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5. Den selben Tag, 10.20

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Die uralte Tupolew der Tschechoslowakischen Aerolinien landete in Wien-Schwechat beinahe pünktlich. Die kleine Delegation des Glasimpex, auf die präzise vorbereitete Verhandlungen warteten, mit einem Weekend in Salzburg gewürzt, war jedoch nicht frohen Muts. Obwohl sie in azurblauer Luft wie in einem Fauteuil saßen, wurde ihrem Chef gleich nach dem Start übel. Er versuchte den Magen mit tiefen Atemzügen zu beruhigen, als aber das Frühstück kam, konnte er doch nicht widerstehen. Den Rest der Reise verbrachte er auf dem WC.

Seine drei Begleiter, die den Ausflug bereits auf dem Prager Flughafen mit einem doppelten grusinischen Kognak gefeiert hatten, gingen inzwischen ihrer guten Stimmung verlustig. Sie fürchteten, schon heute den Vertrag zu unterschreiben und gleich danach zurück zu müssen. Mit ihm, das wußten sie, waren sie überflüssig, ohne ihn verloren. Selbst in der Branche, wo man sich gegenseitig nicht einmal das Schwarze unter dem Nagel gönnte, konnte man kaum bestreiten: Es war vor allem das Verdienst des Ingenieurs Karel Markalous, Erfinder und Organisator, daß es mit dem technischen Glas nicht auf das gleiche hinauslief wie mit so vielen tschechoslowakischen Erzeugnissen, einst weltberühmt und heute hoffnungslos hinterm Mond.

Er war einsame, die Dunstglocke der Mittelmäßigkeit durchstoßende Spitze, und manche ahnten, um wieviel größer er noch sein könnte, hätte er nicht sein Glas unter die Füße der heimischen Elefanten blasen müssen. Darum duldete man bei ihm sogar, was anderen das Genick brechen würde, hauptsächlich seine Weibergeschichten. Zum Glück hat er nie jemandem eine abspenstig gemacht: Ihn zogen vor allem Geschiedene und Witwen an, in dem Alter, in dem auch Frauen, wie er sich vernehmen ließ, den besten Weinen ähnlich, Reife erlangen.

Er wußte Technologien zu erfinden, die es den veralteten Glaswerken möglich machten, im harten Wettbewerb mit Amerikanern und Japanern zu bestehen. Außerdem verstand er die Trends des Weltmarkts und war als einziger imstande, gute Verträge mit den richtigen Partnern zur rechten Zeit abzuschließen. Daß er mit dieser Gottespfründe in Böhmen blieb, wo sie nie geschätzt werden konnte, überraschte trotzdem nicht. Man wußte, daß er außer seinen Heißgeliebten, die ihn eben aus diesem Grunde rasch zu verlassen pflegten, nur das Glas liebt.

Sobald ein neuer Gedanke ihn überfiel, war er gern bereit, sich mitten in der Nacht ins Auto zu werfen und einen Glasschmelzer, den er gerade nötig hatte, aus dem Ehebett zu holen. Er wußte es aber reichlich zu belohnen, und die Glasfabriken konnten sich auf neue Bestellungen freuen, so daß ihn niemand dorthin trat, wohin man jeden anderen längst getreten hätte. Dies, wiederholte er jahrelang vor ausländischen Abwerbern, würde man ihm nirgendwo in der Welt erlauben, überall geht es nur ums Geld, allein in der Tschechoslowakei weiß man trotz allem noch immer, daß Glas eine Seele hat. Nur dem Glas zuliebe ist er in die Partei eingetreten, damit er studieren durfte; mit dem Glas hat er sich auch in jenem stürmischen Jahr 68 beschäftigt, als die anderen nur noch Politik kannten, das Glas hat ihn sein Leben lang beherrscht und in den tristen Jahren der «Normalisierung» sogar geschützt.

Auch heute kreuzte er durch die Luft wie die erste Taube nach der Sintflut: Durch seine Unterschrift sollte er eine neue Ära einleiten. Hartnäkkig setzte er für das führende tschechische Glaswerk eine perspektivenreiche Kooperationsform durch, mit der größten Firma, die sich in Österreich mit der Entwicklung und Herstellung von hochqualifiziertem chemischen Glas beschäftigte. «Joint-venture» hieß die Zauberformel, die den Landsleuten eine stattliche Devisenspritze versprach: Sie sollten Glas nach Maß, noch dazu mit Seele liefern, während die draußen Aufträge und Rohstoffe sicherten.

Obwohl die österreichische Firma zu den verstaatlichten Betrieben gehörte und für die Tschechoslowakei den Vertrag eigentlich ein Stellvertreter des Ministers unterzeichnen müßte, haben alle die Finger davon gelassen: Man wußte nicht, was die Sowjets für ein Gesicht machen würden. Schließlich hat man es zu einem Experiment erklärt, Markalous wurde zum Direktor einer Sonderabteilung ernannt, und man beschloß, er sollte allein unterschreiben.

«Ein Wirtschaftsexperiment auf tschechisch», scherzte der Beförderte bitter, «ist wie ein Versuchstaxi, das, um die berühmte Effizienz des Londoner Taxidienstes zu testen, durch Prag unter Einhaltung aller Rechtsregeln links fahren soll!»

Daß man ihn aber so unverfroren zum Abschuß vorgesehen hatte, sicher bei dem ersten «Verkehrsverstoß», leitete eine wichtige Veränderung seines Denkens ein, was seiner Umgebung entging: Zum erstenmal stellte er sich die Frage, weshalb er hier eigentlich für eine Bande feiger Nichtskönner schuftet. Zu jener Zeit hat er Gerda kennengelernt...

