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Das getrennte Ich

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Es ist völlig unstrittig, dass jeder Mensch ein einzigartiges Individuum darstellt. Seine genetischen Dispositionen, körperlichen und geistigen Merkmale und Prägungen sind einmalig. Kein Mensch gleicht dem anderen in seinen Erfahrungen, Überzeugungen, Kenntnissen, Talenten, Ängsten etc. Häufig wird das Ich daher als die Summe dieser individuellen Eigenschaften aufgefasst. Es umfasst somit Geist (Gedanken, Gefühle und Empfindungen) und Körper. Diese Ich-Auffassung kennt ein Innen, das ist der Bereich innerhalb des Körpers, wo auch der Geist verortet wird, und ein Außen, das für die gesamte Umwelt außerhalb des Körpers steht. Zwischen Ich und Nicht-Ich verläuft eine Grenze, die als Hautoberfläche sehr markant in Erscheinung tritt. Diese relativ organische bzw. anatomische Betrachtungsweise des Selbst könnte man auch als „Ich bin der Körper“ zusammenfassen.

Oft wird jedoch eine weitere Grenze zwischen Geist und Körper gezogen, wobei das Ich im Kern nur dem geistigen Anteil zugeordnet wird. Diese Anschauung hat in der abendländischen Philosophie eine lange Tradition und wurde im 17. Jahrhundert von René Descartes mit seinem bereits oben erwähnten Satz „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) auf den Punkt gebracht. Auf Descartes geht auch die Bezeichnung „Leib-Seele-Dualismus“ zurück, die seither für eine dualistische Weltanschauung der Subjekt-Objekt-Trennung steht. Dieser Dualismus bildet bis heute das philosophische Rückgrat vieler religiöser Anschauungen, die das Ich als unsterblichen Wesenskern (Seele) des Menschen deuten. Die meisten Menschen nehmen sich ja auch so wahr. Sie fühlen sich als eigenständiges (und hoffentlich unvergängliches) Ich.

Das Ich wird hierbei als eine Art Kontrolleur verstanden, der wie in einem Kommandostand im Kopf die Ereignisse überblickt und die Zügel des Handelns in der Hand hält. Dem Körper kommt hingegen die Rolle eines biomechanischen und sensorischen Apparates zu, der dem Ich dient und entsprechend funktional behandelt wird. In diesem Fall ist der Körper sozusagen das Eigentum des kommandierenden Ich, was sich auch in unserer Sprache ausdrückt. Wir sagen zum Beispiel: „Mein linker Fuß kitzelt“. Wir sagen nicht: „Ich Fuß kitzele links“. Dieser Umgang mit uns selbst ist im Allgemeinen so selbstverständlich, dass wir ihn im Alltag nicht in Frage stellen.

Während die Geisteswissenschaften auch heute noch manchmal an der Vorstellung eines feinstofflichen Ich-Kernes (Seele) im Menschen festhalten, interpretiert die moderne Gehirnforschung in der Tradition des Materialismus das Ich als reines Gehirnprodukt und damit als Ergebnis biophysikalischer bzw. materieller Vorgänge. Da sich die Wechselwirkungen materieller Vorgänge nicht auf einen bestimmten Ort eingrenzen lassen, lösen sich – bei genauer Betrachtung – im Materialismus die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich auf. Dennoch wird auch von der Gehirnforschung nach wie vor das Gehirn als Träger der menschlichen Identität hervorgehoben. Der bekannte deutsche Gehirnforscher Martin Spitzer prägte in diesem Zusammenhang den Satz: „Sie sind Ihr Gehirn!“.4 Das Gehirn als Steuerorgan des Organismus wird auch als Sitz des Bewusstseins angesehen, obgleich es dort bisher noch nicht gefunden werden konnte.

Allen angesprochenen Ich-Auffassungen ist im Grunde gemeinsam, dass sie die menschliche Identität in irgendeiner Weise einzugrenzen versuchen. Das scheint zunächst selbstverständlich zu sein. Denn der Begriff „Identität“ beinhaltet vom Grundverständnis her immer eine Unterscheidung, eine Abgrenzung von etwas, das dieser Identität nicht angehört. Der Begriff „Ich“ als Kennzeichnung einer speziellen Person macht nur dann einen Sinn, wenn es auch jemanden „anderes“ gibt. Die Entwicklung einer eigenen und einzigartigen Identität wird in unserer Gesellschaft normalerweise als etwas Positives gedeutet. Dass jede Festlegung auf eine bestimmte Identität gleichzeitig auch mit einer Beschränkung bzw. Einengung einhergeht, wird nicht so deutlich wahr- bzw. in Kauf genommen.

