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2. Haftungsfreistellung betrieblich Tätiger

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a) Die größere praktische Bedeutung der Haftungsfreistellung liegt im Anwendungsbereich von § 105 SGB VII. Danach sind die im Betrieb tätigen Personen von der Haftung freigestellt. Das sind insbesondere die Arbeitskollegen des durch einen Arbeitsunfall Verletzten bzw Getöteten. § 105 SGB VII geht, zumal in der mit Inkrafttreten des SGB VII erneut erweiterten Fassung, über den Kreis der Arbeitskollegen aber hinaus. Von der Haftung freigestellt sind alle „Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebes verursachen“. Es kommt nicht mehr (anders noch § 637 RVO) darauf an, ob der Schädiger „Betriebsangehöriger des Unfallbetriebes“ ist. Betriebliche Tätigkeit im Sinn von § 105 SGB VII kann namentlich eine „Wie-Beschäftigung“ (§ 2 Abs. 2 SGB VII) sein, auch „Wie-Beschäftigte“ können also von der Haftung freigestellt sein. Dient eine Tätigkeit, zB die eines Kraftfahrers beim Abladen des LKW, sowohl dem Stammunternehmen als auch dem Unfallunternehmen, kann sie (außer bei Leiharbeit) dem Unfallunternehmen nur zugeordnet werden, wenn sie nicht mehr dem Stammunternehmen, sondern ausschließlich dem Unfallunternehmen, im Beispiel dem Empfänger der Lieferung, dient. In Betracht kommt § 106 Abs. 3 3. Fall SGB VII (Rn 354 ff)[86]. Beträchtliche praktische Bedeutung hat § 105 SGB VII auch im Schulbereich (Rn 355)[87].

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b) Die Haftungsfreistellung wirkt gegenüber Versicherten desselben Betriebs. Das sind zunächst Arbeitnehmer desselben Betriebs, aber auch sonstige in den Betrieb Eingegliederte, es genügt, wenn jemand als „Wie-Beschäftigter“ gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII versichert ist. Die Haftungsfreistellung gilt nicht nur gegenüber Versicherten desselben Betriebs, sondern kommt auch gegenüber Versicherten desselben Unternehmens in Betracht[88]. Darüber hinaus ist unter Umständen § 106 Abs. 3, 3. Fall SGB VII einschlägig.

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Die in § 105 SGB VII geregelte Haftungsfreistellung ist mit dem Inkrafttreten des SGB VII erweitert worden. Die Haftungsfreistellung wirkt auch gegenüber versicherten und nichtversicherten Unternehmern, zum anderen gegenüber den gemäß § 4 Abs. 1 Nr 1 SGB VII versicherungsfreien Personen, insbesondere den Beamten. Wird also ein Unternehmer geschädigt, ist der iSv § 105 Abs. 1 SGB VII betrieblich tätige Schädiger von der privatrechtlichen Haftung diesem gegenüber freigestellt. Für diese Erweiterung spricht, dass es von Zufälligkeiten abhängt, ob betrieblich Tätige einen Arbeitskollegen oder den (mitarbeitenden) Unternehmer durch Fahrlässigkeit schädigen. Entsprechendes gilt, wenn Beamte geschädigt werden (obwohl es hier nicht zu einem Versicherungsfall kommen kann, weil die Beamten gemäß § 4 Abs. 1 Nr 1 SGB VII versicherungsfrei sind). Geschädigte Beamte erhalten also Leistungen nach beamtenrechtlichen Vorschriften, aber keinen Schadensersatzanspruch gegen den betrieblich tätigen Schädiger. Bedeutung hat dies vor allem im Bereich des Öffentlichen Dienstes, wo auf Grund eines Arbeitsverhältnisses Beschäftigte und beamtete Beschäftigte nebeneinander tätig sind.

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Der nähere Blick auf die Entwicklung der jetzt in § 105 SGB VII geregelten Haftungsfreistellung ist aufschlussreich für das Verständnis der Hintergründe und Zwecke der unfallversicherungsrechtlichen Haftungsfreistellung der im Betrieb tätigen Personen: § 637 RVO, den § 105 SGB VII mit Wirkung vom 1. Januar 1997 abgelöst hat, war durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung von 1963 (UVNG) eingeführt worden. Das hatte folgenden Hintergrund: Die arbeitsrechtliche Fortentwicklung der Arbeitnehmerhaftung durch die richterrechtlich geschaffenen Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung hatte die seit Einführung der Unfallversicherung 1884 bestehende Haftungsfreistellung der Unternehmer gefährdet, wie an zwei Fallbeispielen verdeutlicht sei:

Beispiel 1: Arbeitnehmer A schädigt bei der Arbeit auf einer Baustelle fahrlässig den vorbeigehenden Passanten P. Wird A von P in Anspruch genommen, hat A vor dem Hintergrund der beschränkten Arbeitnehmerhaftung[89] (analog § 670 BGB iVm § 257 BGB) einen Freistellungsanspruch gegen seinen Arbeitgeber; wenn er dem P bereits Schadensersatz geleistet hat, hat er (analog § 670 BGB) gegen seinen Arbeitgeber einen Ersatzanspruch.

