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4. Die vier Zufallsbekannten

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Die Pianistin hat wie auf Dornen warten müssen, bis sich das laute Mädchen endlich entschied, welche ihrer allesamt fürchterlichen Blusen es zum Abendbrot überziehen würde, sich die Haare noch einmal hochtoupiert und das Gesicht übergeschminkt hat, als ginge sie zu einem Ball. Erst dann durfte auch sie so tun, als müßte sie ihr Äußeres in Ordnung bringen. Und bat die Zimmergenossin, eine hochtoupierte Kaufhausverkäuferin, die sie zum erstenmal heute morgen gesehen hatte, ihr da unten einen Tischplatz zu sichern. Erst dann konnte sie blitzartig die nächtliche Flucht vorbereiten.

Wie sie sich das augedacht und auch ihm ins Gedächtnis eingeprägt hatte, hoffentlich sitzt er bereits am Tisch, damit die gleichzeitige Verspätung keine Aufmerksamkeit erregt! hängte sie auf den Kleiderbügel ein paar abgewetzte Sachen, die sie opfern wollte. Über das Waschbekken legte sie die Reservezahnbürste und ein halbes Dutzend minderwertiger Cremes, wodurch die Szene perfekt war. Alles wirklich Wertvolle befand sich in ihrer Handtasche und dem Koffer, den sie unauffällig an der Tür abstellte. Es genügte, den Mantel vom Haken zu nehmen und weg... wenn das Mädchen, so hoffte sie, schon schläft. Daß er nicht verschlafen wird, dessen war sie sich sicher, sie bangte nur, daß es vor lauter Aufregung nicht ihr passiert.

Das kleine oberösterreichische Hotel war bei aller Schlichtheit sagenhaft sauber, mit vielen weitaus teureren, aber schlechteren in Böhmen nicht zu vergleichen. Das tat ihr wohl, als sie hinunterging. Solange sie hier konzertieren durfte, kam sie in große Städte, in denen Komfort nichts Überraschendes hatte. Das Niveau dieses kleinstädtischen Betriebs, den sich die tschechische Reisegesellschaft für ihre ziemlich billige Busfahrt leisten konnte, wirkte aufmunternd, er erschien ihr wie ein letztes Zeichen dafür, daß sie für sie beide richtig entschieden hatte.

Die Reisegruppe mußte sie nicht erst suchen, aus dem ersten Stock hörte sie einen Lärm, typisch für jeden Tschechenhaufen, sobald er die Alltagsbindungen wegwirft und sich in eine Zufallsgemeinschaft verwandelt. Sie jedoch ging nicht dem Geräusch nach, sondern in die Gegenrichtung. Der Eingangsraum, als Rezeption verwendet, war leer, auf der Theke lag eine Tastenbox mit der Inschrift Klingeln. Sie drückte und hoffte, daß keiner der Landsleute sich hierher verirrt. Sie hatte Glück, als unmittelbar darauf ein nettes Mädchen erschien, dem es nichts ausmachte, daß es offensichtlich beim Essen gestört würde. Nach all den verlorenen Jahren durfte die Pianistin nun ihr Deutsch testen, auf das sie einst so stolz war: Sie hatte den besten aller Lehrer dafür – die Liebe...

«Entschuldigen Sie, bitte, ist hier Telephon...?»

Es amüsierte sie, daß auch die andere sich um korrektes Deutsch bemühen mußte, aufgewachsen in oberösterreichischer Mundart.

«Natürlich, Sie können hier, ich schalte nur den Zähler ein.»

Sie tat das und wollte gleich wieder weg. Die Pianistin fragte schnell:

«Bleibt das Haus nachts offen? Wenn wir hinaus möchten...»

«Ihr Reisebegleiter hat die Schlüssel für alle schon geholt.»

Die Tür konnte sie also vergessen. Es gab hier aber auch ein Fenster, und das ging direkt auf den Stadtplatz. Für ihn waren die zwei Meter ein Witz! Sie wählte die Rufnummer, die sie auswendig gelernt hatte, und freute sich auf Margrits stürmischen Jubel, nachdem sie ihr die sensationelle Neuigkeit mitgeteilt haben würde, man könne sie um zwei Uhr nachts vor der hiesigen Kirche für immer abholen, sogar mit einem viel jüngeren Liebling, wie ihn gerade Margrit ihr einst empfohlen hatte. Die Freundin meldete sich jedoch bloß von einem rauschenden Gerät.

