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1. Der Schauspieler

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Von jedem ausgefallenen Haar

Nahm Abschied er

Als wär’s ein Freund

Auf Nimmersehn verreisend...

Diese Strophe aus einem plumpen Gedicht, das er gestern als sein letztes «Opus» in der Heimat fürs Radio aufgezeichnet hatte, schien sich ihm unauslöschlich eingeprägt zu haben. Obwohl er dagegen ankämpfte, wiederholte er es am Steuer wohl alle fünf Minuten aufs neue. Höchstens gelang es ihm, den Rhythmus zu zersetzen, die Worte aber drängten wieder und wieder auf seine Zunge.

Jeder seiner Psychiaterfreunde, von denen er als eine scheinbar starke Persönlichkeit in all den Jahren eine ganze Sammlung angelegt hatte, als sie sich an seinem Ruhm aufzurichten und nach einem Halt für ihre eigene Verwirrung suchten, hätte ihm gewiß verraten, was er bereits wußte: Der blöde Satz sprach sein Zentralproblem aus.

Milan Čech – nomen est omen – noch immer ständiges Mitglied des Nationaltheaters in Prag und ein Fixstern aller großen Serien des tschechischen Fernsehens, verließ nun doch für immer das verrückte Land, in dem er durch einen unglücklichen Zufall geboren wurde, um den Sternenhimmel des normaleren Teils der Welt zu stürmen.

Von einem einzigen unerläßlichen Stopp abgesehen, saß er bereits in der sechsten Stunde am Volant. Obwohl er vor Erregung nachts kaum geschlafen hatte und sich Dora als Chauffeur seinem ewigen Dazwischenreden zum Trotz völlig sicher war, gab er seit Prag das Steuer nicht ab, als läge gerade darin der Erfolg des Unternehmens. Jetzt wurde ihm langsam klar, die Sache zu weit getrieben zu haben. Seine letzte, wahrscheinlich überflüssige Absicherung war dieser Umweg über Komarom. Er wollte damit selbst dem wachsamsten Auge des Staates beweisen, daß er in der Tat über Südjugoslawien nach Bulgarien wollte. Als Dora einwandte, dies sei übertriebene Vorsicht, die ihnen nichts als hundert Kilometer schlechte Straße einbrächte, fuhr er sie an, wie er es gewöhnlich tat, wenn er seine eigenen Zweifel zum Verstummen bringen wollte.

Die Spannung zwischen den Eltern bewirkte, daß Petřík, im allgemeinen nur der Stumme dahinten, sich jetzt noch dazu unnatürlich versteifte, was seltsamerweise den Schauspieler noch zorniger machte: Er verspürte darin eine Verbocktheit, wie sie der Entfremdung vorauszugehen pflegt, doch er wußte sich keinen Rat. So schwieg auch er. Ab Bratislava herrschte Ruhe im Auto, und irgendwann mußte Dora eingeschlafen sein; sie reagierte selbst dann nicht, als man in das Gebiet etlicher riesiger Wasserbaustellen einfuhr, in denen sich ein wahres Labyrinth von Umleitungen auftat.

Der Stolz verbot ihm, sie zu wecken, um ihr unglaubliches Orientierungstalent zu Hilfe zu rufen, und so verirrte er sich bald hoffnungslos. Mit jedem Kilometer wuchs seine Verbitterung. Doras Teilnahmslosigkeit wie auch die Stumpfheit seines Sohnes, er will mit mir seit unserer Abfahrt überhaupt nichts zu tun haben! riefen in ihm ein zunehmendes Gefühl der Verlassenheit und des Unrechts hervor. Ich tu’s doch nur für sie! sagte er sich und erinnerte sich an seine Devise, mit der er seine ledigen Jahre verbracht hatte: Ich muß mir täglich nur einen Liter Wein und eine Semmel verdienen, zu einem Bett lädt mich schon jemand ein.

In diesem Winkel der Großen Schütt, offenbar zur Überflutung freigegeben, schien keine Menschenseele mehr zu hausen, er fuhr durch eine Mondlandschaft, in der nur immer neue Umleitungen zwischen Betondämmen eine monströse Zivilisation bezeugten. Endlich kapitulierte er, hielt an, ließ die Fensterscheibe herunter und versuchte sich zu orientieren. In den helleren Wolken hinter ihm erahnte er den Westen. Voller Bitterkeit entschloß er sich, zu wenden und weitere sechs Stunden an dieser Richtung festzuhalten. Er stellte sich vor, wie er die beiden Mitreisenden nach Mitternacht vor ihrer Prager Wohnung weckt und sagt, wie er es in einem dummen Schwank gesprochen hat.

«Mit euch gelangt man höchstens dorthin, wo man losmarschiert ist...»

