Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 13
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ОглавлениеDer Gärtner ist mit einem Wecker im Kopf auf die Welt gekommen. Schon die Eltern staunten darüber, daß es genügte, abends eine Uhrzeit zu nennen, und der Junge erwachte beinahe auf die Minute pünktlich. Obwohl er gestern schon um drei Uhr früh aufgestanden war, als er sich entschied, direkt von Klíčov zum Treffpunkt zu fahren, damit er Věra nicht unbeholfen anlügen mußte, wurde er auch jetzt wach wie gewollt: zwanzig vor zwei. Wie Lydia hat er vermutet, die ganze Reisegruppe befinde sich zu dieser Stunde in tiefem Schlaf. Sein Mitschläfer bestätigte das. Er lag auf dem Bauch, einen Kissenknebel im Mund und atmete sausend durch die Nase.
Geräuschlos in die Kleider zu schlüpfen war die Sache eines Augenblicks. Die Tür, das wußte er seit gestern, knarrte ein wenig. Er öffnete beim nächsten Schnarcher, trug rasch, wie er das am Abend ausprobiert hatte, den Koffer samt Stuhl auf den Gang und stellte die Lehne unter die Klinke, um sie zu sperren. Er lauschte. Das Führertrio im Nebenzimmer schlief ebenfalls fest. Er hob den schweren Koffer und eilte die Treppe hinunter.
Auch die Pianistin hatte keine Probleme. Ihre laute Zimmergenossin bot ihr gestern an, sie könnte ihr nachts gern auf dem Kopf herumtanzen, sie schlafe wie ein Ziegelstein. Die Decke, unter der sich ihr toupierter Kopf verkrochen hatte, verriet in der Tat durch nichts, daß darunter ein Lebewesen steckte. Die Pianistin war so aufgeregt, daß sie nicht einmal einnicken konnte: Sie schlug die Zeit tot auf eine altbewährte Art, die ihr über die Wahnsinnsnächte hinweggeholfen hatte nach dem Verlust von Ilja, als sie am stärksten der Gashahn lockte.
Auch heute wählte sie eine passende Komposition, Beethovens «Pathétique» in c-Moll, die Tonart der Schicksalssymphonie, und sie ließ vor der Netzhaut die Klavierpartitur ablaufen. Nach all den Jahren, als sie sieben Tage die Woche zehn und mehr Stunden täglich übte, brauchte sie weder Noten noch Tasten und Pedale, nicht einmal Finger und Fußgelenk mußte sie bewegen, und dennoch spielte sie. Und war sie mit einer Stelle unzufrieden, wiederholte sie sie zum Umfallen oft, bis sie ihrer Vorstellung nahekam.
Als sie zu Ende war, ertönte stürmischer Beifall, wie ihr Gehör ihn bei dem letzten Konzert, das sie im Prager Rudolfinum noch geben durfte, dem Gedächtnis eingeprägt hatte. Sie schaute auf die Uhr: viertel zwei. Jede ihrer Bewegungen war überlegt, drei Minuten reichten, um sich anzuziehen und sich mit Koffer, Mantel und Stuhl auf den Gang hinauszuschleichen. Sie blieb also liegen und starrte das leuchtende Rechteck eines fremden Fensters an, teilnahmslos wie ein Papier ohne Botschaft.
Die letzten Jahre erschienen ihr, als stünde sie auf einer Felsebene, von allen Seiten durchweht. Der Wind der Enttäuschungen und Befürchtungen legte sich erst, als sie endlich den Panzerbalken passierte, geschmückt mit den Farben einer Nation, die ihn schon lange nicht mehr bedienen durfte. Den ganzen Tag über, während dem sie mit ihrem Liebsten nur verstohlen Blicke wechseln konnte, lebte sie in einem seltsamen Zustand der Gefühls- und Sinnenstarre. Als der Gärtner bei ihr zum erstenmal arbeitete, erklärte er ihr, Bäume kann man auch im Sommer verjüngen an bestimmten Tagen, an denen der Saft in ihnen zum Stillstand kommt. So fühlte sie sich jetzt selbst. Als hätte man in ihrem Leben eine Pause eingelegt, die Gönner und Kritiker hätten den Saal verlassen und ihr erlaubt, auf verdunkelter Bühne Atem zu holen.