«Konzertagentur Prohaska. Sie haben Pech, weil ich gerade eben unterwegs bin, doch vielleicht auch Glück, falls ich in Ihrem Interesse reise. Rufen Sie nächsten Montag wieder an, ich freue mich schon heute darauf!»

Zuerst erschrak sie, als hätte sie entdeckt, daß sie auf einer leeren Insel gestrandet war. Erst, als das andauernde Rattern des Zählers zu ihrem Gehirn durchgedrungen war, legte sie auf und konnte wieder logisch denken. Na und? Was soll’s? Auch Margrit könnte nichts anderes tun, als sie beide gleich morgen ins Flüchtlingslager zu bringen, wo jeder, wie bekannt, ausnahmslos das Fegefeuer der amtlichen Formalitäten passieren mußte. War das nicht sogar besser, gleich allein zu zweit anzufangen, ohne fremde Hilfe? Gewinnt damit nicht das Ganze einen tieferen und deshalb dauerhafteren Wert? Wird sich vor allem er nicht besser fühlen?

Der Zähler zeigte sechs zwanzig. Verschwenderisch legte sie ein Zehnschillingstück auf die Theke und folgte zum letztenmal den heimatlichen Stimmen, um Václav durch das verabredete Zeichen mitzuteilen, nun gelte seine Ersatzlösung.

Durch die geätzte Mattglastür trat sie in das Vereinszimmer. In Zigarettenqualm gehüllt, saßen dort Männer, Bierröte im Gesicht, die ihre gute Laune erklärte. Ihn hat sie gleich erblickt, obwohl er fast verdeckt wurde von dem ausladend herumfuchtelnden Mann, der sie den ganzen Tag lang an jemanden erinnerte. Jetzt wußte sie es: an den seligen Komiker Fernandel, den dieser Schuft von Ilja so liebte, der Teufel soll ihn holen! Eben hat er sein Pferdegebiß gefletscht und gewiehert wie ein Roß. Dabei lehnte er sich nach hinten, bis er fast vom Stuhl kippte, so daß ihre Augen sich nun unbeschattet mit denen von Václav treffen konnten.

Wenn auch seine Erregung, das wußte sie, größer war als ihre, denn ihn erwartete noch zusätzlich eine ganz unbekannte Welt, strahlte sein asketisches Gesicht jene innere Ruhe aus, die sie bereits damals, bei seinem ersten Besuch, bezaubert hatte. Indem sie so tat, als suchte sie das Mädchen, das ihr einen Stuhl freihalten sollte, kämmte sie sich die Haare mit der Linken. Linkshänder war er, so erfuhr er, daß es nach ihm gehen soll.

Die Verkäuferin sah sie gleich. Sie sprang auf und setzte sich in dem Lärm mit ihrer Stimme und wilder Gestik mühelos durch.

«Hier! Heda, hallo, hierher!!»

Sie atmete auf. Sie fürchtete schon, dieses Weib hat sich vielleicht davongemacht. Die drei Blödmänner, zu denen sie sich nun absichtlich hinsetzte, um sie allesamt für ihre Sache zu gewinnen, waren, wie sie soeben mit Schrecken erkannte, in einem solchen Fall imstande, die ganze Gruppe mit Gewalt in den Bus zu stopfen und noch nachts in Budweis abzuliefern. Der Reiseleiter hat sich gleich beim ersten Treff am frühen Morgen als «verdientes Parteimitglied» vorgestellt und tat auch weiter so, als käme er direkt aus der Klapsmühle. Selbst die Pinkelpause hat er mit dem Ruf begleitet, sie müßten alle wachsam bleiben, und als der Bus im ersten österreichischen Dorf an vollgestopften Schaufenstern vorbeifuhr, griff er nach dem Mikrophon und grölte, sie sollten auf die Errungenschaften stolz sein, die in der Heimat wieder auf sie warteten.

