Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 20
8. Den selben Tag, 12.30
ОглавлениеDer Mann schuftet wie eine Maschine, sagte sich der Korporal. Einmal in fünfzehn Minuten dengelte er die Sense nach, einmal in einer halben Stunde steckte er sich eine Zigarette an, nach drei Zügen drückte er sie aus und schob den noch heißen Stummel zurück hinter das Ohr. Einmal in der Stunde ging er zum Pförtchen im Drahtzaun, um aus einer großen Thermosflasche, in der man das Wasser mitbrachte, zu trinken, ein bißchen davon goß er auch in die Wetzsteinscheide nach. Er mähte schnurgerade, mit langsamen, aber breiten Schwüngen, so daß er bereits eine Hälfte der Wiese geschafft hatte. Als ihm in der Frühe der Korporal vorhielt, die Soldaten wären hier oft schon mittags fertig gewesen, verriet er in seinem Ärger nicht, daß es dann zwei oder gar drei waren.
Gerade die Leistung machte ihn so nervös. Er hat auf dem Staatsgut bislang nur Musterexemplare von Faulenzern erlebt. Was hatte also dieses Kraftpaket unter ihnen zu suchen, das sich hier abplagte, als gehörte ihm der Grund? Warum hängte er seine Zirkusscharfschützerei an den Nagel, die doch tausendmal interessanter sein mußte? Nur dem Kies zuliebe? Was konnte er denn auf dem Hungerposten hier verdienen?
Heute früh fing er auf der Schmalseite an. Als der Korporal einwand, man hätte hier bis jetzt der Breite nach gemäht, spuckte der vor sich hin und stichelte, es müßten wahre Könner gewesen sein, sie schritten mit der Sonne, nicht mit dem Schatten. Es gebe dafür, konterte der Korporal, einen Befehl, der Sicherheit wegen: Man erledigt zuerst den Flußstreifen und geht auf den Felsen zu. Der Schnitter grinste spöttisch und meinte, hier wären doch zwei MG gegen eine Sense, dann sollten sie ihn gefälligst bewachen und nicht kujonieren. Er fügte hinzu, er würde sonst den ganzen Laden schmeißen, und jeder wird sie auslachen, sollten sie ihm ankreiden, daß er kein trockenes, sondern feuchtes Gras mähen wollte, damit die Schneide nicht ständig stumpf wurde.
Dem Korporal wurde klar, daß der Mann in der Sache recht hat, man könne das Unternehmen nicht einfach abpfeifen aus bloßem Verdacht, er wollte etwa türmen. Jeder würde doch das gleiche sagen: Auch ein Zauberschütze kann aus keiner Sense schießen! Und der Gutsdirektor könnte ihnen erleichtert vorschlagen, sie sollten wieder allein mähen wie früher. Und so, obwohl er hier das Kommando hatte und einen jungen Hüpfer als Mädchen für alles dazu, schmorte er lieber persönlich im Sonnenstreifen, der bessere Fluchtbedingungen bot. Der Fluß tauchte hier aus dem Mäander auf und war weitaus enger als ein Stück weiter. Vom Felsen an hob sich die Wiese zu ihrer Mitte, von wo sie zum Wasser abfiel, ein Vorteil für einen, der im Hocken laufen kann... Von einem heftigen Magenschmerz begleitet, kam ihm der Gedanke: Jesusmeingott, wird heute hier wirklich geschossen?
Nein, er konnte nicht und war auch nicht bereit, das Gewissen seines jungen Kameraden zu belasten, dem er das befehlen konnte, wie kürzlich Scherg, das Stinktier! Von ihm sprangen die Gedanken zum Bataillonskommandeur, der als Prämie für vorsätzliches Totschießen Urlaubsscheine verteilt, und von ihm weiter bis zu der simplen Frage, was ist das für ein System, das all dem Rechtsschutz gewährt. Doch das wurde von dem Selbstvorwurf übertönt, daß er es längst und nur allzugut weiß, niemals jedoch dagegen tat, was er hätte tun sollen; ein paar freche Sprüche reichten bei weitem nicht.
Wie er da in der sengenden Junisonne schwitzte, wurde sein Kopf erstaunlich klar; er kapierte plötzlich, daß das ständige Verschieben des Parteieintritts, zu dem ihn die Eltern samt Brüdern überredeten, nichts anderes war als der unbewußte Ausdruck eines Widerwillens; dieser wuchs in ihm, seit er Verstand annahm. Allzu viele Dinge stimmten nicht überein, selbst zu Hause nicht. Es schien ihm, daß der Vater, für einen Vorzeigekommunisten, als den er sich ansah, zu kurz im Widerstand, zu lange in der Kirche, zu spät in der Partei und zu früh mit allem fertig war, was seinem Sohn den Kopf durcheinanderbrachte.
Und am wenigsten gefiel es ihm, daß seine Brüder die Parteimitgliedschaft nur für eine bessere Netzkarte hielten: Sie klebten einfach regelmäßig eine kostengünstige Monatsmarke drauf und fuhren erster Klasse herum, zu der Spezialläden, Vorzugsspitäler und Erholungsheime im brüderlichen Ausland gehörten, ebenso wie das nachsichtige Lächeln eines Verkehrspolizisten, wann immer er sie vollgetankt hinter dem Steuer erwischte. Dabei waren sie nicht Gott weiß welche Opportunisten, sie haben nur einfach bei Husák und seinen Leuten gelernt, die Partei als Werkzeug zu verstehen; mit ihm konnten die braven Slowaken endlich die tückischen Tschechen in die Pfanne hauen, von denen ihnen so viel Mist aufgezwungen worden war.