Sie ahnte es: Sobald sie jetzt aufsteht, wird sie zum Spielball der Elemente, um so schlimmer, daß sie mit ihnen keine Erfahrung hat. Gerade darum hat sie die letzten Minuten zwischen den Stürmen ausgekostet. Liegend schwebte sie über ihrem Schicksal und schöpfte die Hoffnung, einmal ebenso weich wie auf diesem Bett auf dem neuen Planeten zu landen, wo sie all das vorfände, was der alte ihr verwehrte.
Um ein Uhr vierzig, fünf Minuten früher, als sie sollte, stand sie auf, zog sich an, trug den Koffer hinaus und kam zurück, um den Stuhl zu holen, mit dessen Lehne sie die Türklinke festkeilte. Vielleicht ganz überflüssig, das Mädchen schien aus der Welt zu sein.
Das Treffen ging vonstatten, wie es sonntags im Bauernhaus vereinbart wurde, wohin er unter dem Vorwand, heuen zu müssen, ausnahmsweise am Tag gekommen war. Seitdem sie die Flucht vorbereitet hatten, erschien er nur selten und erst am späten Abend; er versteckte seine Jawa im Jungholz vor diesem ehemals deutschen Dorf, das nach der tschechischen Armee Prager Urlauber besetzten, und kroch durch das Loch herein, das er sich in die Hecke geschnitten hatte. Und verschwand noch vor Morgengrauen.
Sie hat immer zu den Manipulierten gehört, frei war sie nur am Klavier, doch in dieser Beziehung mußte sie den Taktstock übernehmen, er war zu unsicher und gehemmt. Als sie es endlich glaubte, daß er ihr mit Leib und Seele verfallen sei, als sie die Zweifel überwand und sich für ein doppeltes Abenteuer entschied, ihr Leben mit einem vierzehn Jahre jüngeren Mann zu verbinden und mit der Flucht ins Ausland auch die letzte Sicherheit aufzugeben, ergriff sie die Initiative.
Wenn es sein mußte, konnte sie kühl denken. Das schwächste Glied ihres Plans blieb noch immer, seine Frau auszuschalten. Der Gärtner mußte für beide um ein Visum ersuchen und dem Schwiegervater andeuten, daß er Věra zum Geburtstag überraschen will. Es dauerte einige Abende, bis Lydia ihn überzeugte, darin keine Lüge zu sehen, bei der er gefährlich errötet wäre, sondern einen Akt der Notwehr gegen einen Menschen, der für ihn jahrelang «Überraschungen» parat hatte. Hat er ihr nicht etwa erzählt, wie seine Frau ihn jahrelang der Unfruchtbarkeit bezichtigte, ehe er per Zufall erfuhr, sie habe sich noch vor ihm nach drei Abtreibungen sterilisieren lassen?
Noch gestern, als er vor dem Bus die Gattin wegen Krankheit ungeschickt entschuldigte, starb sie vor Angst, das Unternehmen könnte bereits an der Grenze scheitern. Nein, über sie konnte man nichts wissen, im Garten rief sie ihn fälschlich «Herr Krůta!», doch es hätte gereicht, wenn sich der Polyp vor der Tochter verplappert oder sich von ihr verabschieden wollte. Die zwei Stunden, bevor sie den Zoll erreichten und abgefertigt wurden, waren schrecklich. Wäre mein Haar nicht schon gefärbt, sagte sie sich, ich wäre schlankweg grau geworden!
Dann also fuhren sie glücklich los, die Spannung in ihr ließ jedoch nicht nach; ich trage in mir, beschimpfte sie sich, den schäbigen tschechischen Hang zum Kapitulieren, mit dem die Politiker von rechts wie von links das einstige Volk der Hussiten angesteckt und verdorben haben! Sie hatte in der Tat Angst, der Staat könnte sie mit Hilfe einer seiner schmutzigen Tricks selbst von hier noch zurückholen, sollten sie sich vorzeitig verraten. Sicherheit sah sie erst hinter dem Tor einer Anlage für Flüchtlinge, die sich auf das Wort «Asyl» öffnete. Dorthin war es noch weit, der entscheidende Sprung wartete noch auf sie. Er maß lächerliche zwei Meter, sollte jedoch lebenslang Folgen haben.
