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II. In Cîteaux und Clairaux Noviziat (1113–1114)
ОглавлениеWir wissen nicht, ob oder wie oft Bernhard, ehe er seine Wahl traf, bereits in Cîeaux gewesen war. Wahrscheinlich ist es durchaus, liegt das Kloster doch nur etwa 25 Kilometer von Fontaines entfernt; sein Vater als Vertrauter des Herzogs von Burgund muß es gekannt haben.1 Mehr noch – er könnte es gewesen sein, der Bernhard gerade diese Wahl nahelegte. Tescelin war offenbar – ebenso wie Bernhards Onkel Gaudri – ein Verehrer Abt Roberts von Molesmes (1028–1111), denn sein Name findet sich unter den Stiftern der Gründungsurkunde von Molesmes, und sein Schwager unterstütze dieses Kloster auch späterhin noch.2 Und eben von dort aus hatte Robert den Reformkonvent gegründet, der Bernhards Heimat werden sollte. Im Mai 11133 zog die Schar der Dreißig, „gebildete und adelige Kleriker, auch in der Welt mächtige und gleicherweise adelige Laien“4, vor die Tore des „neuen Klosters“ (das erst ein paar Jahre danach Cîteaux genannt werden sollte5), um ihr Noviziat zu beginnen. Bernhards Ziel war es, so Wilhelm von Saint-Thierry, dort „abzusterben aus den Herzen und dem Gedächtnis der Menschen“6. Genau das Gegenteil sollte sich erfüllen!
Unter den Reaktionen, die die hochmittelalterliche „Krise des Mönchtums“ bei manchen Benediktinern auslöste, war die des Abtes Robert von Molesmes7 vielleicht die folgenreichste. Als er im Jahre 1098 mit 21 Gesinnungsgefährten seinen Heimatkonvent verließ, um in der Einöde von Cîteaux südlich von Dijon ein Kloster zu gründen, ähnelte dieser Auszug einer Flucht aus der ‘Zivilisation’. Die Wahl des Ortes zeigte an, daß man mit der ‘Welt’, auch der kirchlichen, nichts mehr zu tun haben wollte. Damit auch das Fundament zu einem neuen Orden gelegt zu haben, konnte Robert nicht ahnen. Sein Ziel war es, ein Leben in Einsamkeit genau nach den Vorschriften des Mönchsvaters Benedikt von Nursia zu führen, was im reich gewordenen Molesmes schwierig war, da die meisten der Mönche sich lieber an den bequemeren ‘Consuetudines’ (die in einem bestimmten Kloster gültigen Gepflogenheiten) von Cluny orientierten als an der Benediktusregel selbst. Zwar wurde Robert nach etwa einem Jahr von Papst Urban 11. dazu gezwungen, das „Neukloster“ zu verlassen und seine ursprünglichen Abtspflichten wiederaufzunehmen, doch blieb eine Gemeinschaft unter dem Prior Alberich in Cîteaux. Sie wurde 1100 in einem päpstlichen Privileg, einem Schutzbrief gegen äußere Einmischungen, gesichert,8 womit nicht nur die Phase des charismatischen Neubeginns abgeschlossen wurde, um in die der Institutionalisierung überzugehen, sondern schon die Entwicklung zu einem benediktinischen Zweigorden begann, dem der Zisterzienser (Sacer Ordo Cisterciensis).9 Einer ihrer zeitgenössischen Bewunderer, der Benediktiner Wilhelm von Malmesbury († um 1142), charakterisierte die ersten Zisterzienser mit den Worten, sie seien „ita regulae incubantes, ut nec iota unum nec apicem praetereundum putent,10 so regeltreu, daß sie kein Tüpfelchen dieser Normensammlung unbeachtet lassen zu dürfen meinen“. Ihre asketische Strenge der Lebensweise, die sich wohl an den Wüstenvätern orientierte, wie sie sie durch die Beschreibung Cassians kannten,11 verhinderte allerdings zunächst eine Ausdehnung der Gründung. Ja möglicherweise scheint sogar ihre Existenz mitunter auf dem Spiel gestanden zu haben.