In diesem Augenblick hörte er ihre Stimme.

«Na, endlich!»

Noch bevor er es schaffte, sich aufzuspielen, sah auch er vor sich, was sie, kaum aus dem Schlaf erwacht, bereits erblickt hatte: eine fast unleserliche Tafel, auf der durch den Schmutz die Inschrift Staatsgrenze 2 KM schimmerte.

Der Übergang, der zu ihrem Tor in die neue Welt werden sollte, diente hier vorwiegend dem kleinen Grenzverkehr. Jene berüchtigten technischen Einrichtungen, die die Grenze gegen die Welt der Kapitalisten schützen und deren drohende Dominanten die mammutartigen Hochsitze für Scharfschützen bildeten, lohnten hier nicht. Hier konnte man nur aus einem Käfig in den anderen flüchten, und das Lebensniveau, beiderseits tief abgesunken, ließ selbst die einst blühende Schmuggelei verdorren.

Der Offizier der Grenzwache, der ihre Reisepapiere zur Kontrolle mitnahm, machte jedoch die gleiche aufmüpfige Miene wie seine Kollegen bei den großen Passierstellen. Doch als sich der Fahrer absichtlich aus dem Fenster des Škodas hinauslehnte und der Mann das vom Böhmerwald bis zu den Tatrabergen bekannte Fernsehgesicht erkannte, verwandelte er sich rasch, bezaubert vom Flimmer eines unerreichbaren Lebens, in einen Heimatburschen ostslowakischer Kartoffelfelder, der er auch immer geblieben war.

«Sind Sie nicht...» fragte er, beinahe liebenswert naiv, er konnte sich davon doch von Amts wegen überzeugen aus den Papieren, die er in der Hand hielt, «nicht der...?»

«Sieht so aus», half der Fahrer wie gewohnt nach und grinste ihn an, für sich hinzufügend: Bolschewist du blöder!

Der junge Mann, den über das Mittelmaß nur die Uniform hinaushob, glaubte, eine Erscheinung vor sich zu haben.

«Du lieber Gott, Sie waren doch gerade im Fernsehn, es ist keine halbe Stunde her!»

Der Schauspieler dachte nach, was es sein könnte. Halb sieben! Was für Kinder?

«Als was kam ich?»

«Was meinen Sie?»

«Was ich darin spielte.»

«Den Prinzen doch...»

«Ach so!»

«Aber wie kommt es denn, daß Sie hier sind...» erst jetzt hat er im Paß den Namen nachgeblättert und fast feierlich ausgesprochen «Herr Čech?»

Der Schauspieler war es natürlich aus diesem verdammten Land gewohnt, sich mit jedem Idioten unterhalten zu müssen.

«Ach, das haben wir bereits im April gedreht», erklärte er geduldig, obwohl in ihm schon alles kochte, «und weil ich ab heute keine Proben mehr habe und nicht mehr spielen muß, springt für mich eine Woche Ferien mehr heraus!»

Er hat das mit jenem verschwörerischen Grinsen begleitet, mit dem die Tschechen und Slowaken jedem stolz erzählen, wie sie das nun mal wieder geschafft haben, das Regime reinzulegen, das eben ohne diese kollektive Schlitzohrigkeit längst vor die Hunde gegangen wäre.

Der Grenzverteidiger quittierte dies mit der üblichen Mischung von Neid und Bewunderung.

«Na ja, ihr Künstler, ihr wißt es schon zu richten! Und der Bub, der schwänzt halt die Schule, was?»

Er beugte sich zum Fahrer runter, als wollte er nur besser auf das stille Kind blicken, auf dem Hintersitz unter dem Gepäck fast vergraben; es war jedoch klar, daß er vor allem verstohlen die schöne Dora anschaute. Dem Schauspieler schlug aus seinem Mund Sauerkrautgeruch des Abendessens entgegen. Er erinnerte ihn an seine eigene endlose, wenn auch ziemlich fesche Wehrpflicht und an den ganzen Berg von militärischen und danach auch zivilen Schindereien, die er soeben hinter sich lassen wollte. Was geht dich das an, du Hanswurst, dachte er wütend.

«Er hat eine ärztliche Bescheinigung», sagte er und zwinkerte ihm zu. Auch diese Biedermannsart war einer der Tricks, zu denen in diesen Regionen Menschen, vor welchen sich in der übrigen Welt der Plebs beugte, greifen mußten, um sich der grenzenlosen Frechheit von Funktionären, Waffenträgern aller Sorten und, wenn man ordentliche Ware haben wollte, sogar von Obst- und Fleischhändlern zu erwehren. Nein, weg von hier, nichts wie weg!

