damals so gehört, sich den Film aber gerade deswegen nicht angeschaut. Nach einem Jahr übernahm ihn das Nationaltheater, was ihm, gab er vor ihr zu, so in den Kopf stieg, daß er eines Nachts da oben die Friedhofsmauer überkletterte und seinen Ahnen aus seiner ersten Rolle rezitierte, woran sie ihn heute glücklicherweise hindere.

Vieles hat er von sich preisgegeben in dieser Nacht seines Triumphs, und ihr gefiel, daß er von sich selbst kritisch zu erzählen wußte, und auch, daß er die Situation nicht zu anderen Vertraulichkeiten ausnutzte, die das Einzigartige der Nacht nur zerstört hätten. Er schlief für eine Weile neben ihr ein, und sie verliebte sich offenbar währenddessen: Sie wurde unglücklich bei der Vorstellung, ihn bald wieder zu verlieren.

Als er sie mit seinem gebrauchten Fünfhunderter vor das Haus fuhr, nahm er ihre Hand in die seine und sagte.

«Dora, ich habe bis heute keine Frau getroffen, die gleichzeitig so schön, so gescheit und so gutherzig wäre. Und darum möchte ich Sie, noch bevor die schlechten Kritiken erscheinen, schnell fragen: Möchten Sie mich nicht heiraten?»

Sie faßte das als Scherz auf und erwiderte im gleichen Ton, sie würde, falls die Kritiken tatsächlich schlecht sein sollten... Sie schlief mit dem Gefühl ein, daß dieses theatralische Kompliment die einzige Taktlosigkeit war, die ihm unterlaufen ist, leider... Am übernächsten Morgen kam ein Brief, in dem er seine Frage wiederholte, wie er schrieb, in gebührender Form. Sie gab ihn verwirrt der Mutter zu lesen und war unangenehm überrascht, wie eben diese Worte deren Unwillen erregten. Sie versuchte vergeblich, ihr zu erklären, die Rückkehr zu alten Manieren sei eine Reaktion der Jungen auf die Ära der verlogenen Volksbiederkeit.

«Ein Herrschaftssöhnchen!» so urteilte die Mutter, «aufgeblasen, verwöhnt und egoistisch. Halt ihn dir vom Leib, sonst zahlst du schrecklich drauf.»

Vom Leib aber hielt sie seltsamerweise er, obwohl sie ihm bald nichts verweigert hätte. Bereits beim zweiten Rendezvous erklärte er ihr, warum er sie erst in der Hochzeitsnacht lieben möchte.

«All die Mädchen und Weiber, die mich für sich ausgesucht haben», erklärte er, als hätte er über sie auf der Bühne ein Todesurteil zu fällen, «waren nur bessere Flittchen. Du bist eine Königin! Dich habe ich für mich ausgesucht, und darum mußt du wissen, daß es da für mich einen Unterschied gibt.»

Dieser Satz hat sie in den siebten Himmel gehoben, als höchste Auszeichnung, die er ihr verleihen konnte. Erst später, in Situationen, in denen die gleichen Worte die Nichtigkeit seiner Untreue beweisen sollten, wurde daraus eine immer peinlichere Phrase.

Obwohl sie seinen Besuch bei ihrer Mutter lange mit ihm geprobt hatte und er versprach, sich dabei noch klassenbewußter zu benehmen als der selige Fučík selbst, kam es dennoch bereits nach einer halben Stunde zum Streit. Die Schuld lag eindeutig bei der Mutter, die alle ehemaligen Bürgermeister der Prager Gemeinden Lakaien kapitalistischer Blutsauger nannte.

«Gnädige Frau», erwiderte er, sich aus dem jungen Kommunisten in Büchners Camille Desmoulin unter der Guillotine verwandelnd, «meine Leute haben dieser Stadt gewiß besser gedient als die Ihren, die hierher Tyrannen, Henker und Panzer gerufen haben.»

Nach ihrer wütenden Tirade, die er höflich zu Ende angehört hat, gab er ihr mit der Eleganz eines Mercutio, den er bereits in Klatovy spielte, den letzten Stoß, als er sich erhob, sich verbeugte und sagte.

«Alles, was ich noch bei Ihnen einklagen könnte, verblaßt vor dem Geschenk, das Sie Böhmen und mir mit Dora gemacht haben.»

Er küßte Doras Hand und ging.

«Was für ein Recht hat er», schrie die Mutter noch lange danach, «in unserem Nationaltheater aufzutreten?»

