Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 18
6. Den selben Tag, 12.00
ОглавлениеEr hat sich entschieden zu glauben, daß die Jugos nicht die Zeit oder Technik hätten, dem Irrflug eines jeden Böhmenvogels zu folgen. Also wollte er es riskieren. Die zweite Möglichkeit, Schreck laß nach! war der Urlaub in Bulgarien mit einem neuen Versuch bei der Rückkehr. Er wollte ein Profi bleiben, auch auf der Flucht: Deshalb stellte er das Auto auch hier in Sichtweite der Grenze ab, um, wie er oft sagte, wenn er für eine Rolle in Kneipen und auf Spielplätzen Leutchen studierte, das Gezappel zu beobachten.
Sie aßen den Rest ihres Proviants. Sein Magen vertrug Konserven nicht, so daß sie sich die demütigende Ladung ersparen konnten, unter der in bolschewistischer Neuzeit die Autos tschechoslowakischer Touristen zusammenbrachen. Früher, klagte er bitter, ließ der Tscheche auf dem Mount Everest seine Flagge zurück, heute nur leere Gänseblutdosen. Wie immer, wenn er auf ein Ziel lossteuerte, schloß er jede andere Möglichkeit aus und verbrannte alle Brücken hinter sich. Als ihn Dora vorgestern noch fragte, was sie einkaufen sollte, erklärte er.
«Brot, Wurst, Käse und Äpfel. Dienstag abend füttern uns entweder die Österreicher oder unsere Gefängniswärter!»
Er aß wie ein Spatz, er überwachte seine Figur, damit sein Romeo, lachte er, nicht wie die Tenor-Hänschen aus der «Verkauften Braut» aussehe. Nur vor Premieren stopfte er sich wie ein Nimmersatt voll, um die Bäche von Schweiß wettmachen zu können. Dora kam nicht auf den Gedanken, daß eben dies hier eine seiner größten sein könnte, und kaufte so ein. Jetzt reichten ihm gerade noch die letzten Reste, und sie konnte nur hoffen, daß sie bald durch sind und vor dem Abend im Flüchtlingslager ankommen.
Dabei dachte er nicht einmal ans Essen. Er saß auf dem Plaid, das sie für ihn auf der Grasböschung ausgebreitet hatte, schluckte gierig, ohne zu merken, was, und drückte unauffällig den Stopper seiner Uhr, so wie er in der Garderobe seine Auftritte kontrollierte, damit sie sich nicht wie bei den Schmierenkollegen maßlos ausdehnen oder verkürzen.
«Pünktlich zwanzig Sekunden!» sagte er vor sich hin, «die Taste läßt die Schranken immer gleich schnell rauf und runter... ein einziger Zöllner, meistens ein einziges Auto... wenn ich mich als zweiter einreihe und direkt hinter dem Vordermann losfahre, muß ich in zwanzig Sekunden dreimal durch sein... schießen können sie nicht, schon wegen dem vorne.»
Damit wandte er sich ihr zu. Sie nickte. Doch er wollte es von ihr laut hören.
«Riskieren wir’s?»
«Wir können es probieren...»
«Bist also nicht dafür?»
«Aber doch...»
«Das sagst du nicht gerade begeistert!»
«Verzeih mir, bin ein bißchen müde...»
«Du? Du hast die ganze Nacht geschlafen!»
«Sei mir nicht böse, es geht gleich wieder vorbei. Vielleicht bin ich aufgeregt.»
Damit goß sie nur Öl ins Feuer.
«Aufgeregt darf heute nur ich sein, denn ich trage unsere Haut zu Markte!»
«Ich weiß doch, sei mir nicht...»
«Wenn du aber willst, drehen wir einfach um!»
«Warum sollten wir...?»
«Morgen bist du wieder bei deiner Genossin Muttilein!»
«Milan!» sie wollte um jeden Preis einen sinnlosen Streit verhindern, «ich bitte dich, laß das! Mein Platz ist bei dir!»
«Das klingt direkt, als wäre das ein ganz gefährlicher Arbeitsplatz. Etwas wie eine alte Kohlengrube vorm Einsturz! Wenn man hier einen einbuchtet, bin ich das, euch zwei läßt man gewiß laufen, mußt keine Angst haben!»