Der zweite Knacker war um so schlimmer, als er das Mikrophon überhaupt nicht aus der Hand ließ, und wenn sie ausstiegen, blökte er weiter in eine Blechtüte. Es war ein Lehrer in Rente, aber er verlangte immer, daß man ihn mit «Genosse Lektor» ansprach. Auf der Platte saß ihm ein schlecht haftendes Toupet mit Lockenwelle, die Taschen quollen über von Broschüren, aus denen er unentwegt ganze Seiten über die Arbeiterbewegung in Österreich herunterleierte. Es war zum Verzweifeln.

Der Dritte im Bunde war der Busfahrer, vermutlich zugleich der Spitzel, der auf sie aufpaßte. Seine gut hundertzwanzig Kilo hatten ihre Bleibe vor allem in seinem Bierwanst. Das hinderte ihn kaum, sich für einen unwiderstehlichen Verführer zu halten. Unentwegt pfiff er vor sich hin und blinzelte wie verstohlen all den Frauen zu, die solo mitfuhren. Ihr persönlich hat er seine Gunst bedeutet, als er ihren Leinenkoffer im Gepäckraum nach oben schmiß, damit deine Robe nicht zerknautscht wird, wenn wir aufbrechen, im Prater das Tanzbein zu schwingen, Genossin! Oh, du meine Omi, das war der Gipfel!

Wenn sie sich trotzdem zu diesen Typen hinsetzte, hatte das seinen guten Grund. Nie hätte sie gedacht, daß fünfzig Erwachsene sich das gefallen ließen wie dieser Verein. Die Bezeichnung «Thematische Fahrt» hielt sie wie alle anderen für den üblichen Vorwand, in die Welt losziehen zu dürfen. Daß sie aber beim ersten Ausflug in den Westen, der ihre ganzen Ersparnisse verschlang, per Schub von einem Museum ins andere befördert wurde und das gleiche Geschwafel anhören mußte wie zu Hause, nahm ihr den Glauben an die Menschheit. Angestrengt suchte sie nach einem Verbündeten, bis sie ihn in der Indianerin fand.

So nannte sie für sich dieses Weib, das inmitten der geschmacklos aufgetakelten Muttertypen selbst in dem einfachen, aber eleganten Sommerkleid geradezu exotisch wirkte, auch dank der gewaltigen Make-up-Schicht, die sicher ihre Falten zuklatschte. Auf jeden Fall sah sie für ihre vierundvierzig, die Verkäuferin warf an der Grenze ein schnelles Auge auf die Liste in der Hand des Reiseleiters, ganz passabel aus, vor allem dank ihrer Figur. So gut sogar, daß sich in sie sowohl der Dauerquatscher wie auch der Schnüffelbauch verknallt hatten. Deshalb hängte sie sich an sie und konnte leicht an den gemeinsamen Zimmerschlüssel gelangen. In der Schar ausgedörrter Glucken und überfälliger Mastgänse war auch der Indianerin keine bessere Wahl geblieben.

Nur darum ging es der Verkäuferin: schnellstens die Wiener Boulevards zu erreichen, von denen sie so viel gehört hatte, und ihren Plan auszuführen. Nein, sie war nicht auf den Kopf gefallen wie die Behämmerten, die so hastig abgehauen waren, kaum daß sie das erstemal dem Käfig entflogen, um dann in Flüchtlingslagern dahinzusiechen und mit Kerlen unterzugehen, die gerade zur Hand waren. Sie hatte die Klügeren vor Augen, die sich zunächst einen richtigen Mann geangelt und ihn um den Finger gewickelt hatten, so daß er ihnen durch die Hochzeit die Welt zu Füßen legte; das verschaffte ihnen die Möglichkeit der steten Rückkehr zu Muttilein, na, und auch zu den tschechischen Jungs natürlich, die ihnen selbst das bißchen ersetzten, was sie durch den Heimatwechsel entbehrten.