Als Dora begriff, daß die Mutter dabei war, zum erstenmal ungerecht zu handeln, verwandelte sie sich vom Kaninchen zum Tiger, für dieses eine Mal.

«Wenn ihr es damals auch noch so gut gemeint haben solltet, Mami, eure Wahrheit hat eine Unmenge Menschen ins Unglück gestürzt. Schadet sie jetzt auch ihm, wirst du nie mehr von mir hören.»

Sie versöhnten sich freilich, aber der Zustand früherer Vertraulichkeit kehrte nicht wieder ein. Zur Hochzeit kam die Mutter, sprach über nichts und wieder nichts mit der Elite des tschechischen Schauspielertums, der sie nicht verzieh, wie feige sie in der Krisenzeit die Partei verließ; sie begrüßte sich freundlich mit den überraschend alten Eltern des Bräutigams, die Jahrzehnte der Ungnade zu einem mit allem versöhnten Rentnerpaar plattgewalzt haben und die nun über den unerwarteten Erfolg ihres späten Sprosses mehr Furcht als Freude empfanden. Zu Milans Premieren ging sie grundsätzlich nicht. Eine Wiederannäherung bewirkte erst Petřík, ihr Peterchen.

Auf das seltsam verschlossene Kind übertrug sie alle Liebe, die sie früher für die Tochter empfand. Milan sah das nicht gern, und seine Ausfälle gegen die Schwiegermutter haben längst jegliche Eleganz eingebüßt. Je mehr sich die Streitigkeiten mit Dora häuften, die er selbst provozierte, ich kann deine waidwunden Augen nicht mehr ertragen! um so verletzender wurde das Vokabular, mit dem er ihr bewies, woher sie wohl diese völlige Unempfindlichkeit hatte gegenüber den «innersten Antrieben eines Künstlers, der täglich in das Tiefste des menschlichen Seins hinabsteigt», wie er es kurz davor in einem Interview formulierte.

Dennoch, allen Eskapaden mit Kolleginnen und Verehrerinnen zum Trotz, liebte er sie offensichtlich über alles. Während der neuneinhalb gemeinsamen Jahre kniete er dreimal vor ihr und hat echt geweint, als er sie beschwor, ihn nicht zu verlassen, er könne vielleicht ohne gelegentliche Sinnesverwirrungen Theater nicht spielen, doch ohne sie könnte er überhaupt nicht leben, Untreue ist etwas wie ein Schnaps im Stehen, du bist ein feierliches Gefolge! Und er war es, der sie darum bat, Petřík für ein paar Tage bei der Mutter zu lassen, und schleppte sie dann Nacht für Nacht, ja sogar zwischen den Proben, durch die Kneipen und über die Hügel rings um Prag wie am Anfang ihrer Liebe.

Jeder neue Verrat hat sie dann um so mehr getroffen.

Der letzte so tief, daß sie bereits ihre Koffer gepackt hatte und sich die Kraft zumutete, den schlimmsten Weg anzutreten: Zurück zur Mutter, die sie vor ihm gewarnt hatte.

«Du hältst mich hier nur noch aus Eitelkeit!» mit diesem einen Satz machte sie Schluß mit ihm, «und das ist gemein!»

Er brauchte eine ganze Nacht, bis er ihr verächtliches Schweigen durchbrach. Wie immer schloß er die Wohnung ab und nahm die Schlüssel an sich, bis er sicher sein konnte, die Herrschaft über sie wieder gewonnen zu haben. Diesmal kam er ihr mit einem ganz neuen Vorschlag: Er lebe hier in der Gefangenschaft eines Stereotyps! er wiederholte dieses Wort unentwegt, als hätte er es soeben entdeckt, sein Leben bewege sich in einem abgeschlossenen Kreis und so stürze er immer wieder in die gleiche Falle.

Überdies deprimiere es ihn, in der ewigen Lüge zu leben: Gerade wollte man es von ihm schriftlich haben, daß er für die Kandidaten der Nationalfront stimmen wird, es würde genügen, wenn er ein paar unschuldige Sätze über Frieden und Kinder unterschreibt, die ein Journalist für ihn zusammenbastelt, Sie waren doch damals, es klang drohend! so plötzlich erkrankt, als die Künstler den Protest gegen die verräterische Charta 77 unterschrieben, höchste Zeit also, sich wenigstens jetzt zum Sozialismus zu bekennen! Zum Kotzen, aber wenn er ablehnt, verliert er die wenigen klassischen Rollen und wird nur noch jede Scheiße spielen müssen. Nein! er ist dafür, auch ihretwegen, sich von alldem mit einem Schlag zu befreien: Weg nach Amerika!

