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4. Entwicklungslinien der Europäischen Sozialpolitik
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a) Bis zum „Vertrag von Maastricht“[53] war die Erkenntnis einer einseitig wirtschaftlichen Ausrichtung des Binnenmarktes und der damit verbundenen Unzulänglichkeiten zunehmend deutlicher geworden. Die Sozialpolitik hatte sich auf Gemeinschaftsebene nur begrenzt entfalten können, weil der Gemeinschaft durch den EWGV von 1957 insoweit nur geringe Kompetenzen übertragen worden waren.
1974 hatte der Rat ein sozialpolitisches Aktionsprogramm angenommen, das die Einbeziehung sozialer Gesichtspunkte bei allen Tätigkeiten der Gemeinschaft vorsieht. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986, welche die schrittweise Schaffung eines europäischen Binnenmarktes bis zum 31. Dezember 1992 vorsieht, hatte dem EWGV ua Vorschriften hinzugefügt, die eine Verbesserung der Arbeitsumwelt und eine Förderung des „Dialogs zwischen den Sozialpartnern“ im Arbeitsrecht erreichen wollen (Art. 138, 139 EG). In der (rechtlich unverbindlichen) Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 hatten die damals elf Mitgliedstaaten ohne das Vereinigte Königreich, das seine Zustimmung versagt hatte, die Absicht bekräftigt, dass den sozialen Fragen bei der Schaffung des Binnenmarktes die gleiche Bedeutung beizumessen sei wie den wirtschaftlichen Fragen.
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b) Der 1992 in Maastricht den Staats- und Regierungschefs vorgelegte Entwurf zu Änderungen der Art. 117 ff EWGV stieß auf die Ablehnung des Vereinigten Königreichs. Die damals elf anderen Mitgliedstaaten, die an der Fortentwicklung der Europäischen Sozialpolitik festhalten wollten, schlossen deshalb als Annex zum EG-Vertrag eine Vereinbarung über die Sozialpolitik[54]. Diese bildete den rechtlichen Rahmen für eine über den EG-Vertrag hinausgehende Sozialpolitik. Im Kontext des Vertrags von Amsterdam aus dem Jahr 1997 wurde dieses Abkommen in den EG-Vertrag (zunächst Art. 136 ff EG, nunmehr Art. 151 ff AEUV) einbezogen und später um die unterstützende Kompetenz zur „Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes“ erweitert (nunmehr Art. 153 Abs. 1 lit. k AEUV).
Im Vertrag von Lissabon findet die Sozialpolitik in ihrer bisherigen Form ihre Bestätigung (Art. 151-161 AEUV). Art. 4 Abs. 2 lit b AEUV regelt nun, dass die Sozialpolitik in geteilter Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten wahrgenommen wird. Die Beschlussfassung des Rates wurde auf dem Gebiet des Sozialen nach Maßgabe von Art. 153 Abs. 2 AEUV folgendermaßen erleichtert: Für den Kernbereich der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes (Art. 153 Abs. 1 lit c, d, f und g AEUV) gilt grundsätzlich das Einstimmigkeitsprinzip. Die anderen Bereiche unterliegen dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Unter dem Strich ist aber gleichwohl festzuhalten: Die Gestaltung der sozialen Sicherheit bleibt Sache der Mitgliedstaaten, Harmonisierungsmöglichkeiten bleiben eng begrenzt[55].