Die Verkäuferin stand im Briefwechsel mit einer alten Busenfreundin, in Australien verheiratet, die ihr einmal zwar abgetragene, aber noch immer so kühne Modellkleider geschickt hatte, daß man da nur zu Hause reinschlüpfen konnte, wenn man nicht vom erstbesten Bullen als Spionin oder Nutte kassiert werden wollte. Das wahrlich leuchtende Beispiel aber war für sie Jarina Jiráková. Die stinknormale Göre, mit der sie einmal einen Gemeinschaftsurlaub in der Dedeärr durchgealbert hatte, hatte sich gleich im Anschluß den vielleicht reichsten aller Amerikaner ergattert, dem Hotels, Spielkasinos und Wolkenkratzer gehörten. Die alten Jiráks folgten der Tochter, noch ehe die Zurückgebliebene sich die Adresse verschaffen konnte.

Darum war sie ausgereist und hatte nun diese Indianerin nötig, die gewiß in allen Sprachen brabbeln konnte, als sie sich durch ganz Europa klimperte; die wird sie zur Wiener Hauptpost bringen, wo Telephonbücher liegen sollen, für überallhin. Jarina Climb! Von denen kann es in Nijork nicht so viele geben, als daß sie nicht ausfindig zu machen wäre. Und die hundert Mark, die sie schwarz gewechselt und in den BH genäht hatte, die müßten für ein Gespräch langen, in dem sie erklärt, um was es ihr geht. Daß Jarina auch diesmal die Kurve kriegt und ihr nach Budweis einen Freier schickt, so ausgewählt, daß er auf sie fliegen würde, daran zweifelte sie nicht. Und wenn er dann weich landet und erlebt, wie eine echte böhmische Buchtel schmeckt, beißt er nie mehr in etwas anderes rein.

«Na, sieh mal!» rief der Lehrer freudig aus, als sich die Pianistin zu dem letzten Vorspeisenteller setzte, «ich hatte schon Angst, ein Kapitalist hätte Sie zu was Besserem entführt!»

Der Fahrer grinste und räumte die Mundhöhle frei, die eben ein Schnitzel mampfte.

«Und ich wiederum dachte, es hätte Sie die Sudetenrache erwischt!»

Als sie nicht verstand, machte er es ihr klar.

«Man kriegt es hier manchmal busweise, es kommt von der Vollmilch. So rächt man sich an uns für den Abschub der Fritze nach dem Krieg.»

«Und was soll das sein?» fragte sie unbeholfen.

«Ganz normal, mit Verlaub, heißt es Schieteritis!»

Er lachte laut. So was Plumpes! dachte sich sogar die Verkäuferin und warf auf die Indianerfrau einen Verschwörerblick, der, was sie erfreute, zur Kenntnis genommen wurde. Die Pianistin stand im Brennpunkt des Interesses beider Verehrer.

«Er wollte schon Ihre Vorspeise wegputzen», verpetzte der Lehrer den Rivalen, «doch ich habe es ihm nicht erlaubt!»

«Hätte ich es gewollt», sagte der Fahrer kampfentschlossen, «so könnte mich keiner daran hindern, ich aber zum Glück», fügte er großzügig hinzu, «wollte nicht!»

Wüßte sie nicht, daß es nicht möglich war, könnte sie den Zweikampf der beiden ausgedienten Platzhirsche für eine Farce halten, die sie lächerlich machen sollte. So aber fiel ihr ein, daß sie in letzter Zeit tatsächlich gut aussieht. Es hat ihr geschmeichelt; sie brauchte ein bißchen weibliches Selbstbewußtsein, gerade jetzt, wenn sie den doppelten Salto mortale riskieren wollte.

«Ich danke Ihnen», sagte sie also zu den beiden und machte sich, obwohl sie gar keinen Appetit hatte, an den kalten Aufschnitt, um diesem Geschwafel zu entgehen. Nur noch diese Stunde, ermunterte sie sich, und ich habe es hinter mich gebracht, in Ewigkeit Amen.

«Ich wollte gerade den Genossen hier vorschlagen», eröffnete die Verkäuferin ihren Versuch, «wir könnten doch morgen früh direkt nach Wien fahren, oder? Die Museumser haben wir heute genug genossen, nicht, Genossen, oder wie denkt ihr darüber?»

Sie hing an der Pianistin mit geradezu flehentlichen Augen, so daß diese begriff, warum sie mit diesem Trio infernale tafeln mußte. Es war eigentlich das letzte, was sie noch wollte, doch ehe sie die Kleine enttäuschen konnte, tat es der Reiseleiter selbst.

