Читать книгу Bernhard von Clairvaux - Peter Dinzelbacher - Страница 9

Jugend (1098–1111)

Оглавление

Seit seinem siebten oder achten Jahr besuchte Bernhard die Schule der Kanoniker von Saint-Vorles in Châtillon-sur-Seine, einer gerade eine Tageswanderung von Fontaines entfernten bischöflichen Siedlung. Seine Familie besaß dort ein Haus. Das Alter Bernhards stimmt mit dem überein, das auch sonst als üblich für den Beginn des Unterrichts angegeben wird.46 Was hatten die Schüler, die bereits Kleider von gleichem Schnitt wie die Kanoniker selbst trugen,47 zunächst zu lernen? Zwar ist nichts über Saint-Vorles speziell überliefert, doch kann man sich nach den allgemeinen Gepflogenheiten solcher geistlicher Schulen sicher sein, daß die Knaben Lesen, Schreiben, Auswendiglernen und Singen vor allem an Hand der lateinischen Psalmen zu üben hatten.48 Gewiß wurden sie mit demjenigen antiken Bildungsgut vertraut gemacht, das man seit dem beginnenden Frühmittelalter als Trivium bezeichnete: Rhetorik, Grammatik und Dialektik. Auch heidnische Autoren wie Vergil, der freilich christlich gedeutet wurde, dürften auf dem Lehrplan gestanden haben. Die Schüler hatten die klassische Sprache so gut zu beherrschen, daß sie selbst kleine Dichtungen („dictamina“) fabrizieren konnten. Mit dem zweiten Teil der ‘Freien Künste’, dem ‘Quadrivium’, das die mathematischen Wissenschaften umfaßte, wurde Bernhard dagegen offenbar nie konfrontiert.49

Das Bildungsangebot der Kanoniker scheint, allein nach dem Stil von Bernhards Werken zu urteilen, hervorragend gewesen zu sein, und der Junge soll, wie von seinem Biographen Gottfried glaubwürdig versichert wird, Talent zu einem sehr guten Schüler gehabt haben. Bernhard blieb dem Kloster seiner Schultage auch immer verbunden, wie mehrere Interventionen und sein Bemühen um Reform zeigen, als er ein einflußreicher Mann geworden war.50 Damals allerdings war er ziemlich schüchtern, was, wie er noch lange später beklagte, ihm seine Erzieher mit Gewalt auszutreiben suchten.51 „mire cogitativus“, erstaunlich nachdenklich, nennt sein Freund Wilhelm von Saint-Thierry52 den jungen Bernhard, weiters ruhig, gehorsam und ganz versessen darauf, die Heilige Schrift zu studieren: ein katholischer Musterknabe.53 Oder, wie es ein französischer Historiker formulierte: „Summa summarum, ein Heiliger, wie man ihn nur im Brevierbuch findet, würdig, kanonisiert zu werden, sogar noch ehe er gelebt hat.“54

Bernhard war wohl etwa siebzehn oder achtzehn, möglicherweise aber auch erst vierzehn Jahre alt, als seine Mutter, vielleicht vierzigjährig, an einem 31. August starb.55 Sie wurde in der Krypta eines der bedeutendsten Klöster der Umgebung bestattet, nämlich in Saint-Bénigne zu Dijon.56 Mit dem Tod Aleths schien sich das Leben ihres bestbehüteten Sohnes zunächst zu ändern. Sogar in Wilhelms Biographie klingt etwas wie Befreiung mit: nun begann der junge Mann „suo jam more, suo jure“57, nach seiner Weise und auf seine Verantwortung, zu leben. Aus dem wenigen, was sein Freund Wilhelm über die Jahre vor Bernhards Konversion preisgibt, wird ganz klar, daß er in eine Gruppe Gleichaltriger eingebunden war, eine Burschen-Clique mit enger Freundschaft, wie sie auch heute noch für die Jugend gerade in den romanischen Ländern so typisch ist. Solche Cliquen aus ritterbürtigen Familien bildeten „compaignies“ oder „maisnies“, Trupps, um nicht zu sagen ‘Gangs’, die sich um einen Anführer scharten und auf „aventure“ auszogen58, zu Turnieren, Schlachten und Raubzügen (was die nach damaligem Verständnis durchaus legitimen Fehden in der Praxis für gewöhnlich waren). Nun war Bernhard, anders als seine Brüder, nicht für das Waffenhandwerk erzogen worden, was ihn aber nicht hinderte, in einer solchen Gruppe – mit welchem Ziel? – umherzuziehen. Einfach zu weltlichem Vergnügen, denn es waren gefährliche Freundschaften (für sein Seelenheil), bemerkt Wilhelm: „amicitiae procellosae“59, eine Formulierung, die das stürmische Meer der bösen Welt, des „saeculum nequam“ (Gal 1, 4), evoziert.60 Wahrscheinlich besuchte man abwechselnd die Burgen der Eltern und Verwandten der einzelnen Kumpane; „als Bernhard einmal mit seinen Freunden bei einer Dame (matrona) übernachtete“, soll ihn diese (natürlich erfolglos) zu verführen versucht haben.61 Dazu ließ sie ihn „tanquam honoratiori omnium“62, als den Vornehmsten von allen, getrennt unterbringen – Bernhard dürfte demnach der Anführer dieser Clique gewesen sein. Bedenkt man seine spätere Tendenz, Führungsrollen zu übernehmen, und seine Begabung, sie mit Erfolg zu auszufüllen, wirkt dies absolut wahrscheinlich.

