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Das Grundempfinden des getrennten Ich
ОглавлениеWie bereits gesagt, begreift sich ein Kleinkind ab einem bestimmten Zeitpunkt als ein Objekt inmitten vieler anderer Objekte. Dadurch findet eine erste fundamentale Trennung statt. Empfand sich das Kind zuvor noch als Bestandteil der Umgebung, sieht es sich jetzt als ihr Gegenüber. Die damit einhergehende räumliche Aufteilung weist jedem Bestandteil selbstverständlich nur einen begrenzten Platz zu. Mit seiner Verdinglichung reduziert sich das Selbst zwangsläufig auf einen endlich großen Raum. Es verliert seine Vollständigkeit, seine Ganzheit.
Gleichzeitig mit der räumlichen Aufteilung dämmert es dem jungen Leben, dass auch seine Lebensspanne nicht unendlich, sondern zeitlich begrenzt ist. Ihm wird bewusst, dass es so etwas wie einen Tod gibt. Dieser unangenehme Gedanke bereitet die zuverlässige Grundlage für alle Arten von Ängsten, ja er stellt vermutlich die tiefe Ursache jeder Angst dar.
Und schließlich wird das sich entwickelnde Selbstbild relativ häufig durch diverse Erfahrungen von Hilflosigkeit, Verletzlichkeit, Unwürdigkeit und Erniedrigung geprägt. So färbt sich das Selbstbild quasi „negativ“ ein und der Gedanke „Ich bin nicht gut genug“ gräbt sich tief unter die Oberfläche ein. Schließlich ist zu bedenken, dass allein schon das Gefühl der Trennung ein Zustand des Mangels darstellt, da das „Ich“ in der Trennung niemals vollständig sein kann. Insofern bleibt auch unter den besten Umständen, im behütetsten Elternhaus unter der Wirkung bedingungsloser Liebe, der Eindruck des Mangels nicht ganz aus.
Hat man diese einfachen Mechanismen durchschaut, dann ist auch völlig klar, weshalb viele Menschen von einem fast manischen Drang nach Selbstbestätigung angetrieben werden. Ihr Leben versteht sich als ständige Beweisführung gegen ein mutmaßliches Manko, als Dauerkompensation eines Gefühls der Unvollkommenheit. So erklärt sich die lebenslange Suche nach der eigenen persönlichen Erweiterung und Verbesserung. Das getrennte Ich möchte auf diese Weise seine Ganzheit wiedererlangen, die es durch seine fragmentierte Weltsicht scheinbar verloren hat. Die damit einhergehende Ablenkung und Zerstreuung erscheint zudem als probates Mittel gegen die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Der Wunsch nach persönlicher Erweiterung, Ablenkung und Selbstverbesserung ist daher die Antwort auf die fundamentale räumliche, zeitliche und psychische Trennung.
Nun lauert die Angst vor der eigenen Endlichkeit und Unvollkommenheit nicht irgendwo in der fernen Vergangenheit oder Zukunft, sondern sie wird als gegenwärtiges Unbehagen empfunden. Aufgrund unserer frühkindlichen Amnesie handelt es sich für uns um eine unumstößliche, existentielle Gewissheit, die immer dann verstärkt zutage tritt, wenn wir im gegenwärtigen Moment mit uns selbst konfrontiert werden. Das Grundempfinden im Zusammenhang mit dem Ich-Gedanken ist daher immer eine Unzufriedenheit, ein Widerwille gegen den Status quo, eine Allergie gegen den jetzigen Moment.
Wir leben immer im Aufbruch zu neuen Ufern, auf der Suche nach Glück, auf dem Weg zu einem „Dort“ und „Dann“, wo es uns mutmaßlich besser gehen wird. Man könnte daher das Grundempfinden des getrennten Ich vereinfacht durch einen Pfeil charakterisieren, der vom gegenwärtigen Moment, vom „Hier“ und „Jetzt“, weg weist zu einem „Dort“ und „Dann“. Oder verkürzt ausgedrückt: Das „Ich“ will immer „wohin“. Wenn Ihnen die obige Analyse zu theoretisch oder zu drastisch erscheint, dann überprüfen Sie das Gesagte durch eine kurze Selbstreflexion. Hierzu könnten Sie sich zum Beispiel folgende Fragen stellen:
• Bin ich im Augenblick vollständig entspannt (beobachten Sie die verschiedenen Muskelspannungen im ganzen Körper!) oder lebe ich in der Erwartung des nächsten Augenblicks?
• Bin ich mit dem jetzigen Augenblick tatsächlich zufrieden oder schweifen meine Gedanken schnell ab und beschäftigen sich mit Zukünftigem/Vergangenem?
• Was stört mich am gegenwärtigen Moment?
• Welche Ziele verfolge ich gerade in meinem Leben? Was möchte ich erreichen? Worauf arbeite ich hin?
• Bereitet mir das Verfolgen dieser persönlichen Ziele Freude oder eher Mühe/Stress?
• Wird durch das Erreichen der Ziele tatsächlich ein dauerhafter Zustand von Zufriedenheit und Glück bewirkt?
• Kann durch (lebenslange) Ich-Bestätigungen ein persönliches Mangelgefühl tatsächlich ausgeglichen werden?
• Wann fühle ich mich wirklich glücklich?