Seit der Abt von Molesmes dieses mit einer kleinen Schar seiner Mönche verlassen hatte, um in der Einsamkeit von Cîteaux ein Leben zu führen, wie es in seinem wohlhabenden Heimatkloster nicht durchzusetzen war, waren fünfzehn Jahre vergangen. Cîteaux war 1113 allerdings trotz aller Bescheidenheit der Lebenspraxis nicht wirklich bettelarm: Speziell der Herzog von Burgund, Odo, erkaufte sich die Gebete der Mönche, bei denen er einst bestattet sein wollte, mit Geld und Gut, aber auch mancher kleiner Landbesitzer trug zum Erhalt der Gründung bei.12 Doch, heißt es von den Brüdern dort, „alle flohen ihre Strenge, obwohl sie an ihnen ihre heilige Lebensführung verehrten“.13
Seit etwa 1108 stand der Gemeinschaft als dritter Abt der Engländer Stephan Harding vor.14 Sein Leben war nicht immer beschaulich, sondern vielmehr recht bewegt gewesen: Um 1060 aus vornehmer Familie geboren, war er als Oblate zu den Benediktinern nach Sherborne in Dorset gegeben worden. Irgendwann nach dem Einfall der Normannen in Britannien 1066 war er ungeachtet seines Gelübdes nach Schottland gezogen, dann, um zu studieren, nach Paris. Ein Zeitgenosse Bernhards, der Chronist Wilhelm von Malmesbury, nennt schlichtweg Weltverlangen als Grund, und der übelwollende Walter Map, ein Jurist und Schriftsteller am englischen Hofe, spricht um 1180 von Klosterflucht vor zu strenger Zucht.15 Harding scheint aber dann eine wirkliche Bekehrung erfahren zu haben, jedenfalls pilgerte er, täglich den gesamten Psalter betend, nach Rom. Auf der Rückreise machte er Halt in Molesmes und blieb. Da er jetzt vollkommen ernst machen wollte mit dem Gelübde seiner Kindertage, verließ er Molesmes zusammen mit den übrigen ‘Apostaten’ unter der Führung Roberts und des Priors Alberich, um im Neukloster die Regel mit aller Präzision erfüllen zu können.
Harding war ein gebildeter, wissenschaftlich interessierter Mann, wobei Wssenschaft ihm freilich nur das Mittel dafür sein sollte, seine Religion genau in ihrer ursprünglichen Form zu praktizieren. Dazu unternahm er eine für seine Zeit ungewöhnliche Arbeit, nämlich eine textphilologische Untersuchung der Vulgata-Handschriften. „Nicht wenig erschrocken über die Unterschiede der Versionen“ in verschiedenen Manuskripten, sammelte und verglich der Abt deren mehrere, um sich für eine vollständige, von ihm für authentisch gehaltene zu entscheiden, die er zum ‘exemplar’, zum für die Zisterzienser verbindlichen Bibel-Text erklärte. Dazu hatte Harding, wie er selbst angibt, sich sogar der Hilfe gelehrter Juden bedient, mit denen er in Französisch über die problematischen alttestamentlichen Stellen diskutierte, um dann die fehlerhaften lateinischen Texte zu korrigieren.16 Das Ergebnis, die sog. Stephan-Harding-Bibel, ist erhalten und eines der wichtigsten Zeugnisse nicht nur der Frühgeschichte des Ordens, sondern auch der monastischen Miniaturkunst des 12. Jahrhunderts. Auch bei den Bildern der Buchmalerei kopierte man bewußt die Vorlagen, die als besonders authentisch galten.17 Mit ähnlichem Ziel sandte Harding Mönche nach Mailand, um Cîteaux mit den Originalversionen der Ambrosianischen Hymnen zu versorgen.18 Diese „mit viel Schweiß“ erstellte Grundlage des liturgischen Gesangs sollte von allen Zisterziensern als ebenso verbindlich betrachtet werden.19
