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a) Beschäftigtenversicherung
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Das Versicherungsverhältnis ist im sozialversicherungsrechtlichen Grundfall in Entstehung und Fortbestand mit der Beschäftigung verknüpft.
Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Das öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsverhältnis knüpft an die rechtsgeschäftliche Gestaltung an. Wer auf der Grundlage eines Rechtsverhältnisses, insbesondere Arbeitsverhältnisses, nichtselbstständig tätig ist, ist nach Maßgabe der Sozialversicherungsgesetze versichert. Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IV sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Ob im Einzelfall bei Vorliegen einer Beschäftigung die Versicherung besteht, folgt aus den Bestimmungen der einzelnen Zweige der Sozialversicherung. Heimarbeiter (vgl § 2 Abs. 1 HAG) gelten nach Maßgabe von § 12 Abs. 2 SGB IV als Beschäftigte im Sinn von § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV, Heimarbeiter sind also, obwohl selbstständig, in allen Zweigen der Sozialversicherung versichert, wenn diese die Versicherung von Beschäftigten vorsehen; es kommt in Betracht, dass digital ausgeführte Plattformarbeit Heimarbeit ist[21].
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Übersicht:
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aa) Die in § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV normierte sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung (auch das Gesetz spricht gelegentlich synonym von „Beschäftigungsverhältnis“, vgl § 7 Abs. 1a S. 3 u 4, Abs. 3 u Abs. 4 SGB IV) deckt sich im Wesentlichen mit dem Arbeitsverhältnis[22], die eigenständigen Rechtsbegriffe der Beschäftigung (§ 7 Abs. 1 SGB IV) und des Arbeitsverhältnisses (§ 611a Abs. 1 BGB) sind jedoch nicht gleichbedeutend. Das Arbeitsverhältnis ist das typische Rechtsverhältnis, welches dem als Beschäftigung einzustufenden Sachverhalt zugrunde liegt. Der Begriff der Beschäftigung ist unter Berücksichtigung seiner (eigenständigen) Funktion durch Auslegung zu bestimmen (Rn 132) und unter dem Strich weiter als der (seit 2017 in § 611a Abs. 1 BGB normierte) Begriff des Arbeitsverhältnisses. Auch andere Rechtsverhältnisse als das Arbeitsverhältnis, auch öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse, können einer Beschäftigung zugrunde liegen.
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bb) Eine Beschäftigung liegt zunächst in den Normalfällen vor, in denen auf der Grundlage eines wirksamen Arbeitsvertrages tatsächlich gearbeitet wird. Aber auch wenn bei bestehendem Arbeitsverhältnis tatsächlich nicht gearbeitet wird, kann eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung gegeben sein[23].
Beispiele: (1) Arbeitgeber U kündigt das mit Arbeitnehmer A wirksam eingegangene Arbeitsverhältnis vor dem Arbeitsantritt fristgemäß; für die Zeit bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Ablauf der Kündigungsfrist verzichtet U bei Lohnzahlung auf die Arbeitsleistung. Bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses besteht eine Beschäftigung, vgl BSGE 36, 161 (163 f); 52, 152 (155 f); 59, 183 (185). (2) Arbeitnehmer A ist bei Entgeltfortzahlung wegen einer Zusatzausbildung beurlaubt, vgl BSGE 41, 24 (25 f); vgl auch BSGE 68, 236 (240).
Der Fall, dass kein Arbeitsverhältnis, wohl aber eine Beschäftigung gegeben ist, liegt namentlich vor, wenn der Arbeitsvertrag ungültig ist (fehlerhaftes Arbeitsverhältnis)[24]. Eine Beschäftigung ohne Arbeitsverhältnis besteht ferner etwa dann, wenn man bei Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers während des Kündigungsschutzprozesses nach den richterrechtlichen Grundsätzen des BAG[25] das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses verneinen wollte[26].
