Читать книгу Ende der großen Ferien - Pavel Kohout - Страница 6
2. Der Korporal
ОглавлениеEr schaute zu, wie die blendende orangefarbene Sonnenscheibe schnell hinter den Wall des Mischwalds auf dem Nachbarhügel sinkt, doch anstatt des Gefühls eines stillen Behagens, das diesen Augenblick früher begleitet hatte, stellte sich wieder der dumpfe Magenschmerz ein. Um ihn loszuwerden, atmete er die feuchte Vorabendluft tief ein, die nach frischem Heu roch, und ließ dabei im Fernglas die ihm liebsten Details im Blickwinkel des Wachturms herankommen: Buschgruppen, die niedrige Remise, verwilderte Birnbäume auf Rainen, die ihm als lebendige Denkmäler längst vergangener Zeiten vorkamen. Er, ein leidenschaftlicher Großstädter, der gern sagte, sein Moos sei der Asphalt und Schornsteine seien ihm die liebsten Bäume, begann ziemlich bald, diesen verlassenen Winkel Südmährens zu mögen, bis er ihm plötzlich ans Herz gewachsen war, um so überraschender, als es hier um eine vergewaltigte Landschaft ging, ihrer Natur beraubt, bevölkert höchstens von Halberwachsenen in Uniform, die eine schon seit langem sinnlos gewordene Aufgabe erfüllten: im Herzen Europas, das feierlich Verträge über gemeinsame Sicherheit und Zusammenarbeit unterschrieb, künstlich die Zeit der zerrissenen Wege und abgebrochenen Brücken zu verlängern. Obwohl er schon früher so gefühlt hatte, und er verheimlichte das kaum, galt er allgemein als ein guter Soldat, und er war es auch. Sein Charakter lehnte alle zu simplen Ansichten ab, sei es für oder gegen. Seit der Kindheit wollte er alles in der Welt selbst entdecken, wenn es ging persönlich, und zwang sich bis dahin, immer den möglichst objektiven Standpunkt zu vertreten. Darum war er auch zu einer Staatsmacht loyal, auf die er nach der Ausbildung den Eid geleistet hatte, obwohl die meisten ihrer Vertreter ihn abstießen. Armeen hat man auch auf der anderen Seite, warum sollten deren Politiker und Generäle besser sein. Übrigens, zum Militär hierzulande mußte man pflichtgemäß, und er hat sich diesen Elitedienst beim Grenzschutz nicht mit krummen Tricks erkauft. Er war, versteht sich, im Jugendverband, wollte sich in den legalen politischen Strukturen engagieren, weil ihm all die diversen Chartas wie Heimatvereine aus den Zeiten der nationalen Wiedergeburt erschienen waren, niemals aber nahm er sich ein Blatt vor den Mund, offensichtlich ein Grund dafür, warum er es zwei Jahre nacheinander nicht zur Hochschule für Ökonomie gebracht hat. Er ist keinen der üblichen Schleichwege gegangen, nie hat er die Miesepeter vom Stadtkomitee, die ihn wahrscheinlich auf dem Gewissen hatten, um etwas angebettelt, obwohl sie gewiß darauf gewartet haben. Er wich selbst vor Eltern und Brüdern nicht zurück, die er ehrlich mochte, als sie ihn davon zu überzeugen versuchten, daß Starrköpfigkeit zu gewissen Zeiten nur eine Art von Dummheit ist, und ein vernünftiger Kompromiß hat noch niemanden um seine Ehre gebracht. Für so was, sagte er, bliebe ihm Zeit genug, ebenso wie für Mädchen, die anscheinend nur das eine wollen. Gelassen ließ er sich einberufen, und in der Armee stellte man bald fest, wen man da vor sich hatte. Nicht einmal dort ließ er sich jedoch etwas einfallen, was er nicht unbedingt mußte; das war auch der Grund, warum man ihn, den hochgewachsenen, starken, wendigen und außerdem auch hübschen Jungen, den städtischen Jugendmeister in Karate, nicht mehr zum Offizier drängte, man freute sich, einen so tüchtigen Mann ganze zwei Jahre am Grenzzaun zu haben. Jetzt wurde er schon Unteroffizier, hatte einen Spezialkurs für Nahkampf absolviert; seinen dritten Hochschulantrag hat die Armee vorbehaltlos empfohlen, und so genoß er die letzten Wochen des Lebens in der freien Natur, die er für sich entdeckte und die ihm während der Zeit hier so vertraut wurde. «Ein Paradies fürs Auge...» fing er an, die tschechische Hymne zu verstehen, die ihm lieber war als die eigene slowakische, in der es nur so blitzte und donnerte.