Daß Bernhard damals den von der Mutter vorgezeichneten Weg beinahe verlassen hätte, bestätigen unabhängig voneinander wenigstens fünf Zeugnisse: Einmal die Biographen Gottfried und Wilhelm, die bemerken, Bernhard hätte fast eine Laufbahn in der Welt eingeschlagen,63 wobei sein erster Biograph seinen Helden in einigen entsprechenden Episoden zeigt. Dann verrät Wilhelm einmal en passant, daß der junge Mann sich, ehe er „einen neuen Menschen anzog“, mit seinen Freunden „über die weltlichen Wissenschaften oder die Welt selbst“ zu unterhalten pflegte.64 Weiters spielt Bernhard selbst in einem seiner Briefe auf eine Epoche seines Lebens an, da er Gott verachtet hatte, eine Stelle, die sich wohl nur auf die Zeit vor seiner Bekehrung beziehen läßt: Als er um 1128 seinen berühmten Brieftraktat über das Bischofsamt an Erzbischof Heinrich von Sens schrieb, schob er beim Gedanken an das Jüngste Gericht ein persönliches Bekenntnis ein: „Ich erzittere zur Gänze, Herr Jesus, besonders wenn ich mich bei der Betrachtung deiner Majestät (wie wenig ich sie auch anzuschauen vermag) erinnere, wie sehr ich dich einst verachtete. Doch auch jetzt … fürchte ich mich, der ich einst gegen deine Majestät widerspenstig war …“65 Und seinen Mönchen bekennt er einmal, bezogen ausdrücklich auf die Zeit vor dem Klostereintritt: Damals hatte ich schon meinen „Glauben, aber der war tot. Wie sollte er denn nicht tot sein ohne Werke?“66 Schließlich gibt es einen Hinweis Berengars von Poitiers,67 eines Schülers Abaelards. Seine Angaben sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn einerseits waren, wie seine Werke zeigen, Kritik und auch Verleumdung sein Lieblingsmetier. Andererseits hat er sich über Bernhards Jugend gerade in seiner Verteidigungsschrift für den 1141 von dem Abt von Clairvaux so heftig angefeindeten Philosophen Petrus Abaelard geäußert, in einer Diatribe, die als schlechten Scherz zu entschärfen („ioco legatur, non serio“68) er sich später, wenigstens drei Jahre vor Bernhards Tod, gezwungen sah, da sie ihn ins Exil getrieben hatte. Freilich hat auch diese Revocatio, da opportunistisch zur eigenen Verteidigung und nicht ohne Ironie geschrieben, wenig Wert. Trotzdem sollte man diese Quelle nicht ignorieren: daß Berengar übertreibt, ist gewiß, aber wenn er gerade bestimmte Verhaltensweisen Bernhards angreift, dann doch wohl solche, die tatsächlich einen Anlaß boten. Es wäre sinnlos gewesen, Bernhard vorzuwerfen, er habe von Jugend an „canticulas mimicas et urbanos modulos fictitasse“ und seine Brüder mit schlauer Erfindungsgabe „rhythmico certamine“ übertreffen wollen, wenn nicht faktisch weltliche Texte von ihm zirkuliert wären; hätte Berengar erfinden wollen, so hätte er Gravierenderes gefunden. Es mögen harmlose Schulgedichte Bernhards, etwa Antikenimitationen, gewesen sein, die Berengar hier zu „proteruia“, Frivolitäten, hochstilisiert, durch deren Zitierung er seine Schrift nicht beschmutzen möchte, zumal sie ohnehin allgemein bekannt seien.69 Der „Scholastiker“ (so sein Beiname) verklausuliert in der zitierten Passage seine Anklage einigermaßen, drückt sich absichtlich unklar aus, etwa: Schauspieler-Liedchen mit schmissigen Melodien (Dichten und Komponieren gehörten im Mittelalter fast immer zusammen). Da „mimicus“ in frommen Ohren eindeutig pejorativ an die umherziehenden Akteure notorisch schlechter Moral gemahnte,70 sollte man wohl verstehen, Bernhard habe Lieder für solche Trupps von Vaganten geschrieben, wie sie sich mit Sicherheit auch das eine oder andere Mal in der heimatlichen Burg zu Fontaines produzierten. Ob nicht auch der erste Teil der Bemerkung eines Bernhard feindlichen Cluniazensers über eines seiner Werke sich auf die vormonastische Schriftstellerei des Abtes bezieht? „Ich würde es einen erträglicheren Schaden nennen, in weltlicher Kleidung schmutzige Satiren zusammenzuschreiben, als zwischen die süßen Gesänge des Bräutigams und der Braut mit Lappalien solcherart scheltend hineinzuplatzen!“71

Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit groß,72 auch Bernhard habe vor seinem Klostereintritt Gedichtchen weltlichen Inhalts produziert – zumal dies für einen literarisch Hochbegabten zu seiner Zeit nichts Ungewöhnliches war – und dies später bereut. Verfaßten nicht auch gerade in Nordfrankreich Kleriker gern erotische Gedichte in Nachahmung Ovids73? Verwarf nicht ein bekannter Dichter wie der Bischof von Rennes, Marbod (t 1123), ausdrücklich seine leichtsinnigen Jugendpoeme?74 Kennen wir aus dem 12. Jahrhundert nicht auch mehr als einen Zisterzienser, von dem zwar nur Schriften aus seiner Ordenszeit erhalten sind, frühere weltliche Dichtung jedoch einwandfrei bezeugt ist, wie z.B. Helinand von Froidmont?75 Hat nicht ein gefeierter Trobador wie Bertran de Born eine Bekehrung erlebt und ist Mönch geworden?76 Hat nicht auch Abaelard Minnelieder geschrieben, die so beliebt waren, daß sie auf den Straßen gesungen wurden?77 Und doch sind auch sie, anders als seine philosophischen und religiösen Werke, nicht erhalten. Ob sich Bernhard aus diesem Grund künftig auf dem Gebiet der Lyrik so zurückgehalten hat, daß nur einige wenige (literarisch belanglose) Liturgica seinem umfangreichen Prosawerk gegenüberstehen?

Gleichviel, „der junge Mann“ Bernhard war anscheinend bereits auf dem Weg ins „böse Saeculum“. Wir haben aus jener Zeit ein literarisches Porträt Bernhards, so daß wir uns sein Aussehen in etwa vorstellen können: mittelgroß, aber hochgewachsen wirkend, ziemlich zierlich gebaut, ein angenehmes Gesicht, blondes Haar, rötlicher Bartansatz.78 Zum ritterlichen Leben gebrach es ihm offenbar an den körperlichen Voraussetzungen. Die Chanson de Roland sagt in für Bernhard ganz passender Weise:

Itel valor deit aveir chevaler.

Ki armes portet et en bon cheval set,

En la bataille deit estre forz et fiers

U altrement ne valt quarre deners,

Einz deit monje estre en un de cez mustiers,

Si prierat tuz jurz por noz peccez.79

„Solche Tugend muß ein Ritter haben, der Waffen trägt und auf einem guten Roß sitzt: in der Schlacht muß er tapfer und wild sein, sonst ist er nicht einmal vier Denare wert. Eher soll er Mönch sein in einem dieser Klöster und wohl alle Tage für unsere Sünden beten.“ (Dieses Bernhard sicher bekannte Lied darf in diesem Konnex durchaus zitiert werden, zumal Mönche an Abfassung, Bearbeitung oder Abschrift auch der weltlichen volkssprachlichen Literatur tatsächlich beteiligt waren80).