Auch der Korporal war auf sein Slowakentum stolz, und die Tschechen fuchsten ihn zunächst: Als er zum erstenmal in Prag war, vor acht Jahren, beim Staatsturnfest, Spartakiade genannt, suchten die nebenan zeltenden Pilsener die slowakischen Mädchen mit der plumpen Kraftprotzerei wegzulocken, wieviel besser es sei, nach Böhmen zu heiraten. Außerdem erteilte ihm ein Taxifahrer, den er höflich nach dem Weg fragte, den Rat, er solle sich heimschleichen zum Scherenschleifen und Kesselflicken.
Erst als er in seiner Dienstzeit ein paar prima Prager kennengelernt hatte, erfuhr er nach und nach, daß das Leben in beiden vereinigten Republiken bereits jahrelang auf verschiedene Weise vor sich geht. Während in Böhmen die besten Leute aus der Partei rausgeflogen sind und damit auch aus den Führungspositionen, haben sich die Slowaken vernünftig überlegt, daß ein ähnlicher Aderlaß sie die historische Chance kosten könnte, sich all das zurückzuholen, was ihnen die Tschechen gestohlen hatten. Wenn man schon einen der Eigenen wegräumen mußte, schickte man ihm gleich eine Flasche Sliwowitz und beschaffte ein warmes Archivpöstchen, auf dem er ungestört lesen und kritzeln konnte, was ihm gefiel, und selbst, mit Gottes Hilfe, politisch weiterirren.
Aus dem Erzählen der Prager auf Patrouillen und Wachtürmen, wo kein Politdepp dabei war, machte er sich ein ungefähres Bild von jenem heute insgeheim gepriesenen, öffentlich verfemten Jahr, in dem er acht war. Damals bedeuteten die russischen Panzer und das Aufsehen um sie eine willkommene Abwechslung und Ferienverlängerung. Zu Hause jedoch hörte man gleich nach der ersten Wut auf, davon zu sprechen, man feierte irgendeine Föderalisierung, was er auch nicht verstand.
Erst in Mähren begann er seine älteren Landsleute zu verdächtigen, daß sie bloß ihren Katzenjammer und ihr schlechtes Gewissen beschwichtigt hatten und daß es sich in jenem geheimnisvollen Jahr um keinen ruhmreichen Kampf edler Slowaken gegen tschechische Bösewichter handelte, der letztlich zugunsten der Erstgenannten von den gerechten Russen entschieden wurde. Ziemlich bald war er sich gewiß, daß es sich in keinem Fall um eine Konterrevolution handeln konnte, inspiriert vom Westen, wenn an deren Spitze ein waschechter Slowake namens Dubček stand, von dem die Tantenschaft des Korporals bis heute wie von einem Heiligen sprach.
O Gott! erschrak er jetzt auf der sonnenheißen Wiese, und mangels einer anderen Autorität hob er seinen Geist wieder zum Himmel, und was, wenn damals die Panzer diesen tschechischen Zirkusschützen aus der Bahn geschleudert haben? Sein Alter würde genau hinhauen, das könnte der Grund sein, warum er, statt auf Welttournee herumwandern zu dürfen, sich hier abrackert. Und gesetzt den Fall, er möchte sich wirklich mit der Sense einen Pfad in die breite Welt freimähen, soll ich ihn nur dafür abknallen wie ein Raubwild?
In diesem Augenblick gab ihm der Gluthimmel barmherzig einen Ausweg ein, der ihm bis heute nie eingefallen war: Wenn schon, dann statt schießen selber abkratzen! Es war eine törichte, irrsinnige und unmögliche Idee, aber offensichtlich auch eine gute: Der Magenschmerz ließ sofort nach...
Ein doppeltes Pfeifsignal, vom Felsenecho vervielfacht, kündigte an, daß man ihnen die Menage brachte. Der gedrillte Soldat in ihm ließ das Meditieren sein und vergewisserte sich, wie das Dienstreglement es bei jedem Öffnen des Grenzzauns befahl, ob seine Waffe schußbereit sei.
«Masopust!» schrie er seinem Rekruten über die Wiese hin zu, «mach das Türchen auf!»
Der Schnitter stach den Sensenstiel geschickt in den Boden dort, wo er sich gerade befand, und machte ein paar leichte Übungen, als hätte er einen Konditionslauf hinter sich. Dann zeigte er, dabei die Bizepse durchlockernd, auf den Fluß und rief dem Korporal zu.
«Darf ich mich ein wenig erfrischen?»
«Nicht, natürlich.»
«Klaro!» wieherte der Tscheche belustigt, «wir baden dann gemeinsam, zur Belohnung, nää?»
Und er schaute den Korporal an, als könnte er dessen Gedanken lesen, und wartete nur auf einen Wink.
«Wegtreten!» befahl dieser und richtete die Waffe vorschriftsmäßig zu ihm hin, «da lang, wir essen hinter dem Draht...» und ließ sofort seine MP sinken, als habe er nur einen peinlichen Scherz gemacht.