Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 14
2. Den selben Tag, 07.30
ОглавлениеSie warteten etwa fünfzig Meter vor der Schranke. In der Morgendämmerung hatten sie bereits vorher auf einem Waldparkplatz angehalten, um sich nach der Nacht in Ordnung zu bringen. Auf dem schmutzigen WC floß wie ein Pißstrahl dünn das Wasser, sie konnten sich ein bißchen abspülen. Rasieren war nicht nötig, die Natur hat den Schauspieler mit einem Flaum ausgerüstet, den abzukratzen alle zwei Tage genügte. Bei seinem Beruf eine Himmelsgabe.
Dann gab Dora ihren Männern frische Hemden und ermahnte sie, sich nicht zu bekleckern, denn die nächsten versprach sie ihnen erst drüben. Dabei sah sie, daß ihr Mann wieder das Stieramulett von seiner Mutter um den Hals trug. Jetzt kamen die beiden Thermosflaschen dran. Den Kaffee leerte Milan selbst, den Tee teilte die Mutter mit dem Sohn. Das Salamibrot aus der Alufolie schmeckte wie frisch. Der Himmel leergefegt, und die leichte Brise versprach einen angenehmen Reisetag. Von seinen Tücken sprachen sie nicht.
Er kippte den Sitz zurück und schlief eine Stunde lang tief, während Dora und Petřík auf der nahen Wiese sich den Ball zuwarfen, leise, um den Schläfer nicht zu stören. Als er wach war, lud er den Sohn zu einem Konditionslauf ein. Es ärgerte ihn, daß der Junge allzuschnell zu schnaufen beginnt. Dora füttert ihn zu gut und verzieht ihn! Er war entschlossen, im Flüchtlingslager, in dem sie für einige Zeit zum bloßen Warten genötigt sein würden, mit ihm Sport zu treiben. Doch er hat ihm jetzt damit nicht gedroht und ihr nichts vorgeworfen. Er wollte vor der Schlüsselszene keinem die Laune verderben.
In dem jugoslawischen Zollamt, hinter dem die Welt begann, mit keinem Stacheldraht umzäunt, war nicht viel los. Höchstens drei Autos rollten gleichzeitig zur Abfertigung. Der Schauspieler studierte die lässige Art, mit der die Fahrer, alle Österreicher, die Hand aus dem Fenster mit den Pässen hinausschoben, die von zwei jungen Grenzern abwechselnd auf einem Tischchen vor dem Gebäude gestempelt und gleich zurückgereicht wurden. Die Amtshandlung endete mit einem Lächeln.
Das Problem bestand darin, daß ihre Pässe nicht die richtige Farbe hatten. Um die undichte Stelle in dem Zaun der riesigen Besserungsanstalt zuzustopfen, für die Milan das ganze «Lager des Friedens und des Sozialismus» hielt, hat man sich in Prag für Jugoslawien zweierlei Pässe ausgedacht. Die normalen grünen wurden Prominenten ausgestellt mit Ausreisevisum für westliche Länder, zu denen, pflegte Milan zu sagen, hat er sich noch nicht durchgehurt. Für den Plebs, der höchstens nach Rumänien Auslauf bekam, gab es seit neuestem graue Pässe, und die Jugoslawen haben sich nolens volens verpflichtet, ihren Inhabern den Transit ausschließlich ostwärts zu gewähren.
Zu ihrer Ehre haben sie sich daran nur halbwegs gehalten, selbst die skeptische Dora wußte von Freunden, die hier ohne Schwierigkeiten durchkamen. Es war nur schwer festzustellen, wo wer aus dem Käfig herausgeflogen war, das hat man hier vielleicht gern mißbraucht. In Prag sprach sich herum, es sei gut, den Paß in grünes Papier einzuwickeln, damit das verräterische Grau nicht so schreie und den Wohltätern die Hilfe erleichtert würde. Das grüne Papier fehlte natürlich im heimatlichen Warenangebot, zuletzt halfen Petříks Wasserfarben. Nun lagen die frisch eingehüllten Pässe auf Milans Schoß, aber er wartete noch. Dora sah, er ist aufgeregt wie vor einer großen Premiere. Sie versuchte, ihn auf eine ihm vertraute Art zu beruhigen: Unerwartet beugte sie sich zu ihm und deutete drei Glücksspucker über seine linke Schulter an.