Der Wege in die anderen Stände der Welt hätte es für ihn damals viele gegeben, schrieb schon sein Freund Wilhelm.81 Denn im hohen Mittelalter bot sich eine vordem ganz ungekannte Vielfalt an möglichen sozialen Rollen; auch Guibert von Nogent reflektierte über die Alternative Ritter- oder Priesterleben, Heloise und Abaelard über die von Ehe oder Ehelosigkeit etc.82 Vielleicht wäre der junge Herr von Fontaines einer der neuen Verwaltungsfachleute geworden, die im 12. Jahrhundert als Kaste der „clerici“ mehr und mehr an den weltlichen und geistlichen Höfen gefragt waren, vielleicht hätte er sich in die Schar der ebenfalls immer einflußreicheren Kirchenrechtler eingereiht; vielleicht wäre er Höfling beim Herzog von Burgund oder beim König von Frankreich geworden und hätte über die Welt und Gott gedichtet, vielleicht …

Es war keine spektakuläre Conversio, die sich in Bernhard vollzog. Er war keiner der „sündigen Heiligen“, wie sie viele mittelalterliche Legenden schildern,83 Bösewichte, die unerwartet von der himmlischen Gnade überfallen und abrupt von einer völlig anderen Raison d’être erfüllt werden, wie einst der Pharisäer Saulus auf dem Weg nach Damaskus.84 Um einen älteren Zeitgenossen und späteren Freund Bernhards als Beispiel zu nennen: Norbert von Xanten (t 1134), ein adeliger, gebildeter, welterfahrener Mann, hatte als kaiserlicher Kaplan jahrelang die Freuden des höfischen Lebens genossen. In seinem dreißigsten Jahr geriet er unerwartet in Lebensgefahr: ein Blitz schlug während eines Gewitters vor ihm ein, sein Pferd scheute und warf ihn zu Boden, eine anklagende Stimme ließ sich vernehmen. Norbert kehrte nach Hause zurück, zog ein härenes Gewand an und wurde ein Heiliger, der Gründer des Prämonstratenserordens.85 Unnötig, an das ähnliche Bekehrungserlebnis Martin Luthers zu erinnern.

Bernhards Entschluß dagegen reifte langsam und vielleicht nicht ohne innere Widerstände. „aliquando contrarius exstiti maiestati“86, einst war ich der göttlichen Majestät entgegen, schrieb er nach etwa fünfzehn Klosterjahren – eine Anspielung auf jene Zeit? Jedenfalls wird weder eine Paulinische Damaskus-Erfahrung noch ein Augustinisches tolle-lege-Erlebnis von ihm berichtet. Er war, wie für den Entwicklungsabschnitt der Adoleszenz typisch, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Seine Mutter hatte ihm intensiv die zentrale Vorgabe des Christentums vermittelt, daß das eigentliche Leben nicht dieser, sondern der jenseitigen Welt angehöre. Gottfried und Wilhelm lassen keinen Zweifel daran, daß es die Prägung von seiten Aleths war, die sich endgültig sowohl in Bernhard wie auch in ihren anderen Söhnen durchsetzte. Denn Bernhard sah sich andauernd von der Vorstellung verfolgt, die tote Mutter mache ihm Vorwürfe, weil er ihren Erwartungen nicht entsprach.87 War das schon Grund genug für seinen Entschluß?

Eher epiphere Andeutungen Gottfrieds und Wilhelms lassen wenigstens auf ein weiteres Element schließen, das bei Bernhards Bekehrung eine wichtige Rolle spielte: seine von ihm nicht akzeptierte Sexualität. Keusch zu bleiben war für ihn das schwierigste Problem bei der Befolgung der von ihm voll akzeptierten katholischen Sittenlehre. Das gibt Wilhelm klar zu erkennen, doch natürlich in der Sprache der Hagiographie: In diesem Punkt versuchte der Teufel den Jüngling am meisten.88 Seit seiner Jugend hatte er danach getrachtet, vom „Schmutz des Fleisches“ rein zu bleiben, „voll Haß auf das befleckte Kleid, das ist das fleischliche“, d.h. seinen Körper und dessen Geschlechtlichkeit. Als er, angeblich erst mit etwa neunzehn Jahren, die „Stacheln“ erotischen Verlangens verspürte, entschloß er sich, sie mit aller Härte abzubrechen.89 Als er einmal eine Frau erblickte, die ihn nicht ungerührt ließ, sprang er zur Abkühlung in einen Teich und blieb so lange in dem kalten Wasser, bis er fast in Ohnmacht fiel. Dies habe ihn von ähnlichen, „der Hitze fleischlicher Begierde“ entspringenden Anfechtungen völlig befreit.90 Weiblichen Annäherungsversuchen, ihm seine Unschuld zu rauben, entzog er sich.91

