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IV. Internationales Sozialrecht
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Sozialrechtliches Kollisionsrecht findet sich sowohl im deutschen nationalen Sozialrecht als auch in (zwischenstaatlichen) völkerrechtlichen Abkommen sowie im (überstaatlichen) Europäischen Unionsrecht.
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1. Die kollisionsrechtlichen Vorschriften des nationalen Sozialrechts folgen dem Territorialitätsprinzip. Die Grundregel des § 30 Abs. 1 SGB I bestimmt, dass die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs für alle Personen gelten, die ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Für den Bereich des Sozialversicherungsrechts bestimmt § 3 Nr 1 SGB IV, dass die Vorschriften über Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung in der Sozialversicherung, soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit voraussetzen, für Beschäftigte oder Selbstständige gelten, die in Deutschland tätig sind. §§ 4 und 5 SGB IV regeln Ausstrahlung und Einstrahlung. Darüber hinaus finden sich in den einzelnen Zweigen des Sozialrechts spezielle Bestimmungen.
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2. Die Bundesrepublik Deutschland unterhält auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit mit vielen Staaten (EU-Staaten und anderen Staaten) völkerrechtliche Abkommen über die Rechtsanwendung. Im Recht der Europäischen Union finden sich die wichtigsten Kollisionsnormen in Art. 11–16 VO (EG) Nr 883/2004[56]. Abkommensrecht und die Kollisionsnormen des EU-Rechts gehen dem nationalen Kollisionsrecht vor (vgl § 30 Abs. 2 SGB I, § 6 SGB IV).
Lösung zu Fall 4: Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht unter den Voraussetzungen des § 137 Abs. 1 SGB III (Rn 468 ff). Fraglich ist aber schon, ob das deutsche Arbeitsförderungsrecht anwendbar ist. Dies ist eine Frage des Internationalen Sozialrechts (also des Kollisionsrechts). Gemäß Art. 11 ff VO (EG) Nr 883/2004, die dem deutschen Kollisionsrecht als überstaatliches (Kollisions-)Recht vorgehen, unterliegen Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausüben, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, also des Beschäftigungsstaats. Allerdings ist das Beschäftigungsverhältnis bei Arbeitslosigkeit beendet; der EuGH[57] sieht es aber zur Vermeidung von Lücken in der Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit als Grundsatz an, dass auch für Leistungen bei eingetretener Arbeitslosigkeit (also nicht nur für die Absicherung des Risikos, arbeitslos zu werden) die Rechtsvorschriften des Staates der letzten Beschäftigung des Arbeitslosen gelten. Beschäftigungsstaat war hier Großbritannien. Allerdings wohnt A nach dem Ende ihrer Beschäftigung wieder in Bruchsal, sie blieb dort polizeilich gemeldet und verbrachte dort die Ferien. Für Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestimmt Art. 11 Abs. 3 lit c VO (EG) Nr 883/2004 die Anwendung der Rechtsvorschriften des Wohnortstaats, wenn eine Person Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach den Rechtsvorschriften des Wohnortstaats gemäß Art. 65 VO (EG) Nr 883/2004 erhält.[58] Art. 65 Abs. 2 VO (EG) Nr 883/2004 sieht (für sog. echte und unechte Grenzgänger) vor, dass sich die arbeitslose Person der Arbeitsverwaltung des Wohnortstaates zur Verfügung stellen muss, sofern sie weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt. Sie kann sich aber auch zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen. Unabhängig davon, in welchem Staat sich der Arbeitslose der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellt, erhält er gemäß Art. 65 Abs. 5 lit. a VO EG Nr 883/2004 Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnortstaates vom Träger des Wohnortes, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung gegolten hätten.[59] Für Grenzgänger tritt folglich ein Statutenwechsel hin zum Wohnortstaat ein. Hintergrund der Sondervorschriften für Grenzgänger ist, dass Grenzgänger zwei Mitgliedstaaten verbunden sind und ihre Vermittlungschancen im Wohnortstaat regelmäßig günstiger sind[60]. Danach könnte A Leistungen nach deutschem Arbeitsförderungsrecht verlangen, wenn sie sich der Arbeitsverwaltung ihres Wohnortstaates (Bundesrepublik Deutschland) zur Verfügung stellt.
In Bezug auf die Voraussetzungen des § 137 Abs. 1 SGB III fragt sich, ob A die Anwartschaftszeit (§§ 137 Abs. 1 Nr 3, 142 SGB III) erfüllt hat. A muss gemäß § 142 Abs. 1 S. 1 SGB III innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren (siehe § 143 SGB III) mindestens zwölf Monate in einem Versicherungsverhältnis gestanden haben. Die neun Monate, die A vor ihrer Tätigkeit in Großbritannien in einem Versicherungsverhältnis nach deutschem Recht gestanden hat, reichen dafür nicht aus. Gemäß Art. 61 Abs. 1 VO (EG) Nr 883/2004 sind jedoch auch Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates zurückgelegt worden sind, soweit das für den Erwerb eines Leistungsanspruchs erforderlich ist. Rechnet man die in Deutschland und Großbritannien zurückgelegten Versicherungszeiten zusammen, liegen die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld vor. Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld ist von der Dauer der zurückgelegten Versicherungspflichtverhältnisse abhängig (siehe § 147 SGB III). Gemäß Art. 61 Abs. 1 VO (EG) Nr 883/2004 sind auch insoweit die in Großbritannien zurückgelegten Zeiten zu berücksichtigen. Da A in Deutschland und in Großbritannien zusammen 17 Monate versicherungspflichtig beschäftigt war, hat sie gemäß § 147 Abs. 2 SGB III (nach Versicherungspflichtverhältnissen von insgesamt mindestens 16 Monaten) Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer von acht Monaten.