Es freute sie, wie Václav handelte, er übernahm jetzt gänzlich das Kommando. Schnellte ihr treppauf entgegen, nahm auch noch ihren Koffer und eilte mit beiden lautlos nach unten, als wären sie leer. Er warf sogar einen Blick hinter das Pult der nicht besetzten Rezeption und fand, was sie dort nie gesucht hätte: einen Stoß tschechoslowakischer Pässe. Die ihren herauszufinden dauerte keine halbe Minute, es gelang ihm noch, ihr siegesbewußt zuzulächeln, als er bereits das Fenster öffnete.
Er stellte die Koffer auf das Fensterbrett und sprang hinab. Gewöhnt, von den Ästen ins Gras herunterzuspringen, schlug er dabei mit den Nägeln seiner Wanderschuhe Funken aus dem Bürgersteig. Der Aufprall erscholl auf dem Stadtplatz wie ein Kanonenschuß.
«Schnell!» befahl er laut, es spielte jetzt keine Rolle mehr.
Nach und nach schob sie die Koffer über das Sims zu seinen Händen hinunter. Als er sie beide auf das Pflaster gestellt hatte, warf sie den Mantel nach samt Handtasche und kletterte selbst auf das Fensterbrett. Als bliebe die Zeit für sie stehen: Ruhig schaute sie auf die angestrahlten Portale der Renaissancehäuser, mitleidlos zerschnitten durch die modernen Ladenfenster, Geschmack, dachte sie sogar, könnten sie von uns noch lernen! auf die bunten Beete glänzender Autokarosserien und auf den Kirchturm, der unter den Nachtwolken segelte, die gewaltigen Uhrzeiger standen sieben vor zwei... da fehlt nur noch der Text Gruss aus..., sie verfiel in seltsame Euphorie.
«Mach doch, spring!»
Er stand darunter mit geöffneten Armen, und ihr kam noch in den Sinn, daß sie mit diesem Bild ziemlich gut sterben könnte. Vielleicht deshalb stieß sie sich ab und sprang so sorglos, so riskant, als hätte man da unten einen Federberg aufgehäuft. Ihr Liebster hat sie ebenso sicher und weich mit seinen starken Händen aufgefangen und auf den Boden gestellt, der nun für sie beide zur neuen Heimat werden sollte.
Der gelernte Koch, später der Zauberei verfallen, um seine herrlich wendigen Hände zu beschäftigen, bevor sie ihn zu fremden Taschen oder Safes verführen würden, lernte den leichten Hasenschlaf im Knast. Mit ihm in der Zelle schmorte ein Amokläufer, reif für die Klapsmühle; wann immer er sich in den Kopf setzte, man habe ihn gelinkt, versuchte er Mithäftlinge im Schlaf zu erwürgen. Und weil er kräftig war, half nur die Abwehr im Augenblick der Attacke.
Er wußte also, daß sich sein Kompagnon angezogen hat und aus dem Zimmer fortging, nur maß er dem keine Bedeutung bei: Die Toilette lag auf dem Gang. So versank er wieder in tiefere Gewässer des Schlafs. Nicht einmal der donnernde Krach von draußen sagte ihm etwas, erst die Rufe haben ihn aus dem Bett ans offene Fenster befördert. Er lehnte sich hinaus, riß die Augen noch rechtzeitig auf und sah, wie der durchtriebene Gärtner die fallende Frau auffing. Ein Blitzblick zur Tür: Der zweite Koffer fehlte.
Er geriet in Panik. Ventre Saint Gris! nicht mit der Konkurrenz zu rechnen, man sollte sich selbst eine herunterhauen! Er hätte sich nicht träumen lassen, daß dieser Niemand ein gerissener Komödiant ist. So blieb ihm nichts übrig, als die eigenen Siebensachen zusammenzupacken und ebenfalls raus aus dem Nest, bevor das Netz der Vogelfänger fällt. Angezogen war er in zehn Sekunden, das konnte er noch aus der Legion. Dabei schaute er rasch hinaus, um festzustellen, wohin die beiden verschwinden. Er erblickte sie in der Mündung der kleinen Gasse, die zu der Kirche führte. Darum also fragte mich der Halunke aus! Na gut, man nimmt dort auch einen Dritten auf! Er griff nach der Türklinke – und erstarrte.