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cc) Ist Beschäftigung gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV „die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis“, stellt sich auch im Sozialversicherungsrecht die Frage, wie in den zahlreicher gewordenen Grenzfällen abhängige Beschäftigung und selbstständige Tätigkeit voneinander zu unterscheiden sind. Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in der Arbeitswelt verändert haben (namentlich durch Verschiebung von Industriearbeit zu Dienstleistungsarbeit, durch neue Kommunikationsformen) und weiter verändern, sodass die Einbindung in eine Betriebsorganisation zurückgeht; dieser Prozess wird sich durch die Digitalisierung der Arbeitswelt voraussichtlich verstärken[27]. Der Fabrikarbeiter der Industrialisierung, dessen Arbeitsplatz sich ganz in der Nähe des Fabrikschornsteins befand, hat längst nicht mehr Modellcharakter für die abhängige Arbeit.
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Die Abgrenzung hat, sowohl im Arbeitsrecht als auch im Sozialrecht, darüber hinaus vor dem Hintergrund von Vertragsgestaltungen Bedeutung erlangt, die die Bindungen des Arbeits- und Sozialrechts vermeiden wollen (Stichworte: „Neue Selbstständigkeit“ und „Scheinselbstständigkeit“). Im Arbeitsrecht geht es um die Frage, ob die arbeitsrechtlichen Schutznormen (zB Entgeltfortzahlung bei Krankheit, Arbeitsschutz, Kündigungsschutz) eingreifen oder nicht. In der Sozialversicherung gibt es für die als selbstständig Eingeordneten prinzipiell keinen Versicherungszwang mit automatischer Beitragspflicht; Selbstständige müssen sich auf eigene Initiative und Kosten selbst versichern. Ein sozialversicherungsrechtlicher Schutz gegen Arbeitslosigkeit kann durch freiwillige Versicherung grundsätzlich nicht erkauft werden (Rn 444). Durch die angedeutete Entwicklung hat die Unterscheidung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit an Trennschärfe verloren. Mit Selbstständigkeit verbindet sich heute nicht mehr die prinzipielle Erwartung wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Die Struktur der Selbstständigkeit hat sich verändert, die Schutzgründe des Arbeitsrechts und des Sozialrechts finden sich längst auch außerhalb des Arbeitsverhältnisses bzw. der Beschäftigung[28]; viele kleine (Solo-)Selbstständige sind nicht marktorientiert und halten sich einem oder zwei Auftraggebern, ähnlich wie Arbeitnehmer, zur Verfügung, sie sind nur nicht weisungsgebunden. Bei Plattformarbeit liegt es ähnlich. Neben der Neuen Selbstständigkeit, die oft „Solo-Selbstständigkeit“ ohne eigene Beschäftigte ist, besteht ein Bereich der Scheinselbstständigkeit, bei dem es sich rechtlich um abhängige Beschäftigung handelt, die von den Arbeitgebern jedoch nicht beachtet wird.
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dd) Das BSG[29] stellt bei der Auslegung maßgeblich auf das Weisungsrecht und die damit zusammenhängende persönliche Abhängigkeit ab, die sich traditionell (aber nicht zwingend) in der Eingliederung des Arbeitnehmers in die Organisation eines Betriebs äußert. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers umfasst Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung. Demgegenüber ist die selbstständige Tätigkeit durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsfreiheit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Im Einzelfall kommt es bei der Beurteilung des Gesamtbildes der Arbeitsleistung darauf an, welche Merkmale überwiegen. Im Einzelnen folgt die wertende Gesamtwürdigung, ausgehend von den getroffenen Vereinbarungen, einer sog. typologischen Methode[30]: Angesichts der Vielzahl denkbarer Fallkonstellationen kann das Gesetz nicht definieren, sondern geht, ausgehend vom traditionellen Leitbild (des klassischen Fabrikarbeiters oder Büroangestellten), von einem Typus aus, der durch bestimmte Merkmale (Indizien) gekennzeichnet ist. Es kommt darauf an, ob das Rechtsverhältnis nach allen Umständen dem Typus der Beschäftigung entspricht oder nicht. Die Zuordnung zum rechtlichen Typus erfordert eine Gewichtung und Abwägung aller als Indizien für und gegen eine Beschäftigung bzw. selbstständige Tätigkeit sprechenden Merkmale der Tätigkeit im Einzelfall[31]. Die Verwendung der Rechtsfigur des Typus erlaubt es, geänderte soziale Strukturen bei der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung zu berücksichtigen. Bedeutung hat das auch im Hinblick auf Veränderungen durch Digitalisierung.