«Genossin... Karhánková, nicht wahr?»

«Havránková!»

«Ach ja... Du mußt kapieren, daß die Mehrheit hier an anderen Sachen interessiert ist als nur an Kaufhäusern. Wir machen eine Studienfahrt auf den Spuren der Gewerkschaftsbewegung!»

«Aber ich arbeite doch in einem Kaufhaus, dort ist die Bewegung auch.»

Das Mädel ist klüger, als es aussieht, dachte sich die Pianistin. Daß sie und Václav die gleiche Reise bekommen hatten, sie durch Bestechung, er dank seiner Frau, lag jedoch gerade an der Reizlosigkeit der Ziele.

«Dann solltest du dir eine andere Reise kaufen!» das verdiente Mitglied beharrte auf seinem Standpunkt.

«Ja, und welche denn? Die besseren waren alle, ehe sie noch in die normalen Reisebüros kamen.»

«Willst du damit etwa andeuten, da sei irgendein Schmu im Spiel, Genossin Varhánková?»

«Havránková! Das wollte ich nicht, aber warum lassen Sie nicht wenigstens darüber abstimmen, wer morgen direkt nach Wien möchte?»

«Das Abstimmen ist nicht dazu da, die Beschlüsse der Mehrheit zu verändern.»

«Wann ist hier was beschlossen worden?»

Die schrille Stimme der Verkäuferin, mit der sie offenbar auch die gängigsten Informationen von sich gab, war sogar in diesem Gelärme klar zu hören. Von den Nachbartischen drehten sich ihnen die Köpfe zu, die Augen verrieten gespanntes Interesse. Der Reiseleiter schien in seinem Element zu sein und antwortete mit der Donnerstimme eines geschulten Massenredners.

«Darüber hat jeder von uns abgestimmt, auch du, eben durch den Kauf dieser Reise!»

In der still gewordenen Gaststube fragte jemand.

«Wann geben die uns eigentlich unsere Pässe zurück?»

Die Pianistin spitzte die Ohren. Mit den Pässen ginge alles wesentlich einfacher. Sollten sie soviel Glück haben? Diese Hoffnung hat der Reiseleiter gleich ausgelöscht.

«Keine Angst, Genossen, jetzt hat sie die hiesige Polizei. Es heißt, zur Anmeldung. Warum wirklich, wird man uns kaum sagen, hier sind wir nicht bei uns zu Hause, sondern im Westen, wo es von Geheimdiensten nur so wimmelt. Darum, Genossinnen, laßt die Pässe auch danach besser bei mir.»

Darauf hat keiner gemuckst, und es wurde der Schweinsbraten aufgetragen; mit dem Geklimper der Bestecke wurden auch die Stimmen wieder lauter. Die Verkäuferin begriff, daß der Widerstand in dieser Herde keinen Sinn hat, nachdem ihr nicht einmal die Indianerin beisprang. Die aber würde sie, wenn man nur so kurz in Wien sein soll, noch viel dringender brauchen. Um nichts zu vermasseln, machte sie sich mit Appetit ans Essen.

Der Mann hatte graumelierte Haare wie Stacheldraht, eine krumme Nase, und das ganze Gesicht war wie zerknautscht. Beim Essen schlürfte und schmatzte er, beim Sprechen spuckte er, aber immerhin verstand er Witze zu erzählen, er schüttelte einen nach dem anderen aus dem Ärmel, bis sich der Tisch vor Lachen bog. Bei den Pointen lächelte selbst der Gärtner, obwohl sie ihm meist geschmacklos und grob vorkamen: Er saß neben dem Erzähler und sollte mit ihm ein Doppelzimmer gerade in dieser Nacht teilen, was dem unschuldigen Mitschläfer allerlei Unannehmlichkeiten bereiten konnte. So wollte er ihm wenigstens diese Freude machen.

Der Gärtner war ein tiefgläubiger Mensch. In seinem Glauben lag auch seine Kraft: Weil er sich nur vor Gott fürchtete, hatte er vor niemandem auf der Welt Angst. Daß er dennoch nicht, nicht einmal für seinen Glauben, auf die Barrikaden ging, war keine Äußerung von Schwäche, sondern von Demut. Er hielt sich nicht für so wichtig, als daß er die Sorgen seiner Nächsten vermehren wollte, solange ihn niemand dazu zwang, seinen Glauben aufzugeben.

