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DAS ICH-KONZEPT Entstehung des Ich-Konzeptes

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Das vorangegangene kleine Experiment sät erste Zweifel an unserer alltäglichen Auffassung, ein getrenntes Ich zu sein. Doch diese Auffassung stellt eine unserer tiefsten und stärksten Konditionierungen dar, die auch durch handfeste Gegenbeweise nur schwer zu knacken ist. Entsprechende Erfahrungen werden wir in unseren weiteren Experimenten immer wieder unweigerlich machen müssen. Doch wie kommt es zu dieser hartnäckigen Konditionierung? Wie entsteht eigentlich die Auffassung, ein getrenntes Ich zu sein?

Um das zu verstehen, müssen wir weit zurückschauen und uns einfühlen in die ersten Ereignisse unseres noch ganz jungen Lebens. Als Neugeborene lebten wir vermutlich noch eng verflochten mit unserer Umgebung, die geprägt war von unseren elementaren Empfindungen wie Hunger, Freude, Müdigkeit etc. Wir fühlten uns noch nicht getrennt von der Mutter, wir waren ja auch lange genug eins mit ihr. Sinneswahrnehmungen, Körperempfindungen und Gefühle strömten ungefiltert auf uns ein. Es gab noch kein Außen und Innen, kein Mein und Dein, keine Trennung zwischen Körper und Welt. Alles geschah uns ohne die Idee eines persönlichen Zutuns.

Wir nehmen die Welt im Grunde noch immer genauso ganzheitlich wahr wie in dieser Zeit. An der ganzheitlichen Perspektive hat sich bis heute nichts geändert, wie wir noch sehen werden. Es ist lediglich etwas hinzugekommen, was zu einer anderen Interpretation geführt hat. Wann das geschehen ist, können wir nicht genau nachvollziehen. Aber relativ bald schon nach der Geburt konnten wir in unserer Umwelt verschiedene Objekte unterscheiden – und waren es auch nur die Farben der Rassel, die uns penetrant vor die Nase gehalten wurde. Die Welt zerfiel in verschiedene Teile, die sich auch außerhalb von uns zu befinden schienen, denn wir konnten sie nicht immer greifen. Durch das Erlernen von Begriffen und Sprache verstärkte sich der Eindruck einer fragmentierten Welt. Wir werden den Vorgang später in einem unserer Experimente ausführlich nachvollziehen.

Kaum war der Eindruck einer vielgliedrigen Welt da, entstand auch so etwas wie Vorliebe und Abneigung bestimmten Dingen gegenüber. Die erste noch nicht stark ausgeprägte Form von Wettbewerb begann. Schließlich nahmen wir unseren Körper selbst als so ein „Ding“ wahr, das sich von anderen Dingen zu unterscheiden schien. Wir fanden heraus, dass wir offensichtlich ein Objekt waren unter vielen anderen, das schließlich auch einen Namen bekam. Das war nützlich, denn jetzt konnten wir unseren Bedürfnissen Nachdruck verleihen: „Peter Hunger hat“. Vom Namen zum Ich war es dann vermutlich kein weiter Weg mehr. Schließlich behandelten uns die Bezugspersonen so, als wären wir ein autonomes Selbst, das einen eigenen Willen und eine freie Wahl hat und das sich verantworten muss, wenn es Unfug treibt. Nach einer gewissen Zeit elterlicher Bearbeitung erfolgte dann zwangsläufig die Etikettierung des Selbst als „Ich“ und wir begannen, von uns in der ersten Person zu sprechen. Die Trennung des scheinbar autonomen Ich von der Welt war perfekt.

Wenn man der Gehirnforschung5 glauben darf, besitzen Kinder in den ersten Lebensjahren noch kein sogenanntes „episodisches“ Gedächtnis. Das kindliche Gehirn kann zwar neue Denk- und Verhaltensweisen aufbauen, weiß aber später nicht mehr, woher der Anstoß dazu gekommen ist. Es nimmt das Gelernte sozusagen wie von Gott gegeben auf, ohne es jemals zu hinterfragen. Diese frühkindliche Gedächtnislücke könnte dafür verantwortlich sein, dass wir über unsere ersten Jahre so wenig wissen und weshalb uns unsere Ich-Erfahrung so selbstverständlich vorkommt. Die Trennung des scheinbar autonomen Ich von der Welt erschien uns aufgrund unserer frühkindlichen Amnesie als unumstößlich wahr, eben wie von Gott gegeben.

Aber die frühkindliche Separation bildete natürlich nur den Anfang des Dramas. Für die Kommunikation mit unseren Mitmenschen benötigen wir fortan ein Abbild von uns selbst, über das wir reden und uns austauschen können. Durch die Spiegelung des eigenen Verhaltens im Anderen entsteht ein „Selbstbild“, das nicht das Subjekt, sondern ein Gegenstand der eigenen Anschauung darstellt. Das „Ich“ wird also zum Objekt, über das man kommunizieren und dessen Wirkung auf die Umwelt man erproben kann. Ich habe einmal folgenden Spruch gehört: „Ich weiß, was du denkst, dass ich fühle, und darum tu ich so, als fühle ich anders, womit ich deine Gedanken über mich manipuliere …“ Die Erfindung des Ich-Objektes bzw. des Selbstbildes stellt offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für eine komplexe soziale Interaktion dar. Man kann vermuten, dass der Mensch einen großen Teil seiner geistigen Ressourcen in derartige Überlegungen investiert.