Jawohl! Sein ganzes Leben lang lernte auch er Englisch, ganz für die Katz, jetzt könnte es das Pfund sein, das ihm Zinsen bringt. Er ist im Christusalter, wo man entweder bis zum Tod unter dem Kreuz bleibt, oder man rafft sich zu einer Tat auf. Im tschechischen Theater kann er nicht mehr werden als die Nummer eins, also bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Weltbühnen zu versuchen, was so manche heimische Schauspieler probierten, aber keiner hat es geschafft. Er aber, mit ihr gemeinsam! er schafft es, ja mehr noch: Diese Aufgabe wird sie beide zwingen, zu den Quellen ihrer Beziehung zurückzukehren, während Petřík in einem freien Land heranwächst.

So redete er und bat und bettelte, und nach langer Zeit weinte er wieder, bis sie die Koffer auspackte, vor allem aus Rücksicht auf Petřík, den Milan nicht einmal zur Schule gehen ließ und der mucksmäuschenstill in seinem Zimmer saß... ein Kaninchen ist im Vergleich mit ihm ein Tiger, dachte sich Dora mit zärtlicher Wehmut und kapitulierte von neuem. Diese verrückte Idee nahm sie ebensowenig ernst wie seine anderen Versprechungen und schöpfte neue Kraft für die nächste Runde.

Dann aber erschien der Artikel, dem er schließlich zustimmte, leider gerade dann, als man einige kritische Künstler in den Knast schickte. «Ich gehe zur Wahl», schrieb man für ihn, «damit mein kleiner Sohn ein glückliches Leben im Sozialismus führen kann.» Die Sympathien, deren er sich bislang fast uneingeschränkt erfreute, verkehrten sich über Nacht in Spott und Zorn, er bekam ins Theater einen Stoß anonymer Briefe, und unbekannte Stimmen weckten ihn und auch Dora nachts aus dem Traum, um ihn trotz ihrer Geheimnummer als kommunistische Sau zu beschimpfen. Dora sah ihn zum erstenmal wirklich leiden.

Sich erfolgreich zu wehren ging nur auf eine Art, die ihn im Handumdrehn auf die schwarze Liste gebracht hätte. Damals klammerte er sich an seinen Fluchtgedanken als einzige Rettung. Und Dora, die fast dreißig Jahre lang die Heimat und die Geburtsstadt beinahe wie die Luft wahrnahm, die man überall atmen kann, erschrak plötzlich, ob sie nicht Geborgenheit gegen einen Trug im Labyrinth der Welt eintauschten.

Je näher der Tag ihrer Abreise «nach Bulgarien» kam, um so mehr wurde ihr bewußt, daß ihr die stillen Winkel der Gäßchen, der Blick aus dem Fenster, Geräusche, Gesichter, der Sonnenuntergang hinter dem gegenüberliegenden Dach, die Überfülle von Details, die sie früher kaum beachtet hatte, gefährlich ans Herz wuchsen; jetzt kamen sie ihr wunderschön vor, einzigartig und fast unentbehrlich. Dies alles, sagte sie sich, ist die Bühne, die uns formte, Milan und mich, keine wechselnde Scheinkulisse, sondern ein festes System von Wahrnehmungen, dem verdanken wir unser Denken und Empfinden. Wie wird sich ohne das alles Petřík entwickeln...?

Milan klammerte sich an die Vorbereitungen dieses Unternehmens mit verbissener Leidenschaft, so wie er sich in die schwierigsten Rollen stürzte. Während er zur Täuschung der Umgebung sich von Kollegen die Adressen von Privatzimmern in Bulgarien besorgte, dorthin schrieb und sogar eine Anzahlung schickte, büffelte er Tag und Nacht Englisch mit einem Walkman, der ihm die Lektionen ins Ohr trichterte. Ab und zu wechselte er die Kassetten, um Neugierige mit klassischer Musik irrezuführen. Er ließ im Kino keinen amerikanischen oder englischen Film aus, studierte die Technik berühmter Kollegen, deren Duktus und Gestus, wie in früheren Zeiten hielt er dabei Dora im Arm, drückte sie bei eindrucksvollen Szenen an sich und flüsterte dann beschwörend.

«Und doch sitze ich da nicht auf der Ersatzbank.»

Anders als bei den Theaterproben, wenn er sich ihr durch die immer näher kommenden Premieren mehr und mehr entfremdete und fast unzurechnungsfähig wurde, erlebte Dora diesmal, wie er sich beruhigt und zu ihr zurückkehrt, wie er wieder zu einem Ratgeber wird, zum Partner und Freund, zur Stütze und Liebe.

