Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 19
7. Den selben Tag, 12.15
ОглавлениеDer Zauberer fing an zu verzagen. Als ahnte der Fahrer etwas, stand er die ganze Zeit vor dem abgeschlossenen Bus, der bald zu einem fahrbaren Kerker werden sollte, die gekreuzten Arme unter die Achseln gesteckt, so daß die rechte Hand den Zugang zu der Hemdtasche betonierte, in die er vorher den Schlüsselbund geschoben hatte. Solange er die Pratzen nicht runternimmt, hilft kein Trick! Danach müßte man ihn nur für einige Sekunden weglocken, damit Strniště an seinen Umschlag käme.
Er hat sich bereits damit abgefunden, den Koffer in dem Bauch des Blechwals zurückzulassen, in dem Umschlag aber befanden sich Versicherungsscheine für seine Zukunft, ohne die müßte er umkehren. Den meisten seiner Landsleute hatte er voraus, den Westen zu kennen, und er wußte, wie hier der Hase läuft. Vor fünfzehn Jahren hätte er es gewagt, mit nacktem Arsch gegen die gesamte Konkurrenz anzutreten, seine geschickten Händchen hätten es allein geschafft; heute, in seinem Alter, sollte ihm der geschickt versteckte Umschlag helfen. Allzu geschickt versteckt!
Seit dem Augenblick, als er das fliehende Duo erblickte und begriff, daß ihn der durchtriebene Gärtner wie einen Schulbuben reingelegt hatte, lähmte ihn die Vorahnung, daß es ähnlich wie beim letztenmal enden wird. Als er beim Frühstück eine Verschiebung der Abfahrt herausgeschunden hat, kam es ihm natürlich nicht in den Sinn, irgendeinen Krimskrams einzukaufen. Im nahen Supermarkt wühlte er in einem Berg verbilligter Herrenslips herum, von dem aus er den Bus sehen konnte. Die ersten Ausflügler auf den Spuren der europäischen Arbeiterbewegung, die sich bereits mit ihrem Schicksal versöhnt und ihre bescheidenen Devisen verbraucht hatten, baten den Fahrer, ihnen aufzumachen, worauf der wiederholt mit dem Kopf verneinte, ohne sich zu rühren. Die Mäntel und weitere Habseligkeiten, vom nichtsahnenden Hausdiener während des Frühstücks in den Bus gebracht, stellten samt Koffern und Pässen das wirkungsvollste Pfand dar.
Da sah Strniště, wie der verdiente Reiseleiter und der Lehrer zurückkommen, die offensichtlich für den Fahrer mit eingekauft hatten; sie reichten ihm zwei der bunten Einkaufstüten hin, mit denen sie behängt waren, er zog seine fleischigen Hände aus den Achseln und übernahm die Ware. Da ließ der Zauberer die Unterwäsche sein und eilte nach draußen, um sein Können vorzuführen. Im Laufschritt erreichte er den Bus, vor dem soeben der Streit losbrach.
Die hochtoupierte Verkäuferin hielt eine durchsichtige Plastiktüte in der Hand; eine knallrote Strumpfhose prangte darin und ein schwarzer BH mit purpurner Nylonspitze. Mit einer Stimme, vor der auf dem Platz kein Entkommen war, verlangte sie ihren Koffer, was das Führungstrio ablehnte.
«Na hör’n Sie mal», schrie das Mädchen und zeigte auf die Gruppe, die mit ihren Einkäufen herumstand, «wir werden an der Grenze wie eine Schmugglerbande aussehen.»
«Dort, Genossin», nach dem Namen suchte der Reiseleiter nicht einmal mehr, er wollte nichts als weg von hier, «werde ich das schon erklären, darauf kannst du dich verlassen! So, Genossen, alle da?»
Zustimmendes Gemurmel antwortete ihm.
«Also aufmachen, Genosse Dadák!»
«Momeeent», rebellierte das Mädchen, «ich will in Budweis nicht wie eine Nutte aussteigen, ich möchte das in den Koffer reinstecken.»
Er war im Geist bereits in Böhmen, danach klang auch sein Ton.
«Steck es dir sonstwohin! Den Koffer kriegst du erst daheim. Hier bin ich dein Reiseleiter.»
«Aber nicht mein Wärter.»
«Was... hast du da gesagt?»
«Und duzen Sie mich nicht. Wer, glauben Sie, sind Sie denn?»
Die Gruppe beobachtete die plötzlich ausgebrochene Streiterei wie ein spannendes Tennismatch, die Köpfe pendelten zwischen den beiden hin und her. Strniště hat sich zum Fahrer durchgeschlängelt. Erst das Stutzen des Lehrers hatte den Reiseleiter darauf aufmerksam gemacht, daß auf dem Trottoir ein paar ortsansässige Zuschauer stehenblieben, vom Duell exotischer Stimmen angezogen. So zischte er das Mädchen nur an, was jedoch einem Gebrüll gleichkam.
«Das werde ich dir... Ihnen», verbesserte er sich zwar, doch das klang noch unheilvoller, «zu Hause schon zeigen... Alles rein, wir starten!»
«Wissen Sie was», kreischte das Mädchen, «ich zeige Ihnen auch was, und zwar gleich!»
Sie schmiß die Tüte mit der Wäsche auf das Pflaster, drehte dem verdienten Parteigenossen den Rücken zu, beugte sich tief nach vorn und hob mit beiden Händen das ohnehin kurze Röckchen hoch. Sie enthüllte einen rosigen Hintern, mit durchsichtigem Höschenstoff nur spärlich bedeckt. Dabei blieb sie ziemlich lange. Der Reiseleiter klappte lautlos den Mund auf, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er stach seinen zitternden Zeigefinger in Richtung Popo und beklagte sich vor seinen Landsleuten.