Die Handschriften, die unter Harding in Cîteaux entstanden, zeigen, daß man hier, ungeachtet der Zurückhaltung, die die Zisterzienser sich sonst in der Ausstattung ihrer Kirche vorschrieben, an der benediktinischen Tradition der Buchmalerei englischer Stilrichtung festhielt: diese Codices des sog. 1. Stiles von Cîteaux sind mit teilweise recht lebendigen Zeichnungen ausgestattet, die mit farbiger Tinte und Blattgold ausgeführt, nicht nur der Bilddidaxe dienen, sondern auch ästhetische und kuriose Bedürfnisse befriedigen. Abgesehen von zahlreichen narrativen Szenen der Bibel und Wiedergaben des Alltagslebens (Holzfäller, Weinbauern, Gaukler …) finden sich hier die kentaurenartigen Mischwesen, kämpfenden Löwen und Drachen, aus Tieren und Pflanzen zusammengesetzen Initialen etc.,20 die später von Bernhard indirekt, aber heftig kritisiert werden sollten.21 Harding ließ sich sogar einen Kommentar des hl. Hieronymus eigens von einem besonders qualifizierten Mönch namens Oisbert aus dem Kloster Saint-Vaast in Arras schreiben und mit einem großen Bild der Madonna, des Abtes von Saint-Vaast, des Malers und seiner selbst ausstatten.22 Das Verblüffende daran ist, daß beide – damals (1125) noch lebenden – Äbte mit Heiligenscheinen gegeben sind. Auch wenn es sich hierbei primär um ein Rangmerkmal handeln sollte,23 verweist dies doch auf eine beachtliche Selbsteinschätzung des Abtes.
Bernhard muß solche Illuminationen als Ablenkung vom Text empfunden haben; nach dem Tode Hardings ändert sich unter seinem Einfuß die Ausstattung der Manuskripte: zurückhaltende pflanzliche Ornamentik tritt an die Stelle der figuralen Dekoration.24 Nichts lenkt mehr ab von den heiligen Worten. In den zu seiner Zeit in Clairvaux entstandenen Handschriften wird auf figuralen Schmuck großteils ganz verzichtet, die Initialen sind einfarbig und schlicht gestaltet.25 „Jede figürliche Darstellung ist verschwunden, das ganze Talent der Kopisten konzentriert sich auf die Vollendung der Kalligraphie und das subtile Hell-Dunkel der einfarbigen Schrift in zarten Tinten. Um sich hier der Bibel zu nähern, bedarf der Mönch nicht mehr des Filters der Bilder … es ist der Text selber in seiner Reinheit und Nacktheit, der sich ihm darbietet …“26 Daß sich nicht alle Illuminatoren an diese Strenge hielten, ist wohl auf die häufigen Abwesenheiten Berhards von seiner Abtei zurückzuführen;27 auch dürften einzelne Handschriften von außen in die Klosterbibliothek gekommen sein; manche konnte man nicht zurückweisen, da sie von hohen Gönnern stammten.28 Aber jedenfalls zeigen die Werke der jeweiligen Skriptorien schon ganz deutlich, daß Harding und Bernhard nicht immer unbedingt dieselben Konzepte verfolgten.29 (Abb. 4/5)
Diesem Mann stand nun also Bernhard mit seiner Gruppe im Kapitelsaal gegenüber, formell um Aufnahme bittend. Der Abt wird als „glühender Liebhaber des Ordenslebens, der Armut und der Regeldisziplin“30 beschrieben, der „nichts außerhalb der Regel machte“31 – gerade deshalb war er ja in das neue Kloster übersiedelt, wo man (nach der Charakteristik eines Zeitgenossen) „die Regel so vollkommen buchstäblich wie die Juden das mosaische Gesetz“32 befolgte. Daher wird er sich gewiß genau an das gehalten haben, was die Regula monasteriorum Benedikts für den Umgang mit Postulanten vorschrieb: vier bis fünf Tage hatten sie vor dem Kloster zu warten und ungerechte Behandlung zu ertragen, ehe sie ins Gästehaus eingelassen wurden. Diese „iniurias“ darf man sich freilich noch kaum als so bösartige Prüfungen vorstellen, wie aus dem Spätmittelalter und der Frühneuzeit bekannt (so wurde, nur ein Beispiel, der hl. Katharina von Bologna [1413–1463] beim Eintritt in den Konvent befohlen, sich nackt auszuziehen und so vor die Äbtissin zu treten, eine extreme Belastung der Scham, dann, sich ins Feuer zu werfen, was noch rechtzeitig abgebrochen wurde – Katharina wollte beides freudig erfüllen33). Aber unter strenger Prüfung stand auch das kommende Jahr des Noviziats. Dreimal wurde die Regel vorgelesen und auf die Möglichkeit hingewiesen, frei wegzugehen.
