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d) Aus Traurigkeit wird Depression
ОглавлениеDer amerikanische Arzt und Seelsorger Steven Levine8 erzählt in einem seiner Bücher die Geschichte einer Frau, die an ihrem Krebsleiden verzweifelt, weil sie sich selbst dafür verantwortlich hält. Eine andere Frau nimmt sich nach der spontanen Heilung ihres Krebses durch einen Naturheiler das Leben, weil sie die offensichtlich einfache Heilung nicht hatte selbst vollbringen können. Auch wenn diese Fälle Extrembeispiele darstellen, symbolisieren sie doch die typische ich-bezogene Haltung, die das unbestreitbar vorhandene Leid stark verschärft.
Die Vorstellung, ein getrenntes Ich zu sein, geht immer mit der Idee einher, dass dieses Ich das Leben zumindest vom Grundsatz her kontrollieren kann. Das Ich beansprucht für sich, der Herrscher über das eigene Schicksal zu sein. Nun bleiben im Leben Krankheiten, traurige Schicksalsschläge und Misserfolge niemals gänzlich aus. Unangenehme Gefühle wie Trauer, Frustration oder Eifersucht sind wohl kaum zu vermeiden. Richtig problematisch wird es allerdings erst, wenn ein Unglück zusätzlich als persönliches Versagen empfunden wird. Das Leid vergrößert sich, wenn man sich auch noch selbst dafür verantwortlich hält. Aus Traurigkeit wird Leid, aus Frustration wird Depression, wenn der eigene Ich-Anspruch hinzukommt, der im schlimmsten Fall in Schuldgefühle mündet.
Trauer und Frustration können starke Gefühle sein, die sicher auch im Tierreich anzutreffen sind. Diese Gefühle sind aber nicht zwingend mit einem dauerhaften Leiden verbunden. Leiden entwickelt sich dann, wenn der Begleitgedanke vom getrennten Ich, von der isolierten und einsamen Person hinzukommt, die von dem Unglück unverhältnismäßig stark betroffen zu sein scheint. Anders ausgedrückt: Es ist immer das getrennte Ich, das leidet. Depression ist sicher nicht immer, aber häufig ein Ich-Problem.