Er rumpelte und drückte, umsonst! Hat ihn der Schuft hier eingesperrt? Dabei steckte doch der Schlüssel im Schloß! Verdutzt drehte er sich um wie eine Taube, bis er es herausbekommen hat: Der zweite Stuhl war weg. Der Scheißkerl! Und nun? Die drei Krüppel von nebenan wären imstande, eine Fahndung auszurufen... Moment! warum tigere ich so herum? Wir sind doch in Österreich! Ohne Paß jedoch, und vor allem: Er vermißte alles, was er vor einer Durchsuchung im Bus versteckt hatte, sozusagen im Schatten des Leuchters. Wie immer kam ihm in der Not eine Idee. Er begann an die Wand zu schlagen, hinter der in einem besseren Appartement, sogar mit Klo, die Busbonzen schliefen.
«Hallo», rief er, «hallo, Genosse Reiseleiter! Hallooo!»
Die uralten Wände waren noch nicht in den Genuß von Abdichtungen gekommen. So weckte er das halbe Hotel. Von nebenan kamen verwirrte Stimmen.
«Ans Fenster!» schrie er durch die Mauer, «macht das Fenster auf! Das Feensteeer!»
Schon klirrte im Nebenzimmer Fensterglas. Er beugte sich hinaus und sah den Reiseleiter samt dem Lehrer, der, da sein Toupet im Schlaf verrutscht war, aussah, als habe er ein drittes Ohr.
«Was ist los...? Was geht hier vor?»
«Sie sind verduftet.»
«Was...?»
«Was, was! Abgeschwirrt! Kurve gekratzt! Fliege gemacht! Futschikato! Merde, weg sind sie, abgesprungen, abgehauen, ich hab’ sie gesehen.»
Die beiden von nebenan wurden jetzt von der speckigen Brust des Busfahrers beinahe aus dem Fenster weggedrückt.
«Wer?»
«Rada, der Gärtner, und mit ihm irgendein Weibsstück.»
«Wer war das?»
«Weiß ich nicht.»
«Das Hotel», der Reiseleiter bereitete sich sein Alibi vor, «ist doch abgeschlossen...!»
«Sie sind vom Fenster heruntergesprungen. Mit Koffern!»
Der Chauffeur hat seinen wahren Beruf nicht verleugnet. Er duzte ihn sogar.
«Der Rada, der wohnt doch mit dir zusammen!»
«Ja.»
«Wie konntest du ihn laufen lassen?»
«Er hat mich eingesperrt, diese Ratte, bevor er verduftet ist! Ich sitze hier fest!»
Dafür dankte er jetzt dem Himmel. Über und unter ihm öffneten sich die Fenster.
«Genosse Kozel», rief der Lehrer bereits aus der Tiefe des Zimmers, «Genossen, rein in die Hose, wir müssen sofort Maßnahmen ergreifen.»
In die Szene klang mit vier hellen und zwei dunklen Schlägen die volle Stunde. Von allen Leuchtschriften blieb als einzige die am oberen Ende des Stadtplatzes übrig: Gendarmerie. Hier roch der Busfahrer seine Verbündeten.
«Wir übergeben das der Polizei. Die muß sie doch herausrücken!»
«Hast du spitzgekriegt, wohin sie rannten?» fragte der zermarterte Reiseleiter den eifrigen Informanten.
Strniště wußte noch aus dem Knast, daß der Judas am schlimmsten endet. Er hat seine Rolle erfolgreich gespielt, und darum hat er jetzt auf den unteren Teil des Platzes gezeigt.
«Dort! Dort! Eine Karre hat auf sie gewartet.»
«Was für eine?» fragte der Busfahrer, schon im Parka, «hast du dir das Kennzeichen notiert?»
«Nein, aber es war ein schwarzer Mercedes.»
«Na ja, dann war es der CIA», sagte der Spitzel routiniert, «die können wir vergessen!»
Als sie das Geschrei vom Hotel her hörte, verlor sie die Nerven und fing an zu laufen. Weil sie, seitdem sie zusammen waren, Absätze trug, um ihn durch ihre ansehnlichen Beine von den Falten um die Augen abzulenken, kam sie jetzt ins Stolpern. Er kriegte es mit der Angst.
«Liduška, spiel nicht verrückt!»
«Sie sind hinter uns her...»
«Sie können uns doch nichts anhaben! Du brichst dir noch das Bein.»
Atemlos erreichte sie das Gäßchen an der Kirche. Die Fußgelenke trugen sie fast nicht mehr, sie hat die Schuhe abgestreift, hielt sie fest und eilte auf Strümpfen weiter. Er hatte keine dritte Hand, so bemühte er sich, sie wenigstens mit Worten zu stützen.