Er bedurfte dafür keiner sichtbaren Symbole, er war einfach ein Christ, das wußte er und mußte es nicht vorführen. Es fiel ihm also nicht schwer, die Besuche in der Ortskirche einzustellen, als ihn Věras Vater so dringend darum bat. Er hatte sich auch mit der standesamtlichen Trauung abgefunden. In allem war er der Sohn seiner Eltern, schlichte Gärtnersleute, die ihr Inneres Christus geweiht hatten und glaubten, ihm durch ein Leben in Wahrheit und Anstand besser zu dienen, als sich für ihn in der Arena von Löwen in Stücke reißen zu lassen.

Zu diesen zählte auch Věras Vater, und ein Christ in der Familie tat ihm geradezu weh. Nur daß er bei dem Ruf der Tochter nicht allzu wählerisch sein konnte. Daß sie zu guter Letzt noch einen so fleißigen und gutaussehenden Mann ergattern würde, war an sich schon ein Wunder, also versöhnte sich der Vater damit, daß er, Hauptmann der öffentlichen Sicherheit, einen Schwiegersohn aus einer bigotten, katholischen Sippschaft bekommen sollte. Er hat es von den Kameraden bei der Staatssicherheit erfahren, nachdem er ihn dort vorsichtshalber durchleuchten ließ; der künftige Eidam hatte zum Glück nicht einen einzigen Ritzer auf dem Kerbholz, was irgendwelche Aktivitäten betraf. Als er kam und um Věra anhielt, redete der Brautvater in Uniform mit ihm Klartext. Der junge Mann war so verknallt, daß er hoch und heilig versprach, sich von den Schwarzröcken fernzuhalten.

Heute wußte der Gärtner, daß er damals mehr versprochen hatte als nötig. Andeutungen seiner Umgebung entnahm er bald, daß fast jeder schon vor ihrer Hochzeit etwas mit Věra gehabt hatte. Doch ein Bestandteil seines Glaubens, so seine Überzeugung, war die Pflicht zu verzeihen, und zu den biblischen Geschichten, die ihn am meisten ergriffen haben, gehörte die von Maria Magdalena. Er mochte Věra, deshalb galt für ihn nur ihr gemeinsames Leben. Sie waren aber immer weniger zusammen, nachdem es sich ergeben hatte, daß sie keine Kinder bekommen würden, und sie wieder in das Büro der Baugenossenschaft zurückging. Mit der Zeit bekam er spitz, daß die «Prämien», die ihr Normalgehalt weit überstiegen, Belohnungen für Manipulationen der Wohnungszuteilungsliste darstellten, und er machte sich zunehmend Sorgen um sie.

«Und was ist dabei?» scherzte sie anfangs, «bei euch heißt es Ablaß, bei uns Schmiergeld, wenn man da anfangen würde, jemanden einzusperren, müßten längst alle sitzen. Außerdem ist mein Vater ein Bulle.»

Später fing sie an, ihn auf eine Art zu quälen, die ihn besonders traf.

«Eigentlich bist du ein Scheinheiliger», sagte sie, als sie sich gerade am heftigsten liebten, «anstatt zu beten, bumst du mich andauernd!»

Sie verursachte, mit Absicht, wie er heute glaubte, seine sich steigernde Unlust, sie zu umarmen. Sie war übrigens immer weniger zu Hause, die abendlichen «Baustellenkontrollen» wurden immer häufiger, was spinnst du? die Genossenschaftsmitglieder müssen tagsüber arbeiten! Auch Partys gab’s jetzt häufiger, wir müssen doch die Lieferanten motivieren! Er war bald überzeugt, daß sie ihn betrügt, doch vielmehr schmerzte ihn das Bewußtsein, daß sie ihn verabscheute. Auf der Leiter der Menschen, mit denen sie zu tun hatte, befand sich ein Gärtner auf der niedrigsten Sprosse, nicht einmal gut genug fürs Malochen: Beim Städtebau gab es für Grün weder Platz noch Geld.