Auch hier kann man natürlich den Bericht von Bernhards Freund wiederum zum bloßen Versatzstück der Gattung Vita erklären, da ähnliche Methoden auch von früheren Heiligen berichtet wurden. Besonders einflußreich natürlich das Beispiel des Mönchsvaters Benedikt, der sich bei demselben Anlaß und mit demselben Ergebnis in Dorngestrüpp wälzte,92 während andere der frühen Einsiedler sich die Zunge abschnitten oder mit glühendem Eisen verletzten. Auch das Bad im Eiswasser wurde von ihnen schon mit Erfolg angewandt.93 Warum hätte Bernhard, energisch wie er war, das ihm aus der Hagiographie bekannte Beispiel nicht nachahmen sollen? Er hat doch seinen Körper noch zu wesentlich gefährlicheren Askesleistungen gezwungen.94

Es bedarf hier nicht einer Darlegung der mittelalterlichen Ansichten der Kirche und damit der frommen Gläubigen zur Sexualität; daß sie oder genauer die „fleischliche Begierde“ in paulinischer und augustinischer Tradition als Überträgerin der Erbsünde und sündhaft sogar im ehelichen Verkehr in schwärzestem Schwarz gemalt wurde, ist wohlbekannt.95

Es gibt einige Äußerungen Bernhards, die Licht auf seine Einstellung zur Sexualität werfen. Freilich handelt es sich um Texte, die Jahre nach seiner Bekehrung entstanden sind und deshalb möglicherweise von einem theologischen Wissensstand ausgehen, den der junge Mann noch nicht gehabt haben muß. Andererseits bezieht sich Bernhard in einigen von ihnen ausdrücklich auf seine Conversio, und da nachweislich der Rekurs auf persönliche Erfahrung für ihn ein ganz zentrales Gewicht besaß,96 gibt es Grund genug für eine entsprechende biographische Interpretation.

Bernhard war ausdrücklich derselben Meinung wie die sonstigen Theologen und Kanonisten der Zeit, einschließlich des einflußreichsten unter ihnen, Gratian: selbst die eheliche Sexualität ist sündig.97 So schrieb Bernhard sogar über die Zeugung Mariens: „Wie hätte sie keine Sünde sein können, wo doch die Begierde nicht fehlte!“98 Was nun seine Bekehrung betrifft, so erzählte er einmal in einer Predigt seinen Mönchen: „Ich wäre nämlich leicht in viele Sünden gefallen, wenn es dazu eine Gelegenheit gegeben hätte … doch Gott gewährte die Kraft, … der Begierde, die ich verspürte [concupiscientiam ist eindeutig sexuell], nicht zuzustimmen.“ Daß es tatsächlich die im Mittelalter durch die Katechese so eindrücklich in Predigt, Schrift und Bild hervorgerufene Höllenangst war,99 die Bernhards Flucht ins Kloster motivierte, sagt er ebenfalls selbst: „Damals nämlich, wie ich mich gut erinnere, erschütterte er [Gott] mein Herz … und versetzte [mich/es] in Schrecken, indem er [mich/es] hinabführte zu den Pforten der Hölle und die für die Sünder bereiteten Torturen zeigte.“100 Um dann wieder auf die Keuschheit zurückzukommen: „Ihr haltet vielleicht euere Keuschheit für eine Kleinigkeit – ich aber nicht! Ich weiß es nämlich, welche Gegner sie hat und wieviel Kraft sie braucht, um denen widerstehen zu können. Der erste Feind unserer Keuschheit ist natürlich das Fleisch …“ Die Bemerkung, „von Keuschheit spreche ich aber nicht nur hinsichtlich der Sexualität [luxuria, Unkeuschheit], sondern auch hinsichtlich anderer Laster“101, erweist, daß der Abt und seine Zuhörer an erster Stelle eben an jene dachten.