«Das hätten wir geschafft, Liduška, beruhige dich doch!»
Links sah er das Beisl, in dem er abends mit dem Mann saß, der nun die Strafexpedition gegen sie zusammentrommelte. Rechts lag das Pfarrhaus. Er knallte die Koffer auf den Boden, er hatte selbst genug, und drückte die Klingel. Er hob den Kopf zum Kirchturm empor, ehe er begriff, daß er das engelartige Bimbam selber auslöste. Er glaubte nicht, daß dies jemanden wecken könnte, und so schellte er erbarmungslos weiter, bis er im Haus Schritte hörte. Dann faßte er Lída um die Schulter und drückte sie an sich.
Sie zitterte wie in einem Anfall von Schüttelfrost. Ihre Zähne klapperten. Er war kein guter Tröster, traute seiner Fähigkeit nicht, Gefühle in Worte zu kleiden. Seit dem Tag, als sie ihn mit der Musik bezauberte, hat er ihre intellektuelle Überlegenheit anerkannt. Er begriff natürlich, daß er sie als Mann für sich gewonnen hat, schon in der ersten Nacht vergaß er, sich je mit Věra geliebt zu haben, erst mit dieser Frau entdeckte er die Seligkeit der Leidenschaft. Sie schien wie er zu fühlen, stöhnte in seinen Armen, wie sie es bisher noch nie erlebte, schwor sie ihm. Als sie sich jedoch anzog, fand er sie wieder unerreichbar; er verstand nicht, warum sie sich mit ihm abgeben sollte.
Erst jetzt, als ihr Kopf an seiner Brust lag, höher reichte er nicht, und ihren schlanken Körper, dem sie durch Gymnastik und Hungerdiät seine Mädchengestalt zu bewahren suchte, ein Krampf schüttelte, begriff der Gärtner, daß er es ist, der ihrem Geist in der Not Kraft verleihen soll. Das hat ihn ermutigt.
Die massive Tür öffnete sich, eine alte Frau erschien, so kantig und mächtig, daß sie den Rahmen ausfüllte. Mit dem grauen Kopf voll ragender Haarwickel war sie ein prachtvolles Exemplar von Pfarrhausköchin. Forschend musterte sie das Paar mit Augen, die rasch wach werden konnten.
Die Pianistin kam wieder zu sich, ich bin ein Stehaufmännchen! sagte sie gern, wirft mich eine Ohrfeige nieder, bin ich so schnell wieder auf, daß ich mir die zweite selbst von der gleichen Hand hole. Sie machte einen Schritt auf die Frau zu.
«Bitte, entschuldigen Sie die späte Störung, wir sind...»
«Eben geflohen?»
«Ja!»
«Aus einer Busgruppe?»
«Ja...»
«Nun, kommt herein! Na, bitte schön! Ihr braucht ganz sicher einen Kaffietschko!»
Noch nicht gewöhnt, in der Umzingelung einer fremden Sprache zu leben, wurde ihnen verspätet bewußt, daß sie ihre Muttersprache hörten. Lydia staunte.
«Sie sind Tschechin?»
«Budweiser Ecke, aber nur von Mutterseite. Der Vater war Ungar und seine Eltern Serben. Ich bin... na, wie sagt man bei euch, Gehacktes?»
«Faschiertes...»
«Jawohl! Ein echtes österreichisches Laberl. Nur herein! Der Herr Pfarrer zieht sich schon an.»
Sie nahm ihr den Mantel aus der Hand und ging die breite Treppe voraus. Lydia erinnerte es hier an ehrwürdige Privatpensionen, die Margrit Prohaska ihr auf ihren Tourneen besorgte, nur daß anstelle eines Hausdieners ihr Liebhaber die Koffer trug. Der Salon in der Etage roch angenehm nach einer Mischung von altem Stoff und Wachs, hier müssen oft Kerzen gebrannt haben. Jetzt hat sie ein Lüster willkommen geheißen.
«Keine Angst vor dem Herrn Pfarrer», sagte die alte Frau, «er ist noch jung, versteht den lieben Herrgott mehr als die Welt. Aber wir werden es schon packen...!»
