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III. Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich

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Das Sozialversicherungsrecht orientiert sich in wesentlichen Hinsichten am Privatrecht und am Privatversicherungsrecht, von dort übernimmt es wichtige Grundsätze und Techniken. Zugleich ist die gesetzliche Sozialversicherung aber durch ihre sozialpolitische Zielsetzung besonders geprägt.

Die Nähe der Sozialversicherung zum Privatrecht und zur Privatversicherung zeigen beispielhaft der haftungsrechtliche Ursprung und die über das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 verlaufene Entwicklung der gesetzlichen Unfallversicherung: Die gesetzliche Unfallversicherung ist, wie dargelegt (Rn 61), ein Teil des allgemeinen privatrechtlichen Schadensrechts, zugleich erfüllt sie die Funktion einer Haftpflichtversicherung. Auch Kranken- und Rentenversicherung kann man gedanklich auf das privatrechtliche Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zurückführen[6]. Sinnvollerweise muss das Arbeitsverhältnis in seiner vertraglichen und gesetzlichen Ausgestaltung in irgendeiner Form Vorkehrungen für Krankheit und Invalidität treffen, und es muss der Ertrag der abhängigen Arbeit so bemessen sein, dass der Lebensunterhalt auch nach Beendigung des Arbeitslebens im Alter sichergestellt bleibt. Die Dinge liegen im Grundsatz nicht anders als bei der soliden Anlage einer selbstständigen Tätigkeit etwa als Arzt oder Rechtsanwalt. In einer Gesellschaft, die auf der Basis abhängiger Beschäftigung im Interesse aller funktioniert, sind mit der abhängigen Arbeit also neben den „eigentlichen Lohnkosten“ (dem ausgezahlten Arbeitsentgelt) auch (wie immer geartete und verteilte) „Lohnnebenkosten“ für die Existenzsicherung (Vorsorge gegen Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Invalidität, Alter und Tod sowie gegen Arbeitslosigkeit) verbunden.

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1. Wannagat[7] hat die Sozialversicherung wie folgt definiert: Die Sozialversicherung ist „eine staatlich organisierte, nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung aufgebaute öffentlich-rechtliche, vorwiegend auf Zwang beruhende Versicherung großer Teile der arbeitenden Bevölkerung für den Fall der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und des Todes sowie des Eintritts der Arbeitslosigkeit“. Kernstück dieser Definition ist die Aussage, dass es sich bei der Sozialversicherung um eine Versicherung handelt. Kennzeichen der Versicherung ist der Zusammenschluss gleichartig Gefährdeter zu einer Gefahrengemeinschaft. Dieser Zusammenschluss kann freiwillig erfolgen, aber auch auf einer Versicherungspflicht beruhen. Die Versicherungspflicht gibt es auch im Privatversicherungsrecht, dort ist die Versicherungspflicht für die Kfz-Haftpflichtversicherung vorgesehen (vgl § 1 PflVG). In einer Versicherung hat die Gefahrengemeinschaft gegen jedes ihrer Mitglieder im Sprachgebrauch des Privatversicherungsrechts Anspruch auf die Versicherungsprämie, im Sprachgebrauch des Sozialversicherungsrechts auf den Beitrag. Das Mitglied hat, wenn die versicherte Gefahr eintritt, einen Anspruch auf Deckung des für die Ausgleichung der Einbuße bestehenden Bedarfs. Alle diese Voraussetzungen erfüllt auch die öffentlich-rechtlich konzipierte Sozialversicherung, wovon Rechtsprechung[8] und Schrifttum[9] zu Recht ausgehen. An dem Versicherungscharakter der Sozialversicherung ändert es insbesondere nichts, dass sie von vornherein dem öffentlichen Recht zugeordnet ist. Auch die Sozialversicherung folgt der klassischen Definition der Versicherung[10], nach der die „gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ die Versicherung ausmacht.