Er litt darunter, und weil er in jenen Jahren auch die beiden Eltern verlor, blieb ihm außer Gott nur noch sein Beruf, und um so mehr hing er an ihm. Als Gärtner für das ehemals Rosenhainsche Schloß Klíčov gesucht wurden, ein verlorener Posten in den Wäldern, wohin niemand wollte, legte er sich ein Motorrad zu und nahm an; schon damals ging er gewissermaßen ins Exil.

Dort hat ihn an einem verregneten Samstag eine Besucherin angesprochen, die er wegen ihrer Kapuze nicht einmal richtig sehen konnte. Er wußte selbst nicht, warum er ihr versprach, am Sonntag die Hecke ihres nicht weit entfernt liegenden ehemaligen Bauernhauses zu stutzen. Er kam, schnitt und hörte dabei den ganzen Tag zu, wie sie Klavier spielte. Bei der Jause erklärte sie ihm knapp, sie halte sich bloß in Form, weil sie schon im vierten Jahr nicht auftreten dürfe. Das nahm ihn für sie ein, dazu entdeckte er bei sich ein Bedürfnis nach Musik, von dem er vorher keine Ahnung hatte. Als sie ihm sein Geld gab, fragte er scheu, ob er den Rest nicht ein anderes Mal erledigen könnte.

Heute nacht sollte er sich mit dieser Frau, die er vor einem Jahr noch nicht einmal kannte, gegen alle Gesetze versündigen; er war glücklich, daß sich kein göttliches darunter befand. Er war Věras Vater dankbar, daß er ihnen die kirchliche Heirat untersagt hatte. Seine einzige, aber um so schwerere Sorge bestand aus einem Hindernis, das er erst heute entdeckt hatte, obwohl er es hätte voraussehen können: Er verstand hier niemanden.

Als er vorhin das Zeichen auffing, daß es mit ihrer Freundin nicht geklappt hatte und somit seine Ersatzlösung dran war, traf ihn die Einsicht, daß seine Sprachunkenntnis ihm mehr zu schaffen machen würde als geahnt und er auch der zweiten Frau, die er je liebte, lästig fallen und sie verlieren könnte. Die vor ihm liegende Aufgabe war federleicht, überstieg aber trotzdem seine Kräfte. Es hat ihn so bedrückt, daß er seinen Nachbarn zuerst überhörte.

«Ich frage», wiederholte der Mensch, «schnarchst du bereits hier?»

«Nein, nein...»

Sie beide blieben allein am Tisch. Tschechen haben es sich schon längst abgewöhnt, die Nächte durchzumachen, denn der Tag war verdammt lang. Er schaute zu ihr hin. Offenbar hat sie nur darauf gewartet, denn sie stand sofort auf, das Mädchen folgte ihr. Der «Lektor» und der Fahrer versuchten vergeblich, sie zu überreden.

«Machen wir noch einen kleinen Gesundheitsbummel?» fragte den Gärtner sein Tischgenosse und stieß ihn freundlich an, «ein Bierchen vom Faß auf meine Rechnung?»

Ehe er abzulehnen vermochte, begriff er, daß ihm das sogar helfen könnte.

«Sprechen Sie Deutsch?» fragte er.

«Mit Händen und Füßen! Null Problem! Geh’n ma?»

Er war so ein Typ, der alles kann und alles weiß und jeden duzt und zufolge dem, was er am Tisch alles verzapft hatte, auch Koch und Magier zugleich, also höchstwahrscheinlich ein harmloser Schwafler, jedenfalls keiner, vor dem man auf der Hut sein müßte.

«Aber gern», sagte er; wenn einer seine Maß hat, wird er auch gut schlafen.

«Na, prima», freute sich der Nachbar und stand auf, «ich bin ein gewisser Pepa, Josef Strniště, die beste Friedensware, Ia Qualität! Der beste Beweis: Ich habe ein halbes Jahrhundert und die halbe Welt mit diesem Schrecknamen gemeistert.»

«Rada... Václav.»

«Also, Václav, auf geht’s!»

«Genossen!» rief der Reiseleiter ihnen nach, «um zehn ist Zapfenstreich, dann ist die Bude zu!»

«Um zehn horchen wir schon seit einer Stunde an der Matratze», versicherte ihm Strniště.