Das BSG formuliert[32]: „Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine abhängige Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art - eingeschränkt und zur "funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Die Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit setzt voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, dh den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei gegeneinander abgewogen werden. Bei der Statusbeurteilung ist regelmäßig vom Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen auszugehen, den die Verwaltung und die Gerichte konkret festzustellen haben. Liegen schriftliche Vereinbarungen vor, ist neben deren Vereinbarkeit mit zwingendem Recht auch zu prüfen, ob mündliche oder konkludente Änderungen erfolgt sind. Schließlich ist auch die Ernsthaftigkeit der dokumentierten Vereinbarungen zu prüfen. Erst auf der Grundlage der so getroffenen Feststellungen über den (wahren) Inhalt der Vereinbarungen ist eine wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses zum Typus der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit vorzunehmen und in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob besondere Umstände vorliegen, die eine hiervon abweichende Beurteilung notwendig machen.“
Wichtige neuere Rechtsprechung: BSG, NZS 2019, 785 ff; BSG, NZS 2020, 223 ff. Dazu Greiner, NZS 2019, 761 ff.
One-Page-Fälle: BSG, NZS 2019, 798 (Greiner): Honorararzt; LSG Nordrhein-Westfalen, NZS 2019, 799 (Knospe): Kurierfahrer; LSG Nordrhein-Westfalen, NZS 2019, 839 (Zieglmeier): Stiftungsvorstand.
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Im Ausgangsfall 5 ist, wenn man die in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BAG und des BGH vom BSG (hier BSGE 83, 246 [251]) bei der Auslegung herangezogenen rechtlichen Maßstäbe (Rn 132) anlegt, bei der Subsumtion entscheidend: K schließt mit verschiedenen Produktionsfirmen Verträge. Sie ist nicht in den Betrieb der P eingegliedert, die Firma P kann über den Einsatz der K nicht durch Weisung verfügen, auch wenn Ort und Zeit ihrer Tätigkeit im Sendestudio durch P festgelegt werden. K ist der P durch die jeweiligen Verträge projektbezogen verbunden, und sie besitzt die Möglichkeit, Aufträge abzulehnen und Aufträge anderer Firmen neben ihrer Tätigkeit für P anzunehmen. Dies hat sie auch getan; dass die letzten vier Engagements bei P lagen, ändert die Bewertung nicht, da es sich nach dem Gesamtbild weiterhin um Einzelengagements handelt (lies zur Vertiefung BSG, aaO, S. 251–253).
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ee) § 7a SGB IV regelt ein spezielles Anfrageverfahren. Es soll Gewissheit darüber verschaffen, ob ein Erwerbstätiger abhängig beschäftigt oder selbstständig ist.
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ff) In der arbeitsrechtlichen Praxis werden zunehmend Arbeitszeitregelungen vereinbart, die von dem herkömmlichen Modell der festen Wochenarbeitszeit abweichen (sog. „flexible Arbeitszeitregelungen“). Dazu gehört insbesondere die Verdichtung der Arbeit zu bestimmten Zeiten mit gegenüberstehenden Freistellungsphasen: Altersteilzeit nach dem Blockmodell; Ansammlung von Arbeitszeitguthaben auf Arbeitszeitkonten. In sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht werfen derartige Arbeitszeitmodelle im Hinblick auf die Beitragspflicht und auf den