Wie lebten die Novizen und Mönche in Cîteaux? Sie selbst hätten wohl gesagt: in apostolischem Geist genau nach der Benediktusregel. Man blickte, wie bei jeder Reform des Mittelalters, zurück auf die idealisierten und Norm gebenden Zeiten der Urkirche und der ersten Eremiten, meinte, nur das gute Alte wieder zu beleben, und schuf doch Neues. Zwei Aufgaben vor allem bestimmten in der Praxis ihre Tage: Die Liturgie und die Arbeit. Der Gottesdienst war in Cîteaux zwar gegenüber den Benediktinerklöstern, in denen er völlig zum Zentrum geworden war, reduziert, nahm aber immer noch etwa sechs Stunden in Anspruch.34 Bernhard selbst fand durchaus Gefallen daran: „Ekel und Langeweile vertreibt weit die Vielfalt der heiligen Bräuche“, schrieb er nach vierzehn Jahren Praxis.35 „Nichts zu betrachten beliebt es den Himmelsbürgern mehr, nichts Genehmeres wird dem höchsten König dargebracht, als wenn die Brust mit Händen geschlagen wird und die Knie auf den Fußboden, wenn mit Bitten und frommen Gebeten die Altäre überhäuft werden, die Wangen von Tränen befleckt sind, von Stöhnen und Seufzen die Räume erschallen … und die heiligen Hallen von geistlichen Gesängen wiederhallen.“35
Und was die Arbeit36 betrifft, so entwarf von ihr in der zweiten Hälfe der zwanziger Jahre ein den Zisterziensern feindlich gesonnener Benediktiner, der ein wesentlich geruhsameres Leben führte, folgende Skizze, in der er die Tätigkeit der grauen Mönche ironisiert: „Ihr aber, die Ihr vom Himmel gefallen seid, Ihr zweiten Catones [Cato mj. und jr. galten auch im Mittelalter als die Beispiele von Sittenstrenge], habt einen anderen Orden, eine andere Religion [als wir Cluniazenser]: Schon wenn der Tag graut, bemüht Ihr Euch um Arbeit, bewaffet mit Spaten, Hacke und anderen Bauernwaffen, und verteilt Euch zur Arbeit bald über die von verschiedenen Blumen hübsch bunten Wiesen, bald durch die grünenden und mit schönem Gehölz bewachsenen Wälder. Hier erfreuen lieblich blühende Pflanzen den Blick, dort das eine reizende Harmonie gestaltende Konzert der Vögel das Ohr. Der Gewässer silberner Strom schärft den Blick, und unverdorbene Luft tief einzuatmen erfeut das Innere. [Dieser Topos vom ‘locus amoenus’ dient hier zur Kontrastierung mit der (theoretisch) nur auf das Kloster beschränkten Lebensführung der Benediktiner]. Oh harter und unerträglicher Orden! In diesem Orden schont jeder sein Lasttier [den Körper], und damit es nicht durch zu vieles Arbeiten ermüdet werde, benimmt er sich mit vorausschauender Mäßigung. Zur Essenszeit wird freier und gieriger geschmaust, zur Schlafenszeit fester und gesünder geruht. Der Schlaf kann auch geruhigt tiefer in die Nacht hinein verlängert werden, weil nur die ganz wenigen Psalmen, die die Regel vorschreibt, und nichts sonst zur Matutin zu ruminieren ist. Psalmen für die Verbrüderten, Vigilien für die Toten, weiters die glorreichen Lieder, die die Kirche billigt, werden keineswegs gesungen, sondern Ihr verschlaft nahezu die ganze Nacht, nachdem Ihr bloß ganz wenige Psalmen durchgenommen habt!