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EINFÜHRUNG Was bedeutet „Ich“?

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Es ist unbestreitbar, dass das „Ich“, was immer darunter verstanden wird, von unserer Gesellschaft wie eine Ikone vorausgetragen wird. Die Zeitung „Die Zeit“ titelte in einem Artikel vom 22.05.2015: „Unterm Strich zähl Ich“ und verweist damit auf die typischen ich-bezogenen Maßstäbe und Begrifflichkeiten unserer Gesellschaft wie Wettbewerb, Karriere, Wachstum, Produktivität, Leistung, Erfolg, Ansehen, Status, Schönheit, Gesundheit, Superstar, Supermodel etc. Wer an diesen Ich-Wettbewerben nicht teilnimmt oder nicht mehr teilnehmen kann, wer nicht nach dem eigenen Vorteil strebt, der wird in gewisser Weise als nicht gesellschaftsfähig oder gar als krank angesehen. Die meisten Therapien und Coachings zielen daher darauf ab, erschöpften Menschen wieder zu neuer Ich-Stärke zu verhelfen. Denn nur auf diese Weise, so ist die allgemeine Ansicht, kann man diesen Menschen zu persönlichem Glück verhelfen.

Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens steht also etwas, das wir mit „Ich“ bezeichnen und das gleichzeitig Ausgangspunkt und Ziel all unseres Handelns darstellt. Die Identität dieses Ich ist uns so selbstverständlich, seine Bedeutung so vertraut, dass wir nicht darüber nachdenken und es auch nicht in Zweifel ziehen. Aber was ist eigentlich dieses „Ich“?

Natürlich ist der Begriff „Ich“ zunächst rein formal die erste Person Singular unter den Personalpronomen. Fahndet man im Internet nach dem Begriff „Ich“, so stößt man darüber hinaus auf zahlreiche Definitionen, die der folgenden ähneln: „Bezeichnung für die eigene separate individuelle Identität einer menschlichen Person“.1 Mit diesem Satz wird allerdings nicht wirklich etwas erklärt, sondern lediglich ein Begriff durch einen anderen ersetzt, nämlich „Ich“ durch „Identität“. Das ist so ähnlich, wie wenn man „Feuchtigkeit“ durch die Eigenschaft „Nässe“ zu erklären versucht. Dennoch verweist die Definition mit dem Begriff „separat“ auf eine grundsätzliche Eigenschaft, ja sogar auf den Knackpunkt der Ich-Identität: Ich, das ist immer Trennung.

Weitere Nachforschungen fördern die Aussagen wichtiger Vertreter der Philosophie und der Psychologie zutage. So erklärt zum Beispiel Immanuel Kant, dass das Ich sich selbst durch den „inneren Sinn“ als ein zeitliches Wesen wahrnimmt. Es hat somit durch die Abfolge von Gedanken und Gefühlen „seine eigene Geschichte“. Der „äußerer Sinn“ lässt die Dinge im Raum erscheinen, wozu der eigene Körper gehört. Das wahre Selbst – das „transzendentale Subjekt“ – kann dagegen laut Kant und seiner „Kritik der Vernunft“ nicht erfahren werden.

René Descartes wiederum führt mit seinem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“ die Ich-Identität auf das menschliche Denken zurück. Ich kann meine Existenz als Geist nicht leugnen. Doch mein Körper kann eine Illusion sein. Er begründet mit der Unterscheidung zwischen Geist und Körper einen Dualismus, der die abendländische Philosophie fortan geradezu penetrant begleitet.

Sigmund Freud schließlich sieht in seinem „Strukturmodell der Psyche“ das Ich als Teil der Persönlichkeit, der zwischen Es, Über-Ich und der Umwelt vermittelt. Spätestens mit den Aussagen der modernen Gehirnforschung büßt das Ich endgültig seine Kontur ein und verliert sich in einer Vielfalt diverser Gehirnfunktionen. So unterscheidet der Verhaltensphysiologe Gerhard Roth2 zahlreiche wechselnde Ich-Zustände wie das Körper-Ich, das Verortungs-Ich, das perspektivische Ich, das Erlebnis-Ich, das Kontroll-Ich, das autobiografische Ich, das selbstreflexive Ich, das sprachliche Ich sowie das ethische Ich und ordnet all diesen Ich-Zuständen die Aktivität bestimmter Gehirnregionen zu.

Mit den Bezeichnungen „Ich“, „Selbst“ und „Ego“ sind für die menschliche Identität mehrere Worte gebräuchlich, deren Unterschied, falls vorhanden, nicht sofort offensichtlich wird. Während die Bezeichnung „Selbst“ häufig im Zusammenhang mit den östlichen Philosophien und Weisheitslehren auftaucht und einen durchaus positiven Beiklang hat, bildet das Wort „Ego“ den eher negativen Gegenpart und findet sich in Ausdrücken wie „Egoismus“, „Egomanie“ oder „Egozentrik“. In diesem Text wird daher in der Regel die im Deutschen gebräuchlichste Form „Ich“ verwendet, da mit ihr am wenigsten Bewertung mitschwingt und sie daher relativ neutral klingt.

In einem Artikel der Zeitung „Die Zeit“ vom 14.08.143 wurden verschiedene Ich-Ansichten katalogisiert, die hier auszugsweise wiedergegeben werden:

• Francis Crick (Biochemiker): „Ihr Sinn für Ihre eigene Identität beruht auf dem Verhalten von Nervenzellen“

• Thomas Metzinger (Philosoph): „Das Selbst ist kein Ding, sondern ein Vorgang“

• Max Frisch (Schriftsteller): „Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er für sein Leben hält“

• Martin Buber (Religionsphilosoph): „Der Mensch wird am Du zum Ich“

• René Descartes (Philosoph): „Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich“

• Arthur Rimbaud (Dichter): „Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Es müsste heißen: Es denkt mich“

• Harald Schmidt (Entertainer): „Wer soll man denn sein? Wer ist denn schon wer?“

Die einzelnen Aussagen sollen hier nicht kommentiert werden. Aber es wird deutlich, dass unter der Bezeichnung „Ich“ durchaus Unterschiedliches verstanden wird und teilweise gegensätzliche Interpretationsansätze vorhanden sind. Um mehr Klarheit zu schaffen, werden im Folgenden typische Gesichtspunkte unserer Ich-Auffassung diskutiert. Dadurch erhellen sich weit verbreitete Grundannahmen, die uns den Umgang mit den verschiedenen Ansichten erleichtern.

Ich – wer ist das?

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