«Hals und Beinbruch!» wünschte sie ihm.
«Man wird mir schon dazu helfen...» sprach er nach seinem Ritual, «schnell, tut so, als ob ihr schlaft! Beide! Allez hopp!»
Und wie immer verschwanden Magenkrämpfe, Herzklopfen und die Rotation im Gehirn. Er startete und stürzte sich auf die Bühne, um sie für sich ganz einzunehmen, wie das nur Milan Čech konnte.
Man ließ hier den Grenzbalken kaum herunter, er blieb auch nach dem Wagen vor ihm oben. Gleich war Milan dran, reichte dem jungen Offizier die Pässe mit der Lässigkeit eines Mannes, der so was täglich tut. Wie er sich schon immer mit jeder Rolle auch physisch zu identifizieren wußte, befiel ihn sogar ein Gähnen, das bei ihm, nur Dora war es bekannt, ein Zeichen höchster Erregung war.
Der Offizier stempelte die Pässe ab, wandte sich zu ihm, um sie zurückzureichen. Und wie in einem Theaterstück zog er die Hand zurück, schaute sich den grünen Umschlag an und nahm ihn auseinander. Graue Farbe kam zum Vorschein.
«Moment mal!» sagte er, hielt die Dokumente zurück und fuhr in irgendeiner der südslawischen Sprachen fort, «fahren Sie dorthin.»
Er zeigte auf die Abstellspur. Der Schauspieler kämpfte jetzt gegen die Versuchung, das Gaspedal, Pässe ja oder nein! herunterzutreten. Noch bevor er sein Gehirn von der Ehrfurcht vor den wertlosen Papieren zu befreien vermochte und dies dem Fuß übermitteln konnte, drückte der Soldat eine Taste, und die Schranke schnellte nach unten. Die Chance war vorbei, und er, sich selbst verfluchend, bog ab, wohin befohlen.
«Was ist los?» flüsterte Dora, die Augen zu.
«Er geht ins Zollhaus...»
»Warum...?»
«Wie soll ich das wissen!»
«Macht nichts», war sie bemüht, ihn zu beruhigen, «wir haben dich lieb, weißt du?»
Es half wenig. Er sah im Rückspiegel, wie der Sohn dahinten krampfhaft die Augenlider zusammendrückte, und dieser unbeholfene Gehorsam reizte ihn obendrein.
«Schau doch mal lieber normal zu, anstatt so blöd zu grinsen!»
Jetzt zwinkerte der Junge wie schwachsinnig mit den Augen, doch ehe der Vater ihn weiter einschüchtern konnte, sagte Dora besänftigend.
«Jetzt muß der Hunderter helfen...»
Ihre Bekannten sind auch durchgekommen, nachdem sie geschmiert hatten, und so schob Dora in der Frühe einen der Hundertmarkscheine, bislang im Schuh versteckt, unter den grünen Umschlag. Der zweite Grenzer fertigte lächelnd und salutierend immer neue Autos ab. Die Sekunden zogen sich hin, es fing schon an, heiß zu werden, aus dem Zollhausfenster klang jugoslawische Volksmusik. Eine sich endlos wiederholende Melodie ging dem Schauspieler auf die Nerven; seine Sinne befanden sich in Lauerstellung für den kommenden Auftritt.
Da war er! Ihr Offizier kam aus dem Gebäude mit einer höheren Charge zurück. Ein älterer braunhäutiger Mann mit albanischer Nase hielt ihre Pässe.