“38 In der Tat war die Vereinfachung der Liturgie eine der ganz wesentlichen Differenzen der Zisterzienser gegenüber ihrem Mutterorden, denn die Reformmönche ersetzten lange Gottesdienste durch gemeinsame Handarbeit; um mehr Zeit für diese zu haben, feierten Priester bei ihnen keine täglichen Privatmessen.39 Während ein Cluniazenserkonvent jährlich etwa 700 Mal gemeinsam das Officium zelebrierte, taten die Zisterzienser das nur 450 Mal und die Kartäuser sogar bloß 155 Mal.40
Körperliche Arbeit sollte den Reformmönchen die selbstverschuldete Conditio humana nach dem Sündenfall ins Bewußtsein rufen.41 Als Zisterzienser büßten die geistlichen und ritterlichen Herren für ihre Sünden durch eine Tätigkeit, zu der sie vor ihrer Bekehrung keinen Finger gerührt hätten, da körperliche Mühe damals Sache nur ihrer verachteten Knechte war. Die grauen Mönche der ersten Generation lehnten es ab, herrschaftlich von den Anstrengungen feudalabhängiger Bauern zu leben, wie es bei den Benediktinern üblich war: Saint-Denis z.B. bezog Mitte des Jahrhunderts Einkünfte und Dienstleistungen von nicht weniger als 169 im Besitz dieser Abtei befindlichen Ortschaften.42
Wie lebte Bernhard? Im wesentlichen nicht anders als seine Mitbrüder. Man geht ins Kloster, sagt Wace, ein im Vergleich zu Bernhard etwa 20 Jahre jüngerer Dichter, „Pur sa char jistisier e pur s’alme saluer“,43 um sein Fleisch zu kasteien und seine Seele zu retten. Allerdings trieb Bernhard die Askese weiter als wohl alle anderen. Im heutigen Katholizismus ist Askese eine recht harmlose Sache: „das Ganze der geregelten und eifrigen Lebensführung, die nach der christlichen Vollkommenheit strebt“, definiert das offiziöse Lexikon für Theologie und Kirche und nennt als konkreteste Form: „körperliche Bußwerke“ – ohne weitere Spezifizierung. Unter dem Stichwort ‘Bußübungen’ erfährt man, daß darunter Verzicht oder Mäßigung im Alkohol- und Nikotingenuß sowie kritischer Abstand von der Vergnügungsindustrie zu verstehen seien.44 Einen solchen Begriff von Askese in das Mittelalter und die Frühneuzeit zurückzuprojizieren, wäre schlichtweg Geschichtsfälschung. Askese im traditionellen Sinn, wie sie auch Bernhard verstand, bestand primär aus gezielter Schmerzzufügung durch Hunger, Durst, Schlafentzug und oft auch Selbstverletzung.