Die Objekthaftigkeit der eigenen Ich-Anschauung wird schon in einfachen Aussagesätzen wie „Ich habe Hunger“ deutlich, wobei das genannte Ich ein Objekt darstellt, über das eine Aussage gemacht wird. Noch klarer tritt das Ich-Objekt zutage in alltäglichen Sätzen wie „Ich möchte mich verändern“, wobei sich das Ich in zwei Teile aufspaltet: In einen, welcher verändern will, und in einen anderen, welcher verändert werden soll. Im Laufe des Lebens reift das Ich-Objekt dann zu einen wahren Kunstwerk heran, das in Erzählungen ausgestaltet oder gar dramatisiert und durch unzählige Selbstbildnisse (früher Porträt, heute Selfie) in den sozialen Archiven für die Um- und Nachwelt archiviert wird. Das Ich-Objekt wird zum Ausdruck und Symbol für unsere Selbstauffassung als getrenntes Ich.

So attraktiv das Selbst der Umwelt gegenüber auch immer präsentiert wird, es beinhaltet im Kern auch immer negative Attribute, die nicht zuletzt auf frühkindliche Erfahrungen zurückgehen. Wir benötigen nicht viel Phantasie, um uns die Erfahrungen von Einsamkeit und Verlassenheit auszumalen, die durch die zwangsläufige Trennung von der Mutter entstehen. Hinzu kommt der schmerzhafte Eindruck der Bedürftigkeit und Hilflosigkeit, der wohl keinem Lebewesen erspart bleibt, das nicht das Glück hatte, ein bereits recht gut ausgerüsteter Nestflüchter zu sein statt ein nackter und blinder Nesthocker. Und schließlich müssen Menschenkinder unglücklicherweise fast alles erst lernen, was auch nicht gerade dazu beiträgt, dass sich das junge Wesen als komplett und mangelfrei erfährt.

Es ist sicher keine besonders neue psychologische Weisheit, dass Babys und Kleinkinder „echte“ Zuwendung, Einfühlung und Bestätigung benötigen, um eine sichere Basis für ihre Entwicklung und Selbsterprobung zu haben. Die eigene Unvollkommenheit drückt weniger schwer, wenn man trotzdem und ohne Gegenleistung bedingungslos geliebt wird. Aber wo finden sich schon so ideale Verhältnisse? Sie mögen aus eigener Erfahrung selbst beurteilen, ob diese förderlichen Bedingungen häufig gegeben sind oder doch eher Ausnahmen darstellen.

Vermutlich ist Liebesmangel kein Phänomen bestimmter sozialer Gesellschaftsschichten. Er findet sich auch und vielleicht gerade in den ansonsten bestens versorgten Familien, wo Kinder zur elterlichen narzisstischen Selbstdarstellung missbraucht werden. Die Frühförderung von Kindern durch Sprachunterricht, Logopädie, Musik, Physiotherapie etc. hat heute ungeahnte Ausmaße angenommen. Im Fernsehen haben Kinder-Castingshows Konjunktur, und schon in der Babyzeit überbieten sich Eltern mit der Präsentation der herausragenden Sprach-, Ess- und Schlafgewohnheiten ihrer Kinder.

Neulich habe ich auf einem Spielplatz eine Mutter beobachtet, die mit abgewandtem Körper ihr schluchzendes Kind ausschimpfte, weil es sich ungeschickterweise beim Rutschen am Rand der Rutsche den Kopf angeschlagen hatte. Ich fürchte, dass dieses Reaktionsmuster kein Einzelfall darstellt. Die fatale Wirkung einer solchen Reaktion wird klar, wenn wir uns bewusst machen, dass das Kind sich selbst alleine die Schuld für seine Unvollkommenheit zuschreibt. Es macht sich selbst dafür verantwortlich, dass es die elterlichen Erwartungen nicht zu erfüllen vermag. Zu der Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit gesellt sich auf diese Weise noch der Eindruck der Schuldhaftigkeit, was das persönliche Unglück komplettiert und die Selbstwahrnehmung als getrenntes Ich zementiert. Der Eindruck, eine getrennte Person zu sein, verknüpft sich in engster Weise mit dem Gedanken „Ich bin nicht gut genug“, der das ganze weitere Leben zutiefst prägen kann.

Natürlich beeinflusst die eigene Grundauffassung „Ich bin ein getrenntes und mangelhaftes Ich“ auch den Umgang mit den eigenen Kindern, womit sich eine entsprechende Haltung in der Erziehung begründet und sich der Kreis aus Anklage und Mangelempfinden schließt. Die Weitergabe der sogenannten „narzisstischen Störung“ von Generation zu Generation wird zum Beispiel in den Büchern von Alice Miller6 anschaulich beschrieben, ist aber auch sonst ein weit verbreitetes Thema in der Psychologie (siehe zum Beispiel auch Hans-Joachim Maaz7 „Die narzisstische Gesellschaft“).

Ich – wer ist das?

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