«Aussteigen!» befahl er, und als er sah, daß der Fahrer dies nur auf sich bezog, fügte er hinzu, «alle drei!»
Milan tat, als weckte er sie.
«Dora...! Petřík! Wir müssen aussteigen!»
Sie half dem Sohn, sich aus dem Gepäck herauszuschälen. In ihre Ohren prägte sich schmerzhaft das eintönige Musikmotiv ein, und ihre Augen brannten von den schrillen Farben der Wagen, die froh die Grenze der beiden Welten passierten. Ihr Herz verkrampfte sich. Wie vereinsamt sie hier waren, wie machtlos. Milan spielte mit Ausdauer weiter.
«Eine Durchsuchung? Soll ich den Koffer aufmachen...?»
Seine glaubhafte Sorglosigkeit wirkte nicht. Das Nashorn hielt eine kurze Rede.
«Sie haben die Vorschriften Ihres Landes mißachtet, die auch wir hier respektieren müssen. Ist Ihnen das klar?»
«Ich verstehe nicht...»
«Sprechen Sie Deutsch?»
Er war wie ein Papagei, selbst aus dem Deutschen hat er genug mitgenommen in der Zeit, als er den Fučíkfilm drehte; den Kommissar Böhm, einen Gestapo-Mephisto, spielte ein Kollege aus der DDR, sie wetteten damals, wer von wem mehr lernt, und Milan gewann turmhoch.
«Ein wenig», untertrieb er, um sich nicht in ein gefährliches Gespräch einlassen zu müssen; sein ausgezeichnetes Englisch verriet er nicht.
«Ihr habt nicht die richtigen Pässe», sagte ihm der Jugoslawe in gutem Deutsch.
«Was...?»
«Sie haben keine Pässe für den Westen. Die grünen. Die grauen gelten an diesem Übergang nicht.»
«Na, und...?» täuschte er Begriffsstutzigkeit überzeugend vor.
«Sie haben sich eines Vergehens schuldig gemacht. Wir müssen Sie bis zur Entscheidung Ihrer Behörden festhalten.»
Das gibt’s nicht! Das Gehirn suchte hartnäckig nach einem Weg aus dieser Falle. Um Zeit zu gewinnen, verhedderte er sich im Deutschen.
«Ich verstehe nicht... Was müssen Sie?»
Der Mann legte seine Handgelenke bildhaft kreuzweise übereinander, es fehlten nur die Handschellen. Der Schauspieler erschrak, wie das nur Unschuldige schaffen.
«Warum denn?»
Der Offizier führte mit zwei Fingern einen Lauf auf die Grenze vor.
«Flucht. Flucht nach Westen! Husch, husch!»
«Westen?» Der Schauspieler pokerte ums Ganze. «Warum Westen? Wir nix Westen, wir Hungaria! Ungarn! Wir Praha! Prag!»
Der Mann hat hier so viele Schwindeleien erlebt, daß er darin unterrichten könnte.
«Dort nix Ungarn», er lachte ihn aus, «dort Österreich.»
Dann wurde er doch noch überrascht, als sich seine Geisel unerwartet zu der verträumt wirkenden Frau umdrehte und sie anschrie, um so überzeugender, als er das auf tschechisch tat.
«Hör mal, du bist so blöd, das hat die Welt noch nicht erlebt. Warum hast du mich hierher bugsiert, du blöde Gans?»
Er sah, daß er sogar sie überraschte, und brüllte um so echter.
«Meine Herren, da endet man noch im Irrenhaus. Sie soll mich nach Ungarn lotsen und bringt mich hierher! Ich probiere morgen, Probe! Nationaltheater, nix Österreich. Bin tschechischer Schauspieler!»
Sie haben’s geschluckt, triumphierte er, als ihre amtlichen Masken von unwillkürlicher Sympathie ausgelöst wurden der Frau gegenüber, die auch in ihrem Erschrecken noch schön war. Petřík weinte bereits lautlos vor sich hin. Die Kindertränen brachten auch die Entscheidung. Der Ältere fragte.