Auch dieser Lakai des Regimes hat angebissen und schaute nicht so aus, als wollte er diesen Reisenden seine Macht zum Beispiel dadurch beweisen, daß er sie bis zum letzten Schräubchen und Slip durchsuchen läßt, um dann mit Siegesgeschrei die paar unchristlich hochbezahlten Devisen ans Licht zu holen. Im Gegenteil: Überraschenderweise zog er aus seiner grünen Bluse eine abgegriffene Brieftasche und aus ihr das Photo eines massigen Wesens weiblichen Geschlechts: Üppige Farben verliehen ihr das Aussehen einer Schlampe.

«Das ist die Resi», vermeldete er stolz, «meine Verlobte!»

«Aha...» sagte der Schauspieler und half sich mit einem Jux aus der Peinlichkeit, «möchten Sie sie mir geben? Für gewöhnlich erlaubt das die Gattin nicht, aber Sie können’s per Befehl schenken, stimmt doch?»

Der Waffenträger brauchte einen Augenblick, um das zu verarbeiten.

«Du lieber Gott, das nicht, ich hab’ nur dieses! Aber Sie könnten für sie darauf unterschreiben, ja?»

«Warum nicht», stimmte der Schauspieler zu, ließ aber noch nicht lokker, «nur erkläre ich hiermit, daß ich für Sie keine Alimente zahle, das haben nämlich mit mir schon drei andere probiert.»

«Na klar... Sie haben ja auch kein richtiges Paradiesleben, wie man glaubt...» plötzlich schien er ganz froh, in der eigenen Haut zu stecken, als er jetzt dem Schauspieler seinen Kugelschreiber gab, «ich werd’ Sie inzwischen abfertigen.»

Er verschwand in der Einheitsbaracke, und sie waren wieder allein. Einen knappen Kilometer vor ihnen schaute über die Maisfelder der ungarische Zoll herüber, ebenso menschenleer.

«O Himmel!» stöhnte der Schauspieler, als stünde er auf der Bühne, «gib, daß dies mein letztes Autogramm ist – in diesem beschissenen Land!»

«Petřík schläft nicht», sagte Dora.

«Um so besser! Kinder sollen hören, was ihnen die Eltern vermachen.»

«Für so was ist er vielleicht doch noch zu klein.»

«Und bleibt bis in den Tod blöd, wenn du mit ihm wie mit einem Mädel umgehst. Mir hat mein Vater vielleicht als erstes Wort gesagt, der Bolschewik wär’ eine Hure, und trotzdem habe ich fünfunddreißig Jahre gebraucht, um das Loch aus dem Käfig hier zu finden!»

Abergläubisch klopfte er sich schnell auf den Kopf und fügte hinzu.

«Mein Sohn muß es besser haben!»

«Dreh wenigstens das Fenster rauf...»

«Sei nicht ewig so ängstlich, er ist es ja auch schon! Hier gibt es doch keinen weit und breit.»

Dann ließ er das Reden und widmete sich dem Photo. Schrieb und grinste.

«Worüber lachst du so?»

Er führte es ihr vor. Für resi, die heissgeliebte, dass sie unsere verrückten stunden nie vergisst, malte er in seiner üblichen Versalschrift, Für immer ihr milan čech.

«Du bist verrückt geworden!»

«Der merkt nichts mehr. Er wird die ganze Bande hierherschleppen, um sich wichtig zu machen!»

Wie war ihr seine Angeberei zuwider, doch bald mußte sie seine Menschenkenntnis erneut bewundern: Wie aufs Stichwort marschierte aus der Baracke eine ganze Riege Uniformen an. Ihr Betreuer natürlich vorneweg.

«Hier, Milan», brüllte er, gab ihm beide Pässe und nahm das Photo an sich, «mach’s gut und bring uns ’ne Flasche bulgarischen Mastika, wenn du zurückkommst, wir übersehen dafür eure neuen Pelze! Abfahren!»

Er drückte bereits die Schalttaste der elektrischen Schranke, um die neue Bekanntschaft mit niemandem teilen zu müssen und dabei ihre Wackeligkeit zu verraten.

Der Schauspieler ließ den Motor an und trat das Gaspedal, als bräche er zu einer Rallye auf. Kaum hunder Meter weiter, nachdem er die Säule mit dem Hoheitszeichen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik hinter sich gelassen hatte, bremste er heftig und lehnte sich aus dem Fenster.

«Ich hab’ deinen Kuli geklaut, Blödmann!» schrie er nach hinten.

«Waas...?» rief der Kerl, winkte sogar zum Abschied und joggte strebsam Richtung Ungarn.

Der Schauspieler wartete, bis der Offizier auf Hörweite herankam, und dann, ehe er das Gaspedal durchtrat, schrie er seinen letzten Gruß in die Heimat.

«Leckt mich!»

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