Hochwürden, durch die andere Tür kommend, ähnelte eher einem Studiosus aus alten Heimatfilmen. Die betonte Ernsthaftigkeit seines Auftretens verriet seine Jugend nur um so mehr. Nachdem er beiden die Hände sanft gedrückt und auf die Lehnstühle mit den gestickten Kissen gezeigt hatte, setzte er sich ihnen gegenüber, legte die Hände zusammen und lauschte, während in der Küche Geschirr klapperte, verschlafen dem Bericht von der Flucht; ständig nickte er dazu. Lydia hatte sich vor Ermüdung auf das Wichtigste beschränkt.
«Hat man euch drüben verfolgt?» fragte er dann.
«Ja. Ihm», sie zeigte auf den Gärtner, «hat man verboten, in die Kirche zu gehen, und ich habe seit langer Zeit keine Möglichkeit mehr bekommen zu konzertieren.»
Er machte eine so skeptische Miene, daß sie gereizt hinzufügte.
«Es gibt auch gewöhnliche Situationen, die ein Mensch unter normalen Umständen löst, indem er das Land wechselt. Und wenn man es nicht darf, muß er manchmal flüchten!»
«Welche Situationen haben Sie im Sinn...»
«Die persönlichen.»
«Ach so...» er schaute den Gärtner an, «durfte etwa Ihr Herr Sohn nicht studieren?»
Sie spürte ihr Erröten.
«Er ist ein Gärtner. Im Gegenteil, er hatte eine glänzende Stelle auf einem Schloß, und er ist nicht mein Sohn... so alt bin ich wieder nicht!»
Keiner hat gelacht. Der Pfarrer, weil er nicht begriff, Václav, weil er nicht verstand.
«Was sagt er?» fragte er in der Pause.
Er ahnte nicht, daß dies der Satz ist, den er von diesem Augenblick an immer wird wiederholen müssen. Sie wollte jedoch das Gespräch nicht komplizieren und antwortete darum ausweichend.
«Er interessiert sich...»
Verlegen lächelte er den Pfarrer an. Der suchte lieber nach einem anderen Thema.
«Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?»
«Wer gewohnt ist, Noten zu lernen, kommt auch bald mit Vokabeln zurecht. Und ich habe hier ziemlich viel gespielt.»
Sie erinnerte sich an Johann Christopher, der sie dazu brachte, deutsch zu schreiben...
«Seltsam, daß Sie so verschiedene Berufe haben, Sie und Ihr Mann.»
«Er ist auch nicht mein Mann.»
«Aha...» der Priester schüttelte verwirrt den Kopf, und die Gelenke seiner zusammengefalteten Finger wurden langsam bleich, sie verrieten das krampfhafte Bemühen des erwachenden Geistes, etwas zu begreifen.
«Er ist noch nicht geschieden!» sagte sie bewußt direkt.
Das hat ihm total die Rede verschlagen.
«Was hast du gesagt?» fragte Václav sie.
«Wie es mit uns beiden so aussieht.»
«Und was sagte er?» das wollte sein schlechtes Gewissen erfahren.
«Bislang nichts.»
Mit der Köchin trat ein starkes Aroma ein, das aus der Mündung einer Majolikakanne drang. Sie trug außerdem eine Platte mit dicken Kuchenscheiben auf.
«Der Kaffietschko ist da», verkündete sie, «der wird euch auf die Sprünge helfen. Dann nehmen Sie eine heiße Dusche, die bringt Sie in die Heia. Das Zimmer ist fertig», gab sie dem Pfarrer bekannt.
Lydia ertappte sich dabei, daß sie sich bereits amüsiert.
«Ich glaube», sagte ernsthaft der junge Herr, der erst in einigen Jahren zu der Größe seiner Lebensaufgabe finden sollte, «Frau Agnes, Sie richten besser noch ein weiteres Zimmer her.»
«I wo!» winkte sie mit der eben frei gewordenen Hand ab und wandte sich an den Gärtner, «ihr schlaft doch nicht getrennt, oder?»
«Nein...» gestand er und setzte gleich eifrig hinzu, «könnten Sie den Herrn Pfarrer fragen, ob ich morgen beichten darf? Ich durfte es so schrecklich lange nicht mehr...»
Als sie das übersetzte, sagte ihr Jüngling verlegen.
«Ich kann doch nicht Tschechisch.»
«Ich aber», sagte sie resolut, «der alte Herr Pfarrer läßt es zu, wenn es sich um Flüchtlinge handelt, und ich vergesse alles gleich wieder!»