Er hat eben die Dreharbeiten an der Filmversion von Čapeks Roman «Die erste Schicht» beendet, für jede Klappe in dem echten Schacht brauchte er einen Schnaps; er glaubte, das Ganze wird gleich runterfallen, und wollte nicht begreifen, wie jemand jeden Morgen unter Tage einfahren kann, lieber würde ich nichts fressen! vertraute er sich bleich Dora an. Ähnlich erwartete er den Herzinfarkt, als er in einem anderen Streifen einen kranken Arzt mimte, und seit «Hamlet»-Zeiten schenkte er sich den Wein allein ein, als fürchtete er sich vor Giftmischern. Es kam ihr vor, er verliere sich jetzt in der zukünftigen Rolle des Häftlings, und sie wollte ihn rechtzeitig befreien.
«Milan, Liebster, ängstige dich nicht selber und uns noch dazu! Du hast dich einmal entschlossen, also los! Du hast es hier immer gehaßt, bist dir gewiß, daß du es dort schaffst, sollst du dir ewig vorwerfen, daß du diese Chance auf den letzten Metern hast sausen lassen? Andere sind durchgekommen, wir kommen auch durch. In der Früh war es einfach Pech, steigen wir ein, und los!»
«Mami», sagte Petřík in die Pause hinein überraschend, «ich hab’ noch Hunger...»
Auch wenn er wütend war, wußte Milan immer, was er tat, eine Berufsdeformation sicherlich, wie es ihm Dora einmal anschaulich vorgeführt hatte. Auch jetzt wurde ihm bewußt, daß er da angelangt war, wo jedesmal die Entscheidung fiel, ob er sich beruhigte und wieder normal würde oder ob er sich bis zur Unzurechnungsfähigkeit gehen ließ, die im Gebrüll oder sogar im Abgang gipfelte und am nächsten Morgen mit Entschuldigungen und Rosen endete. Die Anspielung des Kindes genügte, um Dora zu beschimpfen, sie hätte wieder wie üblich an nichts, aber auch an gar nichts gedacht! er begriff jedoch rechtzeitig, daß, falls er sich jetzt nicht beherrscht, alles aus ist. Die Fähigkeit einer schnellen und genauen Reaktion verhalf ihm dazu, die Stimmung schlagartig zu verändern.
«Nein!» er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, «ich habe dir alles weggeputzt! Verzeihung, Petřík! Die Mutti hat recht: Wir steigen ein und fahren los, und du kannst dir in der ersten Konditorei bestellen, was dein Magen schafft!»
«Alles...?» vergewisserte er sich mißtrauisch.
«Ich soll auf der Stelle versinken!» wiederholte er ihre alte Zauberformel, die das Ehrenwort ersetzte, «also», er wandte sich zu Dora, als hätte er vorher nie gefragt, «ist das dein Wunsch?»
So fragte er sie zum erstenmal in der Hochzeitsnacht, als sie endlich zu seiner Geliebten werden sollte. Sie hat begriffen, was für ihn unerläßlich war: daß die Verantwortung für wichtige Entscheidungen wenigstens dem Anschein nach sie zu tragen hat. Aus Aberglauben! behauptete er hartnäckig, sie aber erkannte bald die wahre Ursache: Obwohl er gern auch vor ihr den strammen Kerl spielte, der er in den meisten Rollen war, brachte ihn jeder Mißerfolg so aus dem Gleichgewicht, daß er ihn jemand anderem anhängen mußte. Aber schließlich war sie gerade deswegen seine Frau, eigentlich konnte sie ihm nur so im Leben helfen.
«Ja», sagte sie auch jetzt, «es ist mein Wunsch. Ich wünsche es mir wegen dir, wegen Petřík und auch für mich selbst!»
«Okay!» sagte er, wie er es sich angewöhnt hatte, seitdem er seinen ersten Western mit John Wayne gesehen hatte, heimlich in Westberlin eingeschlichen, während östlich der Mauer die Galapremiere seines Fučíkfilms lief, «okay», wiederholte er erleichtert, «wie du willst. Dein Wunsch ist für uns Befehl, nicht wahr, Petřík? Come on!»
Er stand auf, schaute zu der Grenze hin und erstarrte.
«Scheiße!»
«Ist was?»
«Hast du keine Augen? Da ist jetzt noch ein zweiter! Sie fertigen paarweise ab!»
«Und was willst du...?»
«Was wohl! Na, was wohl? Sich aufknüpfen oder warten!»