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b) Gestörte Individuation

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Es gibt zweifellos einen Trend hin zu Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung. Die Regale der Buchhandlungen stehen voll mit entsprechenden Ratgebern. Extremsportarten haben Hochkonjunktur. Das muss hier nicht vertieft werden. Aber auch im Alltag müssen sich junge Menschen spätestens bei der Studienoder Berufswahl mit sich selbst auseinandersetzen und herausfinden, welche Art der Tätigkeit, welcher „life style“ ihnen liegt.

Die lebenslange Suche nach der eigenen Individualität wird in der Psychologie ausgehend von C.G. Jung auch als „Individuationsprozess“ bezeichnet. Hinter dem Ausdruck verbirgt sich die Ansicht, dass jeder Mensch einzigartige Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten besitzt, die zunächst nicht ausgeschöpft werden. Durch die schrittweise Bewusstwerdung der eigenen Fähigkeiten erkennt sich der Mensch als etwas Eigenes und Einmaliges, was auch als Selbstverwirklichung oder Ich-Werdung verstanden wird. Da im Laufe des Prozesses auch neue, bisher unbekannte Wirkungs- und Erfahrungsbereiche erschlossen werden, komplettiert sich die Persönlichkeitsstruktur, was eine Zunahme von Selbstvertrauen und Selbstsicherheit zur Folge hat.

Der Individuationsprozess fragt im Grunde nach dem gegenwärtigen „Ist“ des eigenen Wesens. Dabei geht es ihm jedoch nicht um dessen Substanz, sondern um dessen spezifische Ausprägung bzw. Ausformung. Auch wenn das häufig anders verstanden wird, so steht hier nicht die Frage „Wer bin ich?“ im Mittelpunkt, sondern es geht um das „Wie bin ich?“. Was kann ich besonders gut oder schlecht? Was gefällt mir und was nicht? Worin besteht meine Einzigartigkeit?

Die Individuation stellt zweifellos eine elementare Lebenserfahrung dar und soll hier nicht in Frage stehen. Allerdings kann festgestellt werden, dass dieser Individuationsvorgang häufig gestört ist. Wie sonst erklärt sich der gesellschaftliche Hang, eine persönliche Tatsache, nämlich die eigene Individualität, zu einer Ikone zu erheben, die durch besondere Leistungen wie das Besteigen des Mount Everest erst errungen werden muss?

Es ist zu vermuten, dass die Störung der Individuation durch zwei Fehlentwicklungen verursacht wird, die beide eine Konsequenz des Ich-Gedankens darstellen. Zum einen führt die Fremdbestimmung durch Bezugspersonen, heute wird auch gerne die sogenannte „peer group“ genannt, zu einer spezifischen Rollenzuweisung, die wenig mit den eigenen Charakterzügen zu tun hat. Zum anderen erfolgt eine freiwillige Selbstbeschränkung, die zum Beispiel durch die Identifikation mit einem Teilaspekt der eigenen Persönlichkeit bewirkt wird. So bricht die Jugendgeneration zu allen Zeiten immer wieder mit der Tradition ihrer Eltern, um ihrer eigenen Identität Ausdruck zu verleihen, verfällt dann aber gleichzeitig in neue Rollen der „angesagten“ Szene, wodurch die Individualität schon wieder verloren geht. Der Rapper, Rocker, Punker etc. wendet sich vordergründig von gesellschaftlichen Normen ab, gerät dann aber in ein neues Persönlichkeitsmuster nach den Maßstäben des Rap, Rock, Punk etc. Beim Ausbrechen aus einer Fremdbestimmung erfolgt so eine neue Selbstbeschränkung.

Fremd- und Selbstbeschränkung beruhen beide auf dem Leistungs- und Wettbewerbsgedanken, sind also eine Konsequenz des Ich-Gedankens. Insofern verbirgt sich die tiefe Ursache für die Störung der Individuation in der Selbstauffassung der Menschen als getrennte und mangelhafte Person. Dadurch wird ein Verbesserungsprozess ausgelöst, der immer in die Zukunft weist, wohingegen sich die Individuation naturgemäß auf dem gegenwärtigen Sein aufbaut. Kurz: die Individuation wird mit einer Verbesserung verwechselt.

Auch wenn es paradox klingt, der legitime Wunsch nach Individualität wird gerade dadurch in seiner Umsetzung gestört, dass Individualität immer als Eigenschaft einer getrennten Person angesehen wird. Dabei kann doch echte Individualität erst dann erblühen, wenn sie nicht in der Trennung, sondern in der Verbindung gesucht wird.

Ich – wer ist das?

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