Darum erhob sie keinen Einwand, darum belästigte sie ihn mit keiner ihrer Sorgen und weiblichen Ängste. Sie dachte darüber nach, wie man mit drei Koffern Sommersachen möglicherweise auch durch den Winter kommen könnte, sie lernte zu Englisch auch noch Deutsch, überschüttete das Kind mit übermäßiger Zuneigung und versuchte, die Angst zu unterdrücken, ohne ein Abschiedswort, das sie nicht riskieren durfte, ihre Mutter bald verlassen zu müssen.

Um dies zu bewältigen, nahm sie all ihr Vertrauen zusammen und setzte es auf ihn.

So sah sie nun sein Profil in der matten Spiegelung der Instrumente im Armaturenbrett, der Wagen entführte sie vom Unerträglichen ins Ungewisse, sie hörte einer leichten Vormitternachtsmusik zu, wie sie mit einem Rauschen der Ferne nach wie vor von Prag ausgestrahlt wurde, und wünschte sich, dieser Augenblick möge nie enden. Seine Augen, durch Hunderte von Kilometern ermüdet, haben den Ausdruck ständiger Wachsamkeit verloren und sahen verwundbar aus... wie damals im Hamlet, erinnerte sie sich. Als hätte alle Trauer der Jahre sie plötzlich zugeschüttet, verspürte sie eisiges Erschrecken. Was erwartet uns? Da trat er heftig auf die Bremse.

«O nein...» sagte er, statt sich zu entschuldigen, fast flüsternd.

Dem Škoda saß auf der engen südungarischen Straße, die sich da vor ihnen nach Westjugoslawien bog, eine riesige Eule gegenüber. Unbeweglich, mit spähenden Augenschlitzen, die direkt auf sie gerichtet waren. Irgendwie sah sie wie ein Polizist aus, der gerade den Verkehr stoppt.

«Was ist das...?» sagte der Schauspieler, verstummte aber gleich.

Ein paar Meter hinter dem Vogel begann eine Herde Wild die Straße zu überqueren. Zwischen den Ricken stolperte ein Zug Kitzen auf Wakkelbeinchen dahin.

«Petřík, schläfst du?»

Das Kind hat sich sofort gemeldet.

«Nein, Papi.»

«Siehst du es?»

«Ja...»

«Schau doch, du siehst das vielleicht nie wieder! Ein wahrhaftiger Sommernachtstraum!»

«Ja, Papi...»

Der immer wie verscheucht klingende Ton des Sohnes, der ihn so oft reizte, denn er sehnte sich nach einem Kumpel, wie er selbst es war, hat ihn in diesem Augenblick seltsamerweise berührt. Es wurde ihm klar, daß er sein Kind aus vertrauter Umgebung ins Unbekannte fährt, von dem auch er nur eine papierene Vorstellung hat. Das ferne Prag hat ihm zum letztenmal geholfen, als es jetzt die Nationalhymne brachte. Er schaltete ab, ohne einen giftigen Kommentar, den er schon auf der Zunge hatte, er spürte, daß das seltsame Genre dieser Szene keine Plumpheit verträgt. Dem Jungen wollte er jedoch eine Freude machen.

«Weißt du, was ich dir versprechen kann, Petřík?»

«Nein...»

«Die längsten Ferien von allen deinen Kameraden. Freust du dich?»

«Ja, Papi...»

Als letztes erschien auf der Straße ein majestätischer Hirsch, vielleicht ein Sechzehnender. Er verharrte in der Mitte der Fahrbahn und schüttelte herausfordernd den Kopf gegen die Scheinwerfer. Der Fahrer hupte kurz. Daraufhin streckte sich das Tier, und aus seiner Kehle drang ein Ton, der sich von der Hupe wie die Posaune von der Klarinette unterschied. Die Eule flatterte unter schwerem Flügelschlag in die Dunkelheit. Der Hirsch gab ihnen nur noch einen abschätzigen Blick und verschwand mit einem langen, anmutigen Satz im Wald.

Der Schauspieler lachte endlich, zum erstenmal seit diesem Morgen, und fuhr wieder an.

Dora wandte sich nach links und stützte ihren Kopf zwischen der Polsterung der Vordersitze ab. So konnte sie mit der Linken Petříks Finger fassen und die Rechte auf Milans Knie legen.

Meine Liebsten, flüsterte sie ihnen unhörbar zu, meine Lieben, ihr seid die Heimat, die mit mir reist.

Ende der großen Ferien

Подняться наверх