Читать книгу Ich – wer ist das? - Peter Pfrommer - Страница 9

Ein erstes Experiment

Оглавление

Stellen Sie sich vor, Sie werden von einem Mitmenschen beleidigt. Vergegenwärtigen Sie sich wenn möglich einen Fall, wo Sie sich gekränkt fühlten. Vielleicht hat Ihnen am Arbeitsplatz ein Kollege oder eine Kollegin oder gar eine vorgesetzte Person in grobem Tonfall Inkompetenz vorgehalten. Das wird Sie sicher nicht unberührt lassen. Vermutlich werden Sie in irgendeiner Weise auf die Attacke reagieren, egal wie. Die Beleidigung hat etwas in Ihnen getroffen. Man könnte auch sagen: Ihr „Ich“ wurde gekränkt. Aber worin besteht in diesem Zusammenhang das gekränkte „Ich“? Was genau wurde in der Kränkung getroffen? Überprüfen Sie, ob die folgenden Ich-Ansichten der Kränkung tatsächlich gerecht werden:

„Ich bin der Körper.“ Viele Menschen setzen sich selbst mit ihrem (einzigartigen) Körper gleich, der als biologisches bzw. physikalisches Objekt für sämtliche Lebensfunktionen verantwortlich ist und sich der Welt bzw. anderen Körpern als Gegenüber präsentiert. Aber kann man einen biologischen, also einen rein materiellen Vorgang tatsächlich beleidigen? Hat er tatsächlich eine Identität, die verteidigt werden müsste? Stellen Sie sich vor, Sie beleidigen eine Maschine. Sie werden wohl kaum eine Reaktion erwarten, es sei denn, die Maschine wäre entsprechend programmiert.

„Ich bin mein Denken/Gefühl.“ Oft wird eine Grenze zwischen dem Körper und dem ihn steuernden Geist gezogen, wobei das Ich nur dem denkenden Teil zugeschrieben wird. In diesem Fall bin ich sozusagen der Ich-Geist mit seinen Gedanken und Gefühlen, der einen Körper „besitzt“. Aber was ist eigentlich ein Gedanke? Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass es sich hierbei um eine geistige Gestalt handelt, die eine bestimmte Aussage oder eine Vorstellung vermittelt. Der Gedanke „Der Tag fängt ja schon wieder gut für mich an“ ist zunächst einfach eine sprachliche Konstruktion, die als innere Stimme erscheinen mag und die eine Behauptung „über mich“ aufstellt. Aber kann man eine sprachliche Konstruktion beleidigen? Haben Worte und Töne eine Identität? In gleicher Weise können wir eine persönliche Identität von Gefühlen in Frage stellen. Die Empfindung „Hitze in der Brust“ kann sehr intensiv werden. Aber hat sie eine Identität?

„Ich bin die/der Wahrnehmende.“ Es ist nicht zu leugnen, dass wir die Welt über unsere Sinne in Form von Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Spüren erfahren. Entsprechend könnten wir uns als den „Seher“ oder die „Hörerin“ definieren. Aber kann man hieraus wirklich eine Identität ableiten? Lassen sich die Feststellungen „Ich sehe rot“, „Ich schmecke Süßes“ oder „Ich rieche Rosenduft“ beleidigen? Vermutlich nicht.

„Ich bin meine Geschichte.“ Viele Menschen beziehen scheinbar ihre Identität aus ihrer persönlichen, einzigartigen Lebensgeschichte, die zweifellos aus unendlich vielen Einzelereignissen zusammengewebt ist und die bei jeder Gelegenheit für grenzenlosen Gesprächsstoff sorgt. Aber auch das hilft uns nicht wirklich weiter. Die Tatsache eines bestimmten Geburtsdatums oder anderer lebensgeschichtlicher Fakten lässt sich wohl auch kaum kränken.

„Ich bin eine außergewöhnliche Person.“ In diesem Fall identifizieren wir uns mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit oder einem besonders attraktiven Körpermerkmal. Diese Einstellung ist daher nur ein Sonderfall der Annahmen „Ich bin der Körper“ bzw. „Ich bin mein Denken“, die bereits oben hinterfragt wurden.

„Ich bin der Entscheider.“ Das ist eine besonders hartnäckige Form der Identifizierung. Sie zieht ihre Identität aus der scheinbaren Fähigkeit, eigene Gedanken zu erzeugen und damit freie Entscheidungen herbeizuführen. Viele Menschen empfinden sich als die Instanz, die ihr eigenes Leben kontrolliert, die also die Fäden des Handelns in der Hand hält. Aber selbst wenn es eine solche Instanz tatsächlich geben sollte, dann wäre zu begründen, wieso und inwieweit ein persönlicher Problemlösungs- oder Auswahlprozess beleidigt werden kann. Denken Sie darüber nach!

Möglicherweise fallen Ihnen noch weitere Ich-Identifikationen ein. Sie können das Experiment für sich gerne erweitern, indem Sie jedes Mal fragen, ob sich die jeweilige Identifikation beleidigen lässt. Sie werden vermutlich nie auf eine überzeugende Begründung einer solchen emotionalen Reaktion stoßen. Wir identifizieren uns mit den unterschiedlichsten Objekten, aber kein Objekt trägt wirklich eine Ich-Identität in sich, die sich beleidigen ließe. Jedes Mal, wenn wir glauben, eine treffende Beschreibung für unser Ich gefunden zu haben, dann gerinnt es zu einem Objekt, das sich jeglicher Personifizierung geschickt widersetzt. Beim Versuch, unser getrenntes Ich zu finden, laufen wir also wortwörtlich ins Leere. Kann es sein, dass es dieses getrennte Ich-Objekt überhaupt nicht gibt?

Ich – wer ist das?

Подняться наверх