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V. Haftung von Unternehmern, Unternehmensangehörigen und anderen Personen
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Schrifttum: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl., 2020, 31. und 32. Kapitel; Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, 1969; v. Koppenfels-Spies, Doppelter Unternehmer? Doppelter Versicherungsschutz?, SGb 2013, 373; Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 13. Aufl., 2020, Rn 512–576; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., 2003, S. 4–9; M. Lepa, Haftungsbeschränkungen bei Personenschäden nach dem Unfallversicherungsrecht, 2004; Leube, Haftungsbeschränkung in der Schule durch die gesetzliche Unfallversicherung – aktuelle Probleme, VersR 2010, 1561; Otto/Schwarze/Krause, Die Haftung des Arbeitnehmers, 4. Aufl., 2014; Rolfs, Die Haftung unter Arbeitskollegen und verwandte Tatbestände, 1995; B. Schmidt, Der Umfang der Haftungsfreistellungen bei Personenschäden – insbesondere nach § 106 Abs. 3 SGb VII, BB 2002, 1859; Stöhr, Haftungsprivileg bei einer gemeinsamen Betriebsstätte und bei Verkehrsunfällen, VersR 2004, 809; Waltermann, Haftungsfreistellung bei Personenschäden – Grenzfälle und neue Rechtsprechung, NJW 2004, 901; ders., Auswirkungen des Sozialrechts, insbesondere des Unfallversicherungsrechts, auf die privatrechtliche Schadensersatzpflicht, in: Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S. 571; Wussow, Unfallhaftpflichtrecht, 16. Aufl., 2014, Kapitel 80.
Fall 9:
Straßenbauunternehmer U fährt täglich mehrmals die Baustellen ab, auf denen seine Arbeitskräfte tätig sind. Als er die Baustelle in der Innenstadt von G wieder verlassen will, übersieht er beim Zurücksetzen seines PKW eine mit Steinen beladene Schubkarre. Die Schubkarre fällt in eine Baugrube; Arbeitnehmer A, in der Grube beschäftigt, erleidet komplizierte Armbrüche, die ihn für drei Monate arbeitsunfähig machen, seine Armbanduhr wird zerstört. Baggerfahrer B, ebenfalls Arbeitnehmer des U und durch das Unfallereignis einen kurzen Moment abgelenkt, schädigt beim Schwenken der Schaufel den Arbeitskollegen C, den bei U beschäftigten Leiharbeitnehmer D und den bei der Kanalbaufirma K angestellten und für K auf der Baustelle tätigen E. Die Firmen U und K sind in keiner Weise rechtlich verbunden, ergänzen sich aber tatsächlich in miteinander verschränkten Arbeitsabläufen. Bei dem Versuch, A aus der Baugrube zu bergen, quetscht Arbeitnehmer F aus Unachtsamkeit die Hand des U. U liegt fünf Wochen arbeitsunfähig in der Handchirurgie. Alle Geschädigten wollen die jeweiligen Schädiger vor dem zuständigen Landgericht auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Rn 349, 353 aE, 315
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In den §§ 104–113 SGB VII (früher §§ 636–642 RVO) regelt das Unfallversicherungsrecht einen Gegenstand besonders, der sich an sich nach dem Privatrecht richtet: Wenn ein Unternehmer oder eine andere im Betrieb tätige Person, namentlich ein Arbeitskollege, im Zusammenhang mit einer betrieblichen Tätigkeit einen Personenschaden bei einem für den Betrieb Tätigen verursacht, würde sich ohne die besonderen Vorschriften der §§ 104 ff SGB VII die Haftung nach dem privatrechtlichen Vertrags- und Deliktsrecht richten. Im Zusammenhang mit der Versicherung des Arbeitsunfallrisikos erhalten die Versicherten aber Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, und zwar unabhängig von eigener oder fremder Fahrlässigkeit (Aspekt des sozialen Schutzes). Diese Versicherungslösung muss sich auf die an sich eingreifende privatrechtliche Vertrags- und Deliktshaftung auswirken. Es wäre nicht sinnvoll, wenn Verletzte die Unfallversicherungsleistungen bekommen würden und darüber hinaus noch vom Schädiger Schadensersatz beanspruchen könnten. Die Versicherungsleistungen sind durch die Beitragszahlungen der Unternehmen (siehe §§ 150 ff SGB VII) erkauft. Die Abstimmung von zivilrechtlichem Schadensersatz und sozialrechtlicher Unfallversicherung geschieht vor diesem Hintergrund in der Weise, dass die gesetzliche Unfallversicherung die privatrechtliche Haftung für Personenschäden in bestimmtem Umfang ausschließt (Aspekt der Haftungsfreistellung, Rn 284 f)[74]. Die Haftungsfreistellungen haben für den Freigestellten in Bezug auf Personenschäden die Auswirkung einer Haftpflichtversicherung.
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Die Haftungsfreistellung der Unternehmer gemäß § 104 SGB VII ist neben dem Gedanken des Schutzes durch die Unfallversicherung die zweite Grundidee der gesetzlichen Unfallversicherung[75]. Die Haftungsfreistellung, die heute über die Freistellung der Unternehmer hinausreicht, wird von mehreren Gesichtspunkten getragen: Der erste ist das Finanzierungsargument – die Unternehmer tragen allein die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung, deshalb wird ihnen (durch § 104 SGB VII und auch durch § 105 SGB VII, Rn 353) die Haftung abgenommen. Der zweite ist das Friedensargument – durch die Haftungsfreistellung werden belastende Auseinandersetzungen zwischen Arbeitnehmern (als Klägern und Zeugen) und Arbeitgebern und zwischen Arbeitnehmern vermieden. Der Verletzte hat sodann mit dem Versicherungsträger einen zahlungskräftigen Schuldner (Liquiditätsargument). Mit den nicht unbeträchtlichen, rechtspolitisch motivierten Erweiterungen der Haftungsfreistellungen seit der Geltung des SGB VII ist der Gedanke der Gefahrengemeinschaft in den Vordergrund gerückt[76].