«Ihr habt das... alle... gesehen...»
Sie schauten benommen weiter zu, bis das Mädchen den Rock wieder fallen ließ. Noch in der Verbeugung griff sie nach ihrer Tüte, richtete sich auf und ging weg. Der Konflikt nahm ein neues Ausmaß an.
«Wohin geht sie...?» stotterte der Mann, «wohin geht sie? Sofort zurück, ich habe Ihren Paß!»
Sie drehte sich um und erklärte feierlich klangvoll.
«Dann werd’ ich mir halt einen anderen besorgen müssen. Aber nur von einem Land, in dem Bolschewisten noch auf Bäumen klettern!»
Sie zog wieder los und davon, immer schneller wie ein Wagen im Anfahren. Der Bonze verlor endgültig die Nerven und setzte ihr nach.
«Stehen bleiben! Halt! Steh!»
Er holte sie ein und ging gleich vom Duzen zu Taten über: Er packte sie bei der Hand, doch umgehend landete mit einem Schwung in seinem Gesicht die Tüte mit der Reizwäsche, die als Köder für den reichen Ami-Beau dienen sollte, den die Jarina ihr sicher schickt. Das Mädchen hieb damit einige Male auf den völlig verstörten Genossen ein, was der Tschechenhaufen, versteinert, wie eine Szene aus alten Slapstickfilmen wahrnahm. Sie aber, die eben diese Art von Flucht stets für eine hirnverbrannte Idee dummer Gänse hielt, die dann, wegen Republikflucht verurteilt, jahrelang nicht nach Hause fahren durften, wurde nun von dem Schrecken ergriffen, diese Reisekameraden würden sie jetzt mit Gewalt in den Blechkorb zwingen und zu jenem Hühnerstall einliefern, aus dem nach einem solchen Theater kein Entkommen war, selbst wenn Robert Redford sie heiraten möchte!
Běla, Bobina genannt, legte wie die meisten ihrer Altersklasse die Faulheit nur in der Disco ab. Nicht einmal schwimmen zu lernen hatte sie Lust, und niemand hat sie jemals rennen gesehen. Wenn sie jetzt losspritzte wie ein scheugemachter Hase, wurde davon sie selbst überrascht.
«Ihr naaach!» donnerte der verdiente Kommunist, dem mit ihr der Traum von weltweit geführter Arbeiterspurensucherei für immer entschwand, «glotzt nicht so, haltet sie fest, sie macht uns alle noch fix und fertig!»
Einige Männer schossen gehorsam los, als fände diese Jagd auf der Heimatscholle statt. Niemand zerbrach sich den Kopf, wie man sie brüllend und beißend aus einer fremden Stadt entführen wird, die dank einer anderen Zeitgeschichte Ähnliches jahrzehntelang nicht mehr erlebt hatte. Die Österreicher, durch barbarische Töne und Bilder angezogen, standen bisher unentschlossen da.
Als wollte er beim Fahrer Seelentrost finden, stützte sich Strniště auf dessen Schulter.
«Fürchterlich, nicht wahr?» sprach er zu ihm und zog ihm die Schlüssel so gekonnt aus der Hemdtasche, wie er das bei Maestro Toscani gelernt hatte, «fangen Sie sie!» lockte er ihn vom Bus weg, «schöne Schlappe für uns alle!»
Worauf ihm der Kerl eine fast amüsierte Antwort gab.
«Für mich wohl kaum.»
Die Hetzjagd nahm inzwischen ein schnelles Ende. Obwohl die Verkäuferin kein einziges Fremdwort blöken konnte, begriff sie in der Gefahr irgendwie, was das Schild Gendarmerie bedeutet, das sie am oberen Platzende entdeckte. Die Angst verlieh ihr eine akrobatische Wendigkeit, sie überquerte das Katzenkopfpflaster ohne Stolpern und konnte gerade noch auf der Schwelle der Wachstube einem Beamten ausweichen, der gerade rausging. Die Verfolger hielten an, schnaufend schauten sie zu dem Eingang wie eine Meute hungriger Wölfe. Der verdatterte Gendarm rückte vorsichtshalber sein Koppel mit der Pistole zurecht. Da zogen sie sich bereits zurück.
«Meiner Empfehlung nach hätten wir schon am Morgen weg sollen!» spendete sich der Busfahrer ein Selbstlob und pfiff vor sich hin.
Strniště klopfte ihm voller Anerkennung wieder auf die Schulter.
«Köpfchen muß man haben!»
Dabei steckte er ihm die Schlüssel in die Tasche zurück. Er konnte nicht mehr riskieren, daß sich der Dickwanst daran erinnerte, wer die folgenschwere Verzögerung vorgeschlagen hatte, und dies mit dem verschwundenen Schlüsselbund in den richtigen Zusammenhang bringt. Unmittelbar darauf fischte der Mann tatsächlich danach. Als er aber dann öffnete, pferchte er sich als erster in den Bus hinein und verdeckte mit dem Riesenschrank seines Rückens den Fahrersitz: An einen Griff zu dem Umschlag war nicht zu denken.
Des kreideweiß bleichen Reiseleiters und des beefsteakroten Lehrers bemächtigte sich ein einziger Gedanke: den Rest der Herde hinter den Drahtzaun zurückzujagen.
«Einsteigen, einsteigen! Jetzt haftet jeder persönlich für jeden! Abfahrt!»
Niedergeschlagen mußte der Zauberer ebenfalls einsteigen und zerbrach sich den Kopf, wo sich noch eine Gelegenheit bieten könnte.