«Und die Koffer, gepackt, vor dem Frühstück an die Rezeption!»

Als sie auf den Stadtplatz traten, schlug die Uhr erst acht, aber weit und breit kein Mensch. Wie bei uns, dachte sich der Gärtner, nahm jedoch gleich wahr, wie hell, sauber und irgendwie gemütlich es hier war. Sein Begleiter seufzte lustvoll.

«Komm mal her, nun guck dir das an, das gibt’s doch nicht...» er lief um einen blauen Minibus herum, auf dessen Frontscheibe innen ein Zettel mit Zahlen klebte, «zehntausend, das ist doch geschenkt!»

«Für unsereinen ist das eine Million», wandte der Gärtner ein.

Der andere schien vor seiner eigenen Begeisterung zu erschrecken.

«Na ja... legen wir’s lieber in Bier an, und wo?»

Die Richtung durfte der Gärtner bestimmen.

«Was steht da dran?» fragte er im Gäßchen hinter der Kirche vor einem Haus, das dem gesuchten am meisten ähnlich war.

«Pfarramt...»

«Und darunter?»

«In Notfällen klingeln. Mensch, willst du dich taufen lassen?»

Darüber lachte er noch, als sie die gegenüberliegende Gaststätte ansteuerten. Der Gärtner drehte sich zu der Tür um, durch die er mit Lída sechs Stunden später in ein zweites Leben treten sollte. Daß es eben diese war, gab ihm das Vertrauen zurück.

Josef Strniště hatte nur ein Stehbier im Sinn. Selbst als man sie in dieser Spelunke höflich an einen Tisch komplimentiert hatte, wollte er sich nicht mehr als eine Halbe genehmigen. Die letzte Sauferei in diesem Land vor vielen Jahren war schuld daran, daß er sich in Linz im Bahnsteig irrte. Statt in Wien wachte er wieder in Budweis auf, leider ausgerechnet an dem Tag, als der neue Oberkommunist Husák erklärte, die Heimat ist kein Taubenschlag, wo jeder beliebig raus- und reinfliegen kann.

Die drei Maß Bier mit drei doppelten Kurzen haben ihm bald drei Jahre und drei Monate eingebracht, von denen man ihm aufgrund guter Führung drei Tage erlassen hat, um ihm nicht noch einen Weihnachtskarpfen spendieren zu müssen. Als er damals in die frostige, aber herrliche Luft hinaustrat, hat er sich geschworen, daß ein einziges Bier jetzt seine Norm sein wird, solange er nicht den Paß eines Landes besitzt, für das die ganze Welt ein Taubenschlag ist. Von diesem Traum war er noch hübsch weit entfernt, aber er trank dieses halbe Bier nun bereits dreißig Kilometer östlich von Linz und mußte nur noch einen kleinen Zaubertrick hinlegen, um, wie man militärisch sagt, das erste Etappenziel zu erreichen; viel später als gewollt, aber immerhin.

Er beäugte seinen schweigsamen Landsmann, aus dem er nur den Beruf herausbekommen hatte, doch war er sich ziemlich sicher, dieser Langweiler kann doch kein Spitzel sein. Obwohl dies die bekannte Krankheit war, unter der im Tschechenlande jeder litt, hatte auch er das Gefühl, das Auge des Regimes ruhe stets auf ihm, und das unerwartete Ausreisevisum für drei Tage nach vierzehn Jahren könne eine neue Falle sein, die selbst in Österreich zuschnappen würde, wohin es für Stasi und KGB nur ein Katzensprung war.

Mit seinem politischen Profil und seiner Visage leider so leicht bemerkbar, wollte er nicht den geringsten Verdacht erregen, bis daß er übermorgen hinter die Mauern des berühmten Lagers gelangen würde, wo im Gegensatz zu anderen die Freiheit nicht endet, sondern erst recht beginnt.

«Also dann», sagte er und hob das Glas mit dem letzten Schluck Bier, um mit der Pfütze von Limonade anzustoßen, die sich der Schweiger überraschenderweise bestellt hatte, «damit wir die kapitalistische Hölle überstehen und heil in unser heimatliches Paradies gelangen!»

Ende der großen Ferien

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