Der praktische Weg zu Gott führte auch für Bernhard über diese Form der Askese. Die Zisterzienser sahen sich als modeme Märtyrer, sie, sagt Gottfied von Auxerre, „wüten (saeuiunt) großherzig gegen sich selbst und ertöten ihre Glieder. Sie selbst sind also gleichzeitig die Gefolterten und die Folterer“.45 Denn der Nutzen des Leibes besteht im Erdenleben, so Bernhard, ausdrücklich darin, daß er uns die Möglichkeit zu Bußleistungen gibt.46 Sie ist ihm ja Nachfolge, ‘imitatio Christi’.47 Der junge Mönch konzentrierte sich also auf zwei ‘Übungen’ (dies ist die Grundbedeutung von Askese): Fasten und Wachen. Ziel der Kasteiungen war es von jeher, einerseits die Sünden auf diese Weise schon im irdischen Leben abzubüßen und andererseits die Seele für den Aufstieg zu Gott aus dem Gefängnis des Leibes zu befeien (das ‘soma-sema’ – Motiv der antiken Philosophie48). Der Widerstand – oder die Besorgnis – eines seiner Vettern, Willenk, eines Erzdiakons von Langres, der die asketische Begeisterung Bernhards noch während seines Noviziats „auszulöschen“ suchte, wie dieser schreibt, blieb ohne Erfolg.49
Ganz besonders bemühte sich Bernhard darum, alles, was ihm seine Sinne zutrugen, abzublocken, um sich ganz auf die innere Meditation konzentrieren zu können, aber auch um keine äußeren Verlockungen an sich heranzulassen. Wilhelm von Saint-Thierry meint, daß es gerade die ersten mystischen Erfahrungen waren, das Kosten der göttlichen Süße vermittels des „sensus interior“, dessentwegen Bernhard alles, was mit den äußeren Sinnen wahrgenommen werden konnte, verachtete.50 Wußte er doch schon als Novize nicht, wie viele Fenster der Chor der Kirche von Cîteaux besaß, in die ihn sein Weg doch Tag für Tag führte,51 und soll er sich die Ohren verstopft haben, wenn Besuch zu ihm kam.52 Auch zerstörte er bald seinen Geschmackssinn so, daß er Butter nicht von rohem Tierfett zu unterscheiden vermochte.53 Bei dieser Abstinenz blieb er auch weiterhin; anscheinend gerade weil er im weltlichen Leben einst gut gegessen hatte.54 In einer Predigt über das Hohelied, in der er sein demütiges Fasten dem hochmütigen der Katharer gegenüberstellt, begründet er die Enthaltung vom Wein damit, daß dieser zu Geilheit führe, die vom Fleisch, daß es die fleischlichen Laster mäste, die vom Brot, daß ein voller Bauch nicht gern bete. „Aber nicht einmal einfaches Wasser in vollen Zügen zu schlürfen, möchte ich mir angewöhnen, damit nicht der gefüllte Bauch die Geilheit wachkitzle. „55
Schon in jenem ersten Jahr im Kloster muß Bernhard die Grundlage für sein Magenleiden gelegt haben, das ihn den Rest seines Lebens begleiten und zum Tode führen sollte: eine chronische Gastritis und dann ein Geschwür.56 Er aß so wenig und so schlecht, daß er unter chronischem Brechreiz zu leiden hatte, so daß es ihm unmöglich gewesen wäre, eine normale Mahlzeit zu sich zu nehmen, selbst wenn er das gewollt hätte.57 Als Mönch eine kranke Verdauung zu haben erscheint ihm später geradezu als selbstverständlich.58 Eine Reihe von Indizien wie Nahrungsverweigerung, Asexualität, Hyperaktivität, gesteigerte Idealbildung u.a. spricht dafür, daß beim jungen Mann Bernhard heute das Syndrom der Anorexia nervosa diagnostiziert werden würde.59
Diese gezielte körperliche Schwächung machte ihn freilich wenig tauglich für die Handarbeit, die damals noch einen großen Teil des zisterziensischen Lebens ausfüllte; er versuchte sich zwar am Holzfällen und Umgraben, aber nur das Mähen des Getreides, das man im Mittelalter vor allem mit gezähnten Sicheln,60 also einem leichten Arbeitsgerät, praktizierte, scheint ihm eine Zeit lang wirklich gut von der Hand gegangen zu sein.61 (Abb. 2) Sonst ging er in Gebet und Lesung auf, zweifellos ein exemplarischer Religiose seit seinen Anfängen. Schon bald dürfe er sich jene später von seinem Sekretär Gottfried gerühmte Fähigkeit erworben haben, auch mitten in belebter Umgebung die äußeren Reize völlig auszuschalten und sich ausschließlich auf die innere Meditation zu konzentrieren, „eine innere Einsamkeit genießend, die er selbst allenthalben mit sich umhertrug“.62 So ritt er einmal mit seinen Gefährten den Genfer See entlang, um danach verwundert zu fragen, wo dieser See denn liege, da sein Bild nicht in sein Bewußtsein eingedrungen war.63