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Gesellschaftliche Konsequenzen
ОглавлениеUnsere Auffassung vom getrennten Ich ist die Voraussetzung für zahlreiche soziale Interaktionen, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens darstellen. So ist unsere Auffassung von Verantwortung üblicherweise an die Vorstellung einer freien Ich-Entscheidung geknüpft. Viele Menschen rühmen sich ihres klugen und bedachten Handelns. Im positiven Fall lassen sich dadurch „eigene“ Verdienste erzielen. Dies führt zu Empfindungen wie Stolz und jemand Besonderes zu sein. Im negativen Fall kann das Ich allerdings auch schuldig werden oder es wird zur Rechenschaft gezogen. In diesem Zusammenhang treten dann Gefühle auf wie Scham, Schande, Schmach bzw. Rache, Zorn und Groll anderen Ichs gegenüber. Auch diese Gefühle machen nur Sinn bei einem selbstverantwortlichen Ich. Was bliebe von diesen gesellschaftlichen Konventionen, wenn es kein selbstständiges Ich gäbe?
Die Auffassung vom getrennten Ich hat aber auch starke Auswirkungen auf die unterschiedlichsten religiösen Vorstellungen. Viele dieser Vorstellungen sind stark egozentriert. Die hinduistische Lehre von der Reinkarnation setzt ein getrenntes Ich voraus, das in einem neuen Körper wiedergeboren werden kann. Gemäß der buddhistischen Lehre vom Karma sammelt das Ich auf Basis von guten und schlechten Taten gutes oder schlechtes Karma für das nächste Leben. Und das christliche Jüngste Gericht entscheidet in ähnlicher Weise über den Platz des Ich im Jenseits. Auch wenn bei diesen Vorstellungen nie ganz klar ist, aus welcher Substanz das über den Tod hinaus verbleibende Ich, die sogenannte „Seele“, sein soll und welche Ich-Beschaffenheit es mitnimmt bzw. überträgt, so kommt keine dieser Vorstellungen ohne eine klare Abgrenzung des Ich gegenüber seiner Umwelt aus.
Schließlich bildet unser Identitätsmodell die ökonomische und psychologische Grundlage für unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung, in welcher Leistung, Produktivität und Wachstum im Vordergrund stehen. Dabei identifiziert sich das Ich wahlweise zum Beispiel mit
• seiner persönlichen Leistung, was Erfolgsstreben, Leistungsdenken, aber auch Versagensängste nach sich zieht,
• mit seinen Kenntnissen, was nicht selten in Rechthaberei oder in einer ständigen Abwehrhaltung ausartet,
• mit dem eigenen Besitz, was mit Verlustängsten einhergeht,
• mit dem eigenen Status, der dauerhaft verteidigt werden muss,
• mit einer bestimmten Gruppe, die allerdings eine persönliche Angleichung (Uniformität) erfordert und neue Abgrenzungen (zur Outgroup) schafft,
• mit der eigenen Individualität, die im schlimmsten Fall in Isolation und Einsamkeit mündet.
Die gesellschaftlichen Konsequenzen unserer Ich-Auffassung liegen also auf der Hand. Sie werden im folgenden Kapitel „Das Ich-Konzept“ weiter vertieft. Aber werden die bisher dargestellten Interpretationen, Ansätze und Definitionen im Kern unserem Ich-Verständnis gerecht? Haben Nervenzellen, Gedanken, Geschichten, Spiegelungen und Entscheidungen tatsächlich etwas mit dem zu tun, was wir als unsere Identität empfinden? Wenn es in uns einen von allem anderen getrennten Ich-Kern gibt, dann müsste er sich doch finden lassen! Wenn eine so offensichtliche Ich-Identität existiert, der sich alles unterordnet, dann müsste sie doch leicht zu isolieren und zu betrachten sein, oder nicht? In einem kleinen Gedankenexperiment begeben wir uns daher auf eine erste Suche nach diesem Ich-Kern.