Um der Gefahr von Sünde und Verdammnis zu entrinnen und gleichzeitig dem Wunsch der Mutter zu entsprechen, begann der etwa zwanzigjährige Bernhard also, die Möglichkeiten eines Rückzugs aus der Welt zu sondieren. Daß dieser nicht in einem Leben als Weltpriester liegen konnte, war ihm wohl von Anfang an klar, und er hat die weitgehend verweltlichte Hierarchie der Kirche künftig stets gegeißelt, wie er auch die ihm angebotenen Bischofsstühle regelmäßig ausschlug.

Nahegelegen hätte ein Leben als Einsiedler. Gerade im 12. Jahrhundert war dies eine gängige Alternative zum monastischen Leben.102 Haben sie nicht manche andere fromme Adelige seiner Generation in Frankreich ergriffen? Stephan von Obazine († 1124)103 etwa hatte sich in den Wald von Muret zurückgezogen, fasziniert vom kalabrischen Eremitentum. Gottfried von Nhot († 1124) wählte die Ruinen des zerstörten Klosters Chalard als Klause.104 Auch der Priester Robert von Abrissel († 1116) war zur Buße in den Wald von Craon gegangen, ehe er sein Leben als Wanderprediger aufnahm.105 Doch scheint Bernhard dem Eremitentum gegenüber eine eher skeptische Haltung eingenommen zu haben.106 Hat er damals noch nichts oder nicht genug von den seit 1084 bestehenden Kartäusern gewußt, für die er später so viel Sympathie zeigen sollte?

Ihre Strenge kann ihn nicht abgeschreckt haben, und welche Lebensweise in Reformklöstern herrschte, muß er gewußt haben. Ein Scherzgedicht des 12. Jahrhunderts faßt, in diesem Punkt wirklichkeitsgetreu, den mönchischen Alltag so zusammen:

Monachorum regula

non est tibi cognita?

vigilant assidue,

ieiunant cotidie.

Dura donant pabula,

fabas ac legumina,

post tale convivium

potum aque modicum.

„Die Mönchsregel ist dir nicht bekannt? Sie wachen beständig, fasten täglich … Hartes ‘Futter’ bieten sie, Bohnen und Gemüse, und nach einem solchen ‘Festmahl’ einen bescheidenen Trunk Wassers.“

Dasselbe Gedicht bietet aber auch präzise die Überlegungen, die so viele Menschen in die Klöster trieb,107 eine Mischung aus Himmelshoffnung und Höllenfurcht:

Qui pro deo vigilat, coronari postulat;

qui pro deo esurit, saciari exigit …

Quid prosunt convivia vel quid dionisia,

ubi erit dapibus caro data vermibus? …

Qui parentes diligit atque deum negligit,

reus inde fuerit, tunc cum iudex venerit.“108

„Wer für Gott wacht, begehrt, gekrönt zu werden; wer für Gott hungert, fordert, gesättigt zu werden. Was nützen die Festmähler oder was die Trinkgelage, wo doch zur Speise den Würmern unser Fleisch gegeben werden wird? … Wer seine Verwandten liebt und Gott vernachläßigt, wird darob angeklagt, wenn dann der Richter kommt.“

Doch wird der tiefere Grund für Bernhards Wahl des Zönobitentums wohl in seiner Sozialisation liegen. Zusammen mit so vielen Jungen, seinen Brüdem, aufgewachsen, mußte er stets Menschen um sich haben, und es ist nicht bekannt, daß er sich später je freiwillig auch nur für kurze Zeit in die Einsamkeit zurückgezogen hätte,109 – nicht in die eines Klosters, sondern in die einer Ein-Personen-Eremitage, wie es die oben genannten Heiligen taten. Bernhard war wohl einfach zu extrovertiert geartet, als daß er permanent hätte allein bleiben können.

Standesgemäß war ein Eintritt ins Kloster jedenfalls. Für einen Mann seiner gesellschaftlichen und geographischen Herkunft wäre Dijon oder Cluny, auch Molesmes naheliegend gewesen, zumal Bernhard in den beiden letztgenannten Konventen Verwandte hatte.110 Doch ein Zug seines Charakters war es, das, was er tun wollte, möglichst kompromißlos zu tun. Diese Prädisposition zu intensivem Engagement, wohl vom Vater geerbt, bei dem sie sich auf rechtlichem Gebiet manifestierte („iusticie zelum“, „servare iusticiam“, Eifer für Gerechtigkeit – oder Rechtspflege – werden an ihm gerühmt),111 reicht von Begeisterung und Beständigkeit bis zu Hartnäckigkeit und Rechthaberei. So hat Bernhard später nicht geruht, bis er z.B. von ihm als Feinde Beurteilte wie Abaelard oder Wilhelm von York wirklich vollständig ausgeschaltet hatte oder ungeachtet wiederholter Abfuhren den deutschen König Konrad III. zum Kreuzzug bewegen konnte. So verzichtete der Rittersohn auch auf benediktinisches Wohlleben in einem adeligen Traditionskloster und suchte sich unter den in der Umgebung gelegenen Mönchsgemeinschaften jene aus, die für ihre strenge Lebensführung besonders berühmt oder berüchtigt geworden war: das 1098 gegründetet „neue Kloster“ Cîteaux112.