Eng mit dem Begriff der Identität ist der Vorgang der Identifizierung verbunden. Darunter versteht man, dass die Identität bzw. das Ich mit bestimmten Objekten oder Merkmalen der Umgebung gleichgesetzt bzw. als „identisch“ angenommen wird. Wenn ich mich zum Beispiel mit einer speziellen Fußballmannschaft identifiziere, dann fühle, freue und leide ich mit der Mannschaft, als wäre sie ein Teil von mir. Durch Identifizierung kann sich das Ich ausweiten, vergrößern und dadurch verstärken. Menschen identifizieren sich zum Beispiel mit ihrer Familie, ihrer Heimat oder ihrem Land. Dadurch überträgt sich ein Teil der Macht des Objektes auf das eigene Ich-Gefühl. Doch jede Identifizierung stellt gleichzeitig immer auch eine Abgrenzung dar. Die Identifizierung mit einer bestimmten Fußballmannschaft macht nur dann einen Sinn, wenn es auch eine gegnerische Mannschaft gibt, von der man sich abheben möchte. Jede Identifizierung verstärkt daher die Trennung, die jeder Ich-Anspruch automatisch nach sich zieht.

Ein wichtiger Eckpfeiler unserer Identität ist also das Prinzip der Trennung. Allerdings wird unser Identitätsgefühl in der Selbstwahrnehmung im Wesentlichen auch von zwei weiteren Auffassungen gestützt, die im Folgenden kurz umrissen werden:

1. Wir stehen der Welt in der speziellen Erste-Person-Perspektive gegenüber. Darin sehen wir uns als Zentrum unserer Wahrnehmungen und die Welt erstreckt sich um uns herum. Wir befinden uns in deren räumlichem Mittelpunkt. Wer oder was sieht, hört, spürt diese Welt? Ich. Das Ich ist der Träger des Bewusstseins, es ist der individuelle Beobachter, der Zeuge der Welt. Dabei gilt auch hier das Prinzip der Trennung. Auf der einen Seite befindet sich das Ich mit seiner Fähigkeit, sinnliche Erfahrungen zu machen, auf der anderen Seite erstreckt sich eine von ihm getrennte Welt, von der die Reizung der Sinne auszugehen scheint. In diesem Fall wirkt die Welt als Sender, das Ich bildet den Empfänger. Umgekehrt erfahren wir uns als die Instanz, von der das Sehen, Hören etc. ausgeht, während die Welt Gegenstand dieser Wahrnehmung ist. Egal wie herum man es betrachtet, in beiden Fällen herrscht eine klare Subjekt-Objekt-Trennung.

2. Die Ich-Identität entsteht außerdem durch die Überzeugung, dass wir uns selbst gestalten, Gedanken erzeugen und frei auf die Welt einwirken können. Kaum ein Eindruck ist so identitätsstiftend und so hartnäckig wie unser Empfinden, einen freien Willen zu besitzen und nach eigenem Ermessen das Leben kontrollieren zu können. Das Ich ist immer auch der Entscheider in uns. Ein Ich ohne freien Willen würde uns seltsam erscheinen. Aber auch diese Fähigkeit ist nicht ohne Trennung zu haben. Um unabhängig zu sein, muss sich das Ich von seiner Umwelt lösen, es muss sich gleich einer Kompassnadel frei und ohne Widerstand bewegen können, was im Extremfall eine vollständige Isolation voraussetzt. Denn jede Verbindung und jeder Kontakt bedeutet gleichzeitig eine Beeinflussung, die die Freiheit des Ich einschränken würde.

Zusammenfassend könnte man das Ich mit einem König vergleichen, der in einem Wasserschloss residiert, umgeben von einem Wassergraben. Durch die Fenster des Schlosses blickt das Ich hinaus in die Welt jenseits des Grabens. Im Schloss führt es sein Eigenleben, aber es kann auch mithilfe der Zugbrücke Verbindung mit seiner Umwelt aufnehmen, Handlungen ausführen, Macht ausüben. Auf jeden Fall aber ist es vor seiner Umwelt geschützt, wobei der Wassergraben die fundamentale Trennung zwischen ihm und der Welt manifestiert. Unsere übliche Ich-Auffassung kommt ohne eine solche Trennung nicht aus. Unser Bild von einem eigenständigen und unabhängigen Selbst ist immer gleichzeitig ein Symbol der Begrenzung mit allen Konsequenzen, die Grenzen üblicherweise nach sich ziehen.

Ich – wer ist das?

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