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Befreiung vom Ich-Konzept
ОглавлениеMöglicherweise hinterlassen die bisherigen Betrachtungen zum Ich-Konzept bei den Lesern eine gewisse Ratlosigkeit. Schließlich ist es mehr als deutlich geworden, dass der Ich-Gedanke zu diversen Schwierigkeiten führt und das Leben nicht gerade positiv beeinflusst. Letztendlich lässt sich unsere existentielle Situation als Mensch und unser stetes Bemühen um Erlösung vereinfacht in drei Punkten zusammenfassen:
1. Wir gehen davon aus, dass wir von der Welt getrennte Wesen sind und dass unser derzeitiger Zustand mangelhaft ist. Diese Annahme über unseren Zustand ist sehr wahrscheinlich falsch.
2. Wir versuchen, den Zustand durch diverse Ich-Konzepte zu verbessern, erreichen damit aber in der Regel eher das Gegenteil. Die Ich-Konzepte sind ungeeignete Mittel, um einen Zustand der Trennung aufzuheben.
3. Ziel aller Bemühungen ist es, die leidvolle Trennung und Mangelhaftigkeit wieder abzuschaffen. Das Ziel ist unsinnig, da es weder Trennung noch Mangelhaftigkeit je gegeben hat.
Etwas provokant könnte man schlussfolgern: Aufgrund einer falschen Annahme sind wir auf dem falschen Weg zu einem unnötigen Ziel. Und das erscheint nicht unbedingt eine optimale Lebensstrategie zu sein.
Spätestens mit dieser Analyse stellt sich aber natürlich die Frage nach einer geeigneten Gegentaktik. Welche Lösungsmethode ist richtig, wenn offensichtlich jedes zielgerichtete Handeln falsch ist? Hier tut sich ein regelrechtes Dilemma auf, an dem keine ernsthafte Lebensberatung, Religion oder spirituelle Weisheitslehre vorbeikommt.
Dabei ist die Lösung eigentlich recht einfach. Wenn das Problem in einer Fehlauffassung über uns selbst liegt, dann muss diese korrigiert werden. Begründet sich diese Fehlauffassung in der fälschlichen Annahme eines getrennten Ich, dann muss dieses getrennte Ich hinterfragt werden. Der Mensch muss seine fundamentale Einsicht in die Einheit allen Seins zurückgewinnen, um von dem Leid der Trennung und von den unsäglichen Kompensationsstrategien befreit zu werden. Ist das fundamentale Fehlurteil erst beseitigt, dann lösen sich die Knoten unserer Verwirrungen von alleine auf.
So sind sich nahezu alle östlichen Lehren darin einig, dass es nie ein getrenntes Ich gegeben hat, sondern lediglich eine falsche Vorstellung. Bei keiner spirituellen Übung geht es ursprünglich um eine Veränderung oder Verbesserung des Menschen, sondern um eine Rückbesinnung auf das, was ohnehin als Tatsache immer vorlag. Ziel jeglicher spiritueller Praxis ist lediglich die Aufhebung eines Irrtums. Nirgendwo liegt etwas verborgen, das wiedergefunden werden müsste. Nichts muss gesucht werden, weil niemals etwas verloren gegangen ist. Der Mensch war niemals getrennt von irgendetwas und muss demnach auch nicht wiedervereinigt werden.
Immer gab es nur Einheit und dieses Eine übersieht im Prozess der Selbstwahrnehmung seine Ganzheit. Dabei ist diese Ganzheit nicht versteckt, nicht schwer zu entdecken, sondern jederzeit deutlich und offen erkennbar. Ja, in gewisser Weise wird die Wahrheit nur durch die seltsame Vorstellung verschleiert, dass alles anders sei, als es erscheint.
Gemäß der Tradition des Advaita Vedanta15 beruht der Grundirrtum im Wesentlichen darauf, dass die eigene „wahre“ Identität, das „Ich bin“16, auf die Vorstellung eines getrennten Ich projiziert wird. Insofern erscheint es nachvollziehbar, dass die Frage nach der eigenen wahren Identität den Fehler beheben kann. Im Advaita Vedanta verwendet man hierzu das Prinzip der „Selbsterforschung“, wobei selbstreflektierende Fragen wie zum Beispiel „Wer bin ich?“ so lange wiederholt werden, bis jegliche Identifizierungen abfallen und das eigene gegenwärtige Sein als Hintergrund und Grundlage aller Identifizierungen zum Vorschein kommt.
Auch wenn die spirituelle Selbsterforschung über ein rein intellektuelles Verstehen der eigenen Identität hinauszugehen versucht, verträgt sie sich vom Ansatz her relativ gut mit dem im Westen vorherrschenden wissenschaftlichen Weltbild, welches auch auf einer empirischen Überprüfung der Wirklichkeit beruht. Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie wird auch im Westen immer häufiger anerkannt.17 18 Eine gewisse Konzession an die westliche, rationale Denkweise stellt dabei ein Ansatz dar, der manchmal auch als „direkter Weg“19 (engl: direct path) bezeichnet wird. Er lehnt sich zum einen an das traditionelle Prinzip der Selbsterforschung an, verwendet dabei aber einen für den westlichen Menschen zugänglichen Erfahrungsraum, verzichtet auf jeglichen kulturellen Überbau und verhält sich weltanschaulich neutral. Sein experimenteller Zugang zielt direkt auf die menschliche Selbst- und Weltwahrnehmung, die von jedem Menschen unmittelbar und ohne Voraussetzungen nachvollzogen werden kann.
Die im Folgenden dargestellten Experimente dienen im Grunde einem ähnlichen Zweck der direkten Selbsterfahrung, wobei sie keinem bestimmten Prinzip oder bestehenden System streng nachfolgen. Sie dürfen keinesfalls als Heilsweg oder spirituelle Praxis missverstanden werden. Es handelt sich dabei vielmehr um an die Wissenschaft angelehnte Beobachtungen, die unsere gewohnte Weltsicht hinterfragen und auf unsere wahre Natur hinweisen wollen. Auch wenn sich im Verständnis der eigenen Identität vielleicht manche Verkrampfung auflöst, so handelt es sich bei dieser Art der Selbsterforschung ausdrücklich um keine Therapie.
Therapien zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine bestimmte objektartige Vorstellung von uns selbst durch eine andere Vorstellung ersetzen. Wenn ich eine schlechte Meinung von mir selbst habe, indem ich mich zum Beispiel mit der Eigenschaft „Versager“ identifiziere, dann vermag eine gute Therapie diese Identifizierung zu korrigieren und mich zu einer positiveren Selbsteinschätzung zu führen. Eine solche Korrektur ist sinnvoll und soll hier nicht in Frage gestellt werden. Doch auch diese positive Selbsteinschätzung stellt nach wie vor ein objektartiges Selbstbild der Form: „Ich bin dies oder das“ dar. Sie beruht immer noch auf dem Prinzip der Trennung.
Mit den hier vorgestellten Experimenten wird jede Art von Selbstobjektivierung hinterfragt, damit unsere ureigene Perspektive, die sich hinter jeder objektartigen Vorstellung unserer Selbst verbirgt, wieder zum Vorschein tritt. Dadurch wird aber niemand verändert und kein persönliches Problem direkt gelöst. Die möglicherweise neu entdeckte Perspektive führt nirgendwo, zu keinem konkreten Ziel hin. Bestenfalls verschiebt sie den Fokus der gegenwärtigen Betrachtung, so dass gesehen wird, was immer schon war. Das aber kann eine große Befreiung sein.