«Genosse Ingenieur», flüsterte eine Stimme in sein Ohr, «wir landen...»

Er wußte von sich, daß er ein schlechter Schauspieler ist, wenigstens haben ihn die Frauen immer schneller durchschaut als er sie; nachdem er sich entschieden hatte, heute Übelkeit vorzutäuschen, verbrachte er den halben Flug lieber in der Toilette versteckt. Auch jetzt nickte er nur und hielt die Augen weiter zu.

«Geht es Ihnen ein bißchen besser?»

Er nickte matt. Štrasmajer mußte sich vor Angst winden, bei dem Gedanken, die Verantwortung für die Verhandlungen müsse er übernehmen. Obwohl er mit Rücksicht auf die Wiener Partner Markalous nur vertreten durfte, stand er zu Hause als Stellvertreter des Direktors einer staatlichen Exportgesellschaft und als Mitglied des Parteistadtkomitees hoch über ihm. Über Joint-ventures wußte er, so seine Mitarbeiter, nur soviel, daß es sich nicht um ein Kap von Afrika handelte. Die Aussicht, Markalous ersetzen zu müssen, versetzte ihn in Panik, um so mehr, da ihn gleich zwei Zeugen im ganzen Fachbereich unmöglich machen könnten.

«Vielleicht wäre es am besten, das erste Treffen auf morgen zu verlegen, damit Sie im Hotel wieder auf die Beine kommen können... oder vielleicht gleich auf übermorgen?»

Dieser Einfall war ein Kind des Gedankens, aus der Schlinge herauszuschlüpfen und sich noch den Ausflug zu verlängern. Markalous beließ ihm die Hoffnung; er nickte nochmals. Als sie ausrollten, angelte Štrasmajer erbötig nach Markalous’ Aktenkoffer, vergeblich natürlich: Drinnen lag der Schlüssel zu «Jenseits», wie Markalous ironisch und nostalgisch den Westen gern nannte. Er behielt als Talisman auch seinen abgetragenen englischen Überzieher an, erlaubte jedoch dem Jüngsten des Trios, auch seinen Koffer vom Transportband zu nehmen und ihn neben eigenes Gepäck auf den Kuli zu stellen. Währenddessen drückte er sein Taschentuch an den Mund, um sich laienhafte Mimik zu ersparen. Er kam sich schon wie ein Läufer vor dem Startschuß vor, wie er sie manchmal auf dem Bildschirm sah.

Als sie durch den Zoll die Halle betraten, erblickte er das miteinander plaudernde Empfangskomitee der Österreicher eher als sie ihn. Das kam ihm gelegen. Ganz plötzlich bat er Štrasmajer.

«Begrüßen Sie sie und entschuldigen Sie mich inzwischen, ich verschwinde mal kurz zum Klo!»

Er überließ die drei ihrem Schicksal und strebte eilig der Treppe zu, die nach unten rollte. Dort ließ er das Spiel mit dem Taschentuch sein, es war ihm schon alles egal: Er brach aus dem Startblock aus. Und aus dem gesamten Ostblock.

Die Flucht dauerte keine Minute. Er lief ganz gezielt, kannte sich hier aus, die Strecke hatte er sich wochenlang vorgestellt, wenn er vorm Einschlafen an Gerda dachte. Er ließ das WC links liegen und schoß durch den Betonärmel Richtung Parkhaus. Er riß die Stahltür auf und war in einem riesigen Raum, einem von denen, die in ihm hier im Westen die beklemmende Vorstellung der Welt nach der Bombe hervorriefen. Die Betondecke lag nur so hoch, daß darunter ein Lieferwagen durchkonnte. Einige lange Sekunden suchte er im fahlen Licht der Neonröhren ihren flotten Sportwagen. Dann quäkte eine Hupe das altvertraute Signal.

«Should all acquaintance be forgott...»

«Abschiedswalzer», wurde es in Prag genannt, jetzt aber war es eine Begrüßungsfanfare. Aus dem feuerroten Porsche stieg eine feuerrothaarige Frau in feuerrotem Kleid aus. Sie machte ihn schon auf die Entfernung hin glühend. Er roch das bekannte Parfüm, es betäubte ihn wie Opium. Schon in ihren Armen hörte er die verlockende Stimme flüstern.

«Karel... ach, Karel!»

«Gerda...!»

Und mit der tschechischen Verkleinerung, die sie so liebte.

«Gerdička...»

Die Herrengesellschaft trank an der Bar Kaffee und besprach die neuesten Ergebnisse des europäischen Fußballs. Damit war Štrasmajer mit seinem Deutsch am Ende. Als ihm klarwurde, daß ihn seine beiden Untergebenen mit ihrem bedeutungsvollen Schweigen ins Dauerabseits stellen möchten, hat er ihnen das vermasselt: Er brach selber in das Unterirdische auf, um sich als teilnahmsvoller Samariter zu erweisen. Nach einer Weile kehrte er zurück, und in seinen Augen stand Staunen.

«Er ist nicht da...» sagte er zu seinen Begleitern auf tschechisch.

«Wo ist sein Aktenkoffer?» fragte der eine automatisch.

«Den hat er behalten», flüsterte der andere.

Und je nach Naturell wurden sie blaß oder rot. Sie begriffen.

Ende der großen Ferien

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