«Wo haben Sie die Karte?»
Der Schock seines Kindes warf den Schauspieler aus dem Konzept.
«Was...?»
«Die Landkarte.»
Er kam wieder zu sich und schlüpfte ins Auto zurück. Sie lag hinter der Windschutzscheibe. Während Dora Petřík besänftigte, faltete der Offizier die Karte auf der Motorhaube auseinander und zeichnete mit einem dicken Bleistift die Strecke an, von hier zur ungarischen Grenze.
«Schleunigst!» befahl er dann, «nix rechts, nix links, schnurstracks gradaus!»
Er drohte ihm mit dem Finger wie einem Schuljungen und marschierte ins Zollhaus zurück. Der Jüngere, der von ihm die Pässe bekam, bedeutete jetzt dem Schauspieler, den Wagen umzudrehen.
«Steigt ein!» kläffte Milan die Seinen an, er mußte das Schmierentheater zu Ende führen. Er warf einen wütenden Blick auf Dora, lächelte dem Kerl ganz unterwürfig zu, der ihr soeben die verräterischen Dokumente zurückgab und dazu galant den Hunderter.
Kurz darauf hielt Milan an der ersten Stelle, an der er von der Grenze aus nicht mehr zu sehen war, und studierte fieberhaft die Karte.
«Wo kommen wir jetzt durch? Vielleicht sicherheitshalber erst bei der übernächsten Grenzstation, ich denke, sie haben’s gefressen, glaubst du auch?»
«Petřík auf jeden Fall», sagte Dora.
«Er ist doch nicht so blöd, er kapiert, wann ich Theater spiele und warum! Hast du’s tatsächlich nicht gemerkt?»
«Nein, Papi...» piepste das Kind gerade so, wie er es am wenigsten vertragen konnte.
«Manchmal hab’ ich das Gefühl, du bist irgendwie auf den Kopf gefallen und hast es vor uns verheimlicht.»
«Nein, Papi...»
«Er braucht heute eher eine Aufmunterung...!» versuchte Dora ihn milde zu stimmen.
«Heute würde ich es vor allem brauchen! Und wenn ich mich nicht irre, war dieser Übergang hier deine Idee.»
Sie kannte seine Zustände uferloser Verbitterung, aus denen er sich mit krampfhaften Sprüchen und auch Taten freizumachen versuchte, was ihn bereits ein paar gute Rollen und Bekannte gekostet hatte. So stellte sie sich lieber auf seine Seite.
«Papa hat recht, wir müssen ihm heute behilflich sein. Es war nicht echt, weißt du. Er schrie nur so, damit die denken, ich bin schuld daran, und lassen uns frei, verstehst du?»
«Ja, Mami...»
Der Schauspieler beruhigte sich wieder und wußte sogar zu scherzen.
«Du solltest besser zu mir sagen: Gut gebrüllt, Löwe! Weißt du, woher das stammt?»
«Nein, Vati...»
«Ich hab’ dir doch den Titel des Stücks gesagt, als wir in der Nacht die Eule und die Rehlein gesehen haben... na? Erinnerst du dich? Du hast es sogar gesehen: Ich war darin der Waldfürst Oberon.»
Als das Kind den Kopf schüttelte, sagte er ihm mitleidig vor.
«Der Sommer... Der Sommernacht... na?...»
Petřík erinnerte sich trotzdem nicht, was den Vater wieder verärgerte.
«Na, doch der Sommernachtstraum, Mensch. Du kannst dir aber auch gar nichts merken! Du wirst am Ende bei der Post landen.»
«Also, wo jetzt...» fragte Dora, um dem Jungen zu helfen.
«Was wo?»
«Wo wollen wir es jetzt versuchen?»
Er war wieder voll bei der Sache und stach entschieden mit dem Finger in die Karte.
«Überlaß das jetzt mir! Sicher ist sicher: Wir fahren bis hierhin nach unten!»