Das Movens, das Bernhard in die „schreckliche Einöde“, in den Wald von Cîteaux, trieb, war also vor allem Furcht gewesen, bei einem Leben in der Welt mit ihren Versuchungen seine Seele nicht retten zu können. Diese Furcht war es, die damals wohl die meisten der Männer ins Kloster trieb, die selbständig diese Lebensform wählten, z.B. Bernhards Freund Norbert von Xanten, um vom bekanntesten späteren Beispiel, Martin Luther, zu schweigen.113 Um dieses Element der Religiosität bewußt zu machen, sei nur ein Mönch aus der nächsten Umgebung Bernhards zitiert, sein Sekretär Nikolaus von Clairvaux. In einem Brief schildert er, wie er in seiner Zelle bei der der Selbsterkenntnis dienenden Meditation in die Einsamkeit seines Herzens hinabsteigt und dort seinen Richter in der eigenen Vernunft findet, den Zeugen im Gewissen, den Henker in der Furcht, und wie er erbebt vor „jener schrecklichen Majestät, in deren Hände zu fallen entsetzlich ist …“114 Auch in Clairvaux pflegte man nicht nur das Gedenken an den Minnechristus des Hohenliedes.

Bernhard war der Meinung, er tauge nicht für die Welt, und ist auch später dabei geblieben, als er schon Proben seines Umgangs mit ihr abgelegt hatte.115 Er dachte an Flucht („Fugam meditari coepit“), wollte sich auch vor der aufgeregten Betriebsamkeit der Menschen verbergen.116 Später wird Bernhard den Stand der Mönche einmal folgendermaßen preisen: „Diese wählen einen besonders vorteilhafen und sicheren Weg; vom ganzen Leib der Kirche, der weiß glänzt, erscheinen sie als besonders glänzend“.117 Diese Lebensform war ihm zur heilskräftigsten an sich geworden, zur „vita fortissima“.118

Das „animam salvare“ war ebenso für seine Brüder der Grund, ihm zu folgen.119 Auch die oben zitierte Stelle aus Epistola 42 verweist darauf. Stets hat Bernhard – gut biblisch – darauf insistiert, daß die Furcht vor dem Herrn der Anfang eines Aufstiegs in der Frömmigkeit sei.120 Herzenshärte und -kälte, seelische Erstarrung im Religiösen blieb ihm am Beginn seines Frömmigkeitslebens nicht unbekannt.121 Doch hat er diese Stufe der Beziehung zu Gott im Laufe seines Lebens wohl sehr weitgehend überwunden und durch Gottesliebe ersetzt.

Seine Brüder, die zunächst keineswegs von denselben Gedanken umgetrieben erscheinen, wollten Bernhard freilich nicht verlieren. Fast wäre es ihnen gelungen, die Faszination, die die Welt des Wissens auf ihn ausübte, zum Köder zu machen und ihn damit von seinem Ziel wegzulocken. Bernhard schwankte und war schon bereit, eine Reise nach Deutschland zu unternehmen,122 vielleicht um an der Kölner Domschule zu studieren. Es ist merkwürdig, daß ein geographisch naher Zeitgenosse Bernhards, Hermann von Laon (von Tournai123) berichtet, Bernhard sei vor seiner Konversion bereits „clericus“ gewesen124. Ein Irrtum dieses Benediktiners, oder hatte er wirklich bereits mit einem Studium begonnen? Jedenfalls erwies sich die angesprochene Hartnäckigkeit Bernhards als stärker, und bald machte er seinerseits sämtliche von seinen Brüdern gefaßte Lebenspläne zunichte. Denn seine Abschweifung von dem ihm von der Mutter Aleth vorgegebenen Lebensweg war schon vorbei.

Bernhard von Clairvaux

Подняться наверх