Beispiel 2: Geschädigter ist nicht ein außenstehender Dritter (wie soeben der Passant P), sondern der im selben Betrieb beschäftigte Arbeitskollege B. Nach dem Bürgerlichen Recht und dem Arbeitsrecht müsste hier das Gleiche gelten: Der Arbeitgeber müsste nach den Grundsätzen der beschränkten Arbeitnehmerhaftung den A bei leichter und mittlerer Fahrlässigkeit (ganz oder teilweise) von den gegen ihn gerichteten Ansprüchen des B freistellen bzw, wenn A dem B Schadensersatz geleistet hat, dem A Ersatz leisten. Im Unterschied zu Beispiel 1 liegt aber ein Arbeitsunfall vor. Im Zusammenhang mit der Versicherung des Arbeitsunfallrisikos hat der Unternehmer durch seine Beitragszahlung seine privatrechtliche Haftung abgelöst. In der Konstellation des Beispiels 2 nützt ihm das aber nicht, weil er nach den Grundsätzen über die beschränkte Arbeitnehmerhaftung den Schädiger A (ganz oder teilweise) freistellen muss. Der Arbeitgeber müsste also letztlich zahlen, obwohl er seine Schadensersatzhaftung durch die Beiträge in die Unfallversicherung abgelöst hat. Er stünde schlechter da, als wenn er selbst der Verursacher des Arbeitsunfalls wäre. In einer berühmt gewordenen Entscheidung hat das BAG[90] folgende Lösung gefunden: Der nach dem bürgerlich-rechtlichen Schadensersatzrecht an sich bestehende Schadensersatzanspruch des geschädigten Arbeitnehmers (B) gegen den Arbeitskollegen, der den Schaden verursacht hat (A), ist im Umfang der arbeitsrechtlichen Haftungsbeschränkung ausgeschlossen. Diese Lösung hat später § 637 RVO gesetzlich legitimiert. § 637 RVO ist darüber aber noch hinausgegangen. Er regelte nicht nur die von der arbeitsrechtlichen Haftungsbeschränkung erfassten Fälle, die Haftungsfreistellung erfasste auch die grobe Fahrlässigkeit, obwohl hier nach den Grundsätzen der Arbeitnehmerhaftung prinzipiell kein Freistellungs- oder Ersatzanspruch des Schädigers gegen den Arbeitgeber besteht. Dieser Weg ist durch die in § 105 Abs. 2 SGB VII geregelte Haftungsfreistellung gegenüber (nicht versicherten, im Wege des Erst-recht-Schlusses auch gegenüber versicherten) Unternehmern und durch die in § 105 Abs. 1 S. 2 SGB VII geregelte Haftungsfreistellung gegenüber Beamten als gemäß § 4 Abs. 1 Nr 1 SGB VII versicherungsfreien Personen fortgesetzt worden. Es handelt sich in diesen Fällen nicht um eine Haftungsablösung, weil die Betriebsangehörigen keine Beiträge und damit kein Äquivalent für die ihnen abgenommene Haftung leisten. Das Haftungsrecht für Arbeitsunfälle ist mit den Neuerungen der §§ 105, 106 SGB VII weiter zu einer sozialen Haftpflichtversicherung fortentwickelt worden. Tragend sind dafür das Friedensargument und der Gesichtspunkt der Gefahrengemeinschaft: Jeder im Betrieb Tätige kann gleichermaßen zum Geschädigten und zum Schädiger werden[91].

In Fall 9 gilt für die bürgerlich-rechtlichen Ansprüche des U: Ist U als Unternehmer nicht selbst in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, gilt § 105 Abs. 2 SGB VII. Gemäß § 105 Abs. 2 S. 1 SGB VII gilt § 105 Abs. 1 SGB VII entsprechend, F ist also gegenüber U von der Haftung für Personenschäden freigestellt. U erhält gemäß § 105 Abs. 2 S. 2 SGB VII Versicherungsleistungen, Geldleistungen allerdings nur nach Maßgabe von § 105 Abs. 2 S. 3, 4 SGB VII[92].

Wenn § 105 Abs. 1 SGB VII also vorsieht, dass betrieblich Tätige von der Haftung auch gegenüber nicht versicherten Unternehmern freigestellt sind, die statt des Haftungsanspruchs sozialrechtlichen Versicherungsschutz erhalten, ist das bemerkenswert und in einer Hinsicht verfassungsrechtlich bedenklich: Der durch § 105 Abs. 2 Sätze 2–4 SGB VII gewährte „Versicherungsschutz als Haftungsersatz“ bietet in Bezug auf Geldleistungen eine sehr dürftige Kompensation für den aus der Hand genommenen Schadensersatz[93].

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