In allen Sozialversicherungszweigen einschließlich der Arbeitslosenversicherung werden wirtschaftlich betrachtet Gefahrengemeinschaften derjenigen gebildet, die den erfassten Risiken „Krankheit“, „Pflegebedürftigkeit“, „Arbeitsunfall“ und „Berufskrankheit“, „Alter, Invalidität und Tod“ sowie „Arbeitslosigkeit“ ausgesetzt sind. Innerhalb dieser Gefahrengemeinschaften wird ein im Einzelfall zufälliger, in seiner Gesamtheit aber abschätzbarer Bedarf gedeckt. Im Rechtssinn geht es damit wie bei der Privatversicherung um „Versicherung im Sinne einer Gemeinschaft der gleichartig Gefährdeten mit selbstständigen Rechtsansprüchen auf wechselseitige Bedarfsdeckung“[11]. Dass die Sozialversicherung in allen Zweigen dem Umlageverfahren (Rn 364 f) folgt, ändert nichts an dem Befund. Das Umlageverfahren begegnet keineswegs nur in der Sozialversicherung, es war von Anfang an auch in der Privatversicherung gängiges versicherungstechnisches Prinzip. Deckungsrückstellungen sind auch dort nur anzutreffen, wenn sie für die Sicherung der Anwartschaften und Ansprüche erforderlich sind.

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2. An dem Versicherungscharakter der Sozialversicherung ändert es nach der zutreffenden herrschenden Meinung nichts, dass die Sozialversicherung in besonderem Maß dem Gedanken der Solidarität verpflichtet ist. Die Sozialversicherung soll nicht nur eine versicherungsmäßige Risikovorsorge bieten, sondern, heute vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips und der Grundrechte, darüber hinaus einen prinzipiell unbedingten Schutz und einen sozialen Ausgleich bewirken[12].

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a) Das Bestreben um einen prinzipiell unbedingten Schutz zeigt sich zB darin, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung bereits eingetretene Risiken (mitgebrachte Krankheiten bei Begründung des Versicherungsverhältnisses, zB eine Diabeteserkrankung), anders als in der Privatversicherung, zu Leistungsansprüchen führen.

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b) Der soziale Ausgleich zeigt sich darin, dass in der Sozialversicherung die Beiträge weniger als in der Privatversicherung dem individuellen Risiko entsprechen. Anschaulich wird dies in der gesetzlichen Krankenversicherung: Der Beitrag ist dort nicht nach dem individuell versicherten Risiko bemessen, sondern richtet sich gemäß §§ 226 f SGB V nach dem Arbeitsentgelt des sog. Stammversicherten (namentlich also der gemäß § 5 Abs. 1 Nr 1 SGB V versicherten Arbeitnehmer). Gleichwohl erhalten der Stammversicherte und zudem dessen beitragsfrei mitversicherte Familienangehörige (§ 10 SGB V) dieselben ärztlichen Leistungen wie ein besser verdienender und alleinstehender Versicherter[13]. Beim Lohnersatz in Gestalt des Krankengeldes (§ 44 SGB V) wirkt sich dies wiederum nicht aus, weil das Krankengeld 70% des Arbeitslohns beträgt (§ 47 Abs. 1 SGB V). Die sozialpolitische Zielsetzung ändert indessen nichts daran, dass auch in der Sozialversicherung das Kostendeckungsprinzip gilt. Im Unterschied zur Privatversicherung ist die Sozialversicherung aber nicht auf die versicherungsmathematische Einzeläquivalenz ausgerichtet; in der Privatversicherung besteht eine Äquivalenz in diesem Sinn zwischen den Prämien und den Leistungen, wenn auch aus Rationalisierungsgründen mehr oder weniger auf Schätzungen und Pauschalierungen statt auf exakte individuelle Berechnungen der Risikoprämien zurückgegriffen werden muss. So ist in der privaten Krankenversicherung, anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung mit ihrer Familienversicherung, jedes Kind entsprechend dem durchschnittlichen individuellen Risiko gegen Versicherungsprämie zu versichern. Der Sozialversicherung genügt dagegen, wie die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung zeigen, eine Gesamt- bzw Gruppenäquivalenz[14].

Die dem Gedanken der Solidarität, insbesondere dem sozialen Ausgleich dienenden Regelungen des Sozialversicherungsrechts sind nicht in allen Hinsichten unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit (und zum Teil des Verfassungsrechts) unbedenklich. Denn es wird der Solidargemeinschaft der Sozialversicherten auch sozialer Ausgleich aufgebürdet, der im Interesse aller Staatsbürger liegt und also aus Steuermitteln finanziert werden müsste (sodass sich auch die außerhalb der Sozialversicherung stehenden – nicht selten sozial Stärksten – daran beteiligen)[15]. Auf diesen Umstand antworten steuerfinanzierte staatliche Beteiligungen an der Finanzierung (vgl zB § 221 SGB V).

3. Teil Sozialversicherung und Arbeitsförderung§ 7 Grundlagen › IV. Das SGB IV

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