Doch dann schlug auch hier ein Blitz ein.
Nach achtzehn Monaten, in denen hier nur die Hufe des Hochwilds den glattgeeggten Ackerboden des Sicherheitsstreifens stempelten, hat es in der ersten Mainacht gerade im Abschnitt seiner Kompanie einen Fluchtversuch gegeben. «Der Störer» hat wirklich Alarm ausgelöst, und die hochgedrillte Militärmaschinerie war ihm im Handumdrehen auf der Spur, griff nach seinem Nacken. Dann machte der Jüngling die letzte Dummheit seines kurzen Lebens. Statt sich zu ergeben und sich die drei Jahre aufbrummen zu lassen, die bei guter Führung halbiert werden konnten, stand er auf, gewiß durch den Schrei seiner Jäger verblödet, das Hundegebell und die leckenden Zungen der Scheinwerfer, und ist direkt auf die österreichische Grenze zugerannt. Nicht einmal so wäre er ihnen entwischt, es hat ihn überdies der Stacheldrahtzaun erwartet, und vielleicht wäre er schließlich vor dem Fluß zurückgeschreckt, noch immer angeschwollen nach dem Sturzregen im April. Zum Unglück jedoch kreuzte gerade Oberleutnant Scherg seinen Weg. Sein Name war auch seine Visitenkarte, unterschiedslos hetzte er hier alle, als versuchte er seinen ewigen Frauenfrust, sie konnten seinen beißenden Schweiß nur schwerlich ertragen! mit Kraftmeierei auszugleichen, die ihm das Gefühl, ein Mannsbild zu sein, wieder verschaffte. Er lief einem Rekruten nach, der soeben aus dem Ausbildungskamp angekommen war, ohne die geringste Ahnung, wie es hier in Wirklichkeit zugeht, und brüllte ihm ins Ohr wie von Sinnen.
«Schieß, Himmelherrgott, schieß!»
Da zischten bereits die Leuchtraketen ringsumher hoch, und der Nachthimmel blühte mit weißen, grünen, blauen und orangen Girlanden auf, sie markierten Schießsektoren. Der Rekrut hat nachtwandlerisch reagieren müssen, denn gleich darauf hat Scherg losgelegt.
«Los, Feuer, Kruzitürken, sonst kommst du vor den Kadi!»
So pumpte er ihn von hinten mit Blei voll, schoß auf fünfzig Meter das Magazin explosiver Geschosse leer, wonach man dann den armen Teufel zum Kübelwagen in der Plane tragen mußte und die Reste erst bei Tagesanbruch einsammeln konnte. Er hat genug für zehn abbekommen. Während der Untersuchung hat sich Scherg feige verteidigt, er habe nur zum Warnschuß kommandiert, der Grünschnabel hätte das doch wissen müssen, und falls er bei der Schulung gepennt haben sollte, sei das doch sein Problem! Natürlich hat den Leutnant keiner gefragt, warum er denn nicht selbst geschossen hat, er hielt doch seinen Neun-Kaliber in der Hand! Aber es sollte noch schlimmer kommen. Als der Schütze, die Hose voller Angst, zum Regiment gebracht wurde, hat jeder fest damit gerechnet, der Mann kriegt wenigstens zwei Wochen Bau, statt dessen hat ihnen abends der Kommandantvertreter einen Helden eingeliefert, den die Bonzen, bevor sie ihn mit Bier vollaufen ließen, für den Mord mit einem Lobvermerk und einer Woche Urlaub belohnten. Er trat ihn an, sobald er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, und der Korporal hatte bereits zehn andere im Visier, die ebenso dringend nach Hause zu ihrer Alten mußten und sich nun im klaren waren, wie das am schnellsten zu deichseln sei. Sie waren jetzt fähig, ganz ohne Warnung selbst auf Heidelbeeren- und Pilzsammler loszuballern, die sich ab und zu bis in die äußere Schutzzone verirrten. Scherg, den man, weil er sich von dem Malheur so distanzierte, bei dem Lobspenden ausgelassen hatte, wollte nun das Versäumte nachholen und gab in der Offizierskantine, wenn er sich wieder einmal besoffen hatte, diverse Schreiereien von sich, es habe sich damals um eine geheime Richtlinie gehandelt, die er kannte, und deswegen habe er das Kommando gegeben.
Das schlimmste daran war, daß ihm der Korporal glaubte.
Erst dann befiel ihn die Angst, und die meldete sich immer wieder mit chronischen Magenschmerzen. Die Landschaft, an der er Gefallen fand, vor allem ihrer weichen Arglosigkeit wegen, begann ihm wie eine Falle vorzukommen, auch ihm, ihrem Beschützer, gestellt. Er hörte nicht auf, darüber nachzudenken, wie er sich selbst in einer solchen Lage verhielte. Natürlich hätte er zuerst in die Luft geschossen, dessen war er sich sicher, aber was wäre, wenn der Angsthase weiterliefe? Ihn nicht zu treffen, mit Absicht? Auf die Entfernung und mit der tollen Knarre? Wer sollte ihm hier auf den Leim gehen? Scherg wäre jedenfalls der Letzte. Auf die Beine zielen – leicht gesagt, doch es klappt nur im Schießstand, im Terrain reicht es, wenn einer der beiden stolpert. So hätte er ihn wahrscheinlich weniger durchlöchert, doch sicher mit dem gleichen Ergebnis. Die zweite Möglichkeit bot nur der Divisionsankläger an, und der Korporal bezweifelte nicht, daß er von Scherg während der Ermittlungen in die Pfanne gehauen würde, der hat hier doch seine unbeugsame Starrköpfigkeit am schlechtesten vertragen. Und obendrein hätten die niederschmetternden Kaderbegutachtungen ihn total fertiggemacht, von den Bratislaver Jugendverbandsonkeln freudig ausgestellt. Alles in allem würde dabei dasselbe herausspringen, was auch der Trottel für versuchte Republikflucht bekommen haben könnte, wäre er nicht in Panik geraten. Auch wenn der Korporal ein Gottloser war, die Eltern, gläubige Kommunisten, haben alle Söhne für die Partei erzogen, da fehlte nur er noch als Benjamin! hat er seit jener Nacht im stillen wiederholt gesagt: Mein Gott, verkünde wenigstens deinen flüchtenden Christen, sie sollten diese Kompanie meiden, solange ich bei ihr mir die Beine in den Bauch stehen muß, sonst wüßte ich ehrlich nicht, was ich anfangen würde... In diese trüben Gedanken fiel das Gerassel des Feldtelefons ein. Er verließ das Fernrohr, durch das er ohnehin seit langem nichts mehr wahrnahm, und griff nach dem Hörer.
«Die Wolke hier, ich höre.»
«Die Sonne. He, paß auf, bald kriegst den Sheriff! Ende!»
Der Kamerad in der Kompaniezentrale schaffte es nur knapp abzuklingeln, da sah der Korporal bereits den Geländewagen, wie er mit dichtem Staubschleier hinter sich aus dem Wald auf ihn zuraste. Der Hauptmann fuhr selbst und winkte ihm zu, er solle oben bleiben. Als er bremste, blieb er am Steuer sitzen und sprach ihn an, während sich die Staubschleppe langsam legte.
«Tono, das Staatsgut möchte morgen die Wiese vor dem Felsen drüben runternehmen, die haben wieder neue Leute gekriegt, überprüfte, heißt es, doch ich will keine neue Scheiße haben. Du hast das Kommando, hol dir noch einen dazu, und kannst den ganzen Tag in der Sonne fünfzehn machen!»
Dem Korporal schien, man hätte ihm in den Magen getreten. Ein totaler Blödsinn fiel ihm ein: Und was, wenn man mir keinen Christen schickt, sondern einen Heiden, den der Himmel nicht warnt? Jesus, was dann?