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b) Der Wegeunfall als Arbeitsunfall
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Auch wenn Versicherte bei bestimmten weiteren Tätigkeiten einen Unfall erleiden, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII. Die versicherten weiteren Tätigkeiten sind in § 8 Abs. 2 SGB VII aufgezählt. Die wichtigste Gruppe bilden die Wegeunfälle[46]. Gemäß § 8 Abs. 2 Nr 1–4 SGB VII sind versichert:
Nr 1: Das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
Nr 2: das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
a. | Kinder von Versicherten (§ 56 SGB I), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer oder ihrer Ehegatten bzw Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder |
b. | mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen, |
Nr 3: das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 SGB I), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, dass die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten bzw Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,
Nr 4: das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben.
Das Gesetz fixiert beim Wegeunfall allein den Tätigkeitsort, nicht den Ort, von dem aus oder zu dem der Weg zurückgelegt wird. In Bezug auf die Fragen, ob der Unfall „infolge der versicherten Tätigkeit“ eingetreten (Rn 322, 2. Schritt; nicht zB bei Kfz-Wettrennen zum Arbeitsplatz[47]; wohl bei Maßnahmen zur Behebung einer Störung am Fahrzeug, wenn sie der Fortsetzung des Wegs dienen[48]) oder kausal auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist (Rn 322, 3. Schritt), gelten entsprechende Überlegungen wie beim Arbeitsunfall gemäß § 8 Abs. 1 SGB VII.
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aa) Versichert ist (1925 eingeführt) der Weg zwischen dem Ort der versicherten Tätigkeit und dem häuslichen Wirkungskreis.[49] Deshalb muss der häusliche Wirkungskreis, in dem kein Versicherungsschutz besteht, von dem versicherten Weg abgegrenzt werden, der seinerseits wiederum endet, wenn der Ort der versicherten Tätigkeit erreicht ist. Wege, die im Rahmen der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, sog. Betriebswege (zB Verkaufsfahrt, Kundenbesuch), gehören gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII zur versicherten Tätigkeit; ereignet sich hier ein Unfall, handelt es sich nicht um einen Wegeunfall. Nach der zutreffenden Rechtsprechung kann aus besonderen Gründen auch der Weg von und zur Arbeit (oder von und zur Schule, vgl § 2 Abs. 1 Nr 8b SGB VII) Betriebsweg sein. Das kommt etwa in Betracht, wenn Beschäftigte vom Arbeitgeber mit einem Betriebsfahrzeug mit gestelltem Fahrer von der Wohnung zu einer Baustelle gefahren werden[50] oder wenn sich Schüler auf dem Weg „schulbezogen“ (durch Spielereien, Raufereien, Schneeballwürfe) schädigen[51].
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bb) Die Grenzziehung zwischen dem häuslichen Wirkungskreis und dem versicherten Weg hat große praktische Bedeutung. Folgende Grundzüge gelten:
(1) Der regelmäßige Ausgangspunkt des Weges zum Ort der Tätigkeit und der regelmäßige Endpunkt des Weges vom Ort der Tätigkeit sind Wohnung oder Haus des Versicherten. Den sozusagen unfallversicherungsrechtlichen Rubikon bildet dabei die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes (auch bei Mehrfamilienhaus mit abgeschlossenen Einzelwohnungen). Es muss nicht die Haustür sein, in Betracht kommt auch die Kellertür oder das Tor einer Hausgarage, wenn die Garage eine Verbindung zum Hausinneren aufweist[52], ebenso unter Umständen ein Fenster[53].
(2) Ausgangs- oder Endpunkt kann statt der Wohnung oder des Hauses des Versicherten auch ein dritter Ort sein. § 8 Abs. 2 Nr 1 SGB VII legt nur fest, dass die Arbeitsstätte Ziel oder Ausgangspunkt des Weges sein muss, der andere Grenzpunkt ist nicht bestimmt. Allerdings ist dann die Frage des inneren Zusammenhangs des zurückgelegten Weges mit der versicherten Tätigkeit im Auge zu behalten: Der Weg muss wesentlich von dem Vorhaben geprägt sein, sich zur Arbeit zu begeben oder von dieser zurückzukehren. Früher nahm die Rechtsprechung an, der Weg vom dritten Ort zum Ort der Tätigkeit bzw vom Ort der Tätigkeit zum dritten Ort müsse, was Länge und Dauer angeht, in einem angemessenen Verhältnis zum üblichen Weg des Versicherten stehen, wobei auf die gesamten Umstände des Einzelfalls abgestellt wurde[54]. Nunmehr ist klargestellt, dass es auf einen Angemessenheitsvergleich oder die Verschiedenheit des Unfallrisikos nicht ankommt[55]; entscheidend ist die Handlungstendenz. Hiervon abgesehen muss der Aufenthalt an dem dritten Ort (von dem der Weg zur Arbeitsstätte angetreten wird) wenigstens zwei Stunden gedauert haben bzw muss beabsichtigt sein, an dem dritten Ort (der von der Arbeitsstätte aus angesteuert wird) eine Mindestzeitdauer von zwei Stunden zu verbringen[56].
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cc) Nur das Zurücklegen des unmittelbaren Weges ist versicherte Tätigkeit iSv § 8 Abs. 2 SGB VII. Dies muss nicht der kürzeste Weg sein, als unmittelbarer Weg ist auch ein längerer, aber dafür verkehrsgünstigerer Weg anzusehen. Auch insoweit kommt es auf den inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit an.
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dd) Wird der unmittelbare Weg aus privaten Gründen verändert, unterscheidet man unfallversicherungsrechtlich den Umweg und den Abweg. Entscheidend ist die subjektive Handlungstendenz; der Versicherungsschutz ist unterbrochen, sobald der Versicherte seine Absicht, sich auf dem versicherten Weg (auch nur vorläufig) nicht weiter fortbewegen zu wollen, nach außen sichtbar (objektiv) dokumentiert[57].
Beim Umweg ist die Sachlage folgende: Der Versicherte bewegt sich in Richtung des Ortes der Tätigkeit, der gewählte Weg ist aus privaten Gründen aber nicht unerheblich länger, sodass der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit aufgehoben ist. Dann besteht kein Versicherungsschutz. Die Grenzziehung ist Frage des Einzelfalls[58]. Ein Abweg liegt vor, wenn der unmittelbare Weg in eine andere Richtung als die des Zielortes verlassen wird (oder der Versicherte am Zielort vorbeigeht). Abwege sind stets unversichert, auch wenn sie noch so geringfügig sind. Ist der unmittelbare Weg wieder erreicht, besteht weiter Versicherungsschutz; nach Beendigung des Umweges oder Abweges lebt der Versicherungsschutz wieder auf. Auf dem Weg zur Arbeitsstätte gilt dies uneingeschränkt, auf dem Heimweg muss der Versicherte den Weg innerhalb von zwei Stunden fortsetzen, anderenfalls ist der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit regelmäßig gelöst (Zwei-Stunden-Grenze)[59].
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ee) Für die Zeit der Unterbrechung des Weges, etwa durch einen Einkauf oder einen Gaststättenbesuch, besteht kein Versicherungsschutz. Der Versicherungsschutz lebt wieder auf, sobald der Versicherte die Fortbewegung auf sein ursprüngliches Ziel hin wieder aufnimmt. Bei Benutzung eines Fahrzeugs beginnt die Unterbrechung nicht erst mit dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsraums zu Fuß, sondern schon mit dem Verlassen des Fahrzeugs mit eigenwirtschaftlicher Zielsetzung. Entscheidend ist die anhand objektiver Umstände zu beurteilende Handlungstendenz des Versicherten (Rn 327). Verlässt also ein Versicherter auf dem Weg zur Arbeit sein Auto zum Brötchenkauf, ist er nicht versichert, bis er den ursprünglichen Weg zur Arbeitsstätte mit dem Fahrzeug wieder aufnimmt[60]. Das Verlassen des öffentlichen Verkehrsraums ist nicht der entscheidende Gesichtspunkt.
Die versicherte Wegstrecke muss nicht an demselben Punkt fortgesetzt werden, an dem sie unterbrochen worden war. Wird der Heimweg für länger als zwei Stunden unterbrochen, ist nach der Rechtsprechung in der Regel davon auszugehen, dass sich der Versicherte von der versicherten Tätigkeit endgültig gelöst hat, der Ort der Unterbrechung wird zum „dritten Ort“ (Zwei-Stunden-Grenze). Auf der anderen Seite führt eine geringfügige Tätigkeit in eigener Sache („im Vorübergehen“) nicht zum Verlust des Versicherungsschutzes, sofern die Tätigkeit hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer und der Art der Erledigung keine erhebliche Zäsur in der Fortbewegung in Richtung auf die Arbeitsstätte darstellt (Beispiel: Zeitungskauf am Kiosk an der Straße; Öffnen einer Straßenbahntür für einen anderen Passanten). Überbrückt der Versicherte eine notwendige Wartezeit auf ein Verkehrsmittel durch eine Tätigkeit in eigener Sache, liegt keine Unterbrechung vor.
Im Rahmen der „unechten“ Unfallversicherung der Schüler erfolgt die rechtliche Bewertung vor dem Hintergrund der Besonderheiten dieses Lebensbereichs; es ist namentlich der Spiel- und Bewegungsdrang von Kindern zu berücksichtigen.
One-Page-Fälle: BSG, NZS 2018, 232 (Brose): Verlassen der Wohnung durch Fenster; BSG, NZS 2018, 282 (Löns): Unterbrechung zum Brötchenkauf; BSG, NZS 2018, 549 (Hennig): Wegeunfall bei Überprüfen der Straße auf Eisglätte; BSG, NZS 2019, 433 (Schütz): Betriebsweg; BSG, NZS 2019, 954 (Ziegler): Unterbrechung.
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ff) § 8 Abs. 2 Nr 2 und 3 SGB VII regeln, welche abweichenden Wege versichert sind; versicherte Tätigkeit ist gemäß § 8 Abs. 2 Nr 2a SGB VII das Zurücklegen eines abweichenden Weges, um Kinder von Versicherten, die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer oder ihrer Ehegatten bzw Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen, gemäß § 8 Abs. 2 Nr 2b SGB VII das Zurücklegen von abweichenden Wegen, um mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen, wobei es genügt, wenn die Fahrgemeinschaft sich für eine einzige Fahrt zusammengeschlossen hat. § 8 Abs. 2 Nr 3 SGB VII erfasst an sich unversicherte Abwege oder Unterbrechungen des Weges von selbst versicherten Kindern. Versicherte Tätigkeit ist danach das Zurücklegen eines abweichenden Weges, wenn versicherte Kinder von Personen, die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anvertraut werden[61]; es wird also der Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr 8a und b SGB VII erweitert.
Beispiel:
Ein Schulkind geht wegen der Berufstätigkeit der Eltern nach Schulschluss zu den Großeltern, die es betreuen. Nicht nur der Weg zu den Großeltern (der als Weg zu einem dritten Ort versichert sein kann), sondern auch der spätere Weg von den Großeltern nach Hause ist versichert.
§ 8 Abs. 2 Nr 4 SGB VII regelt den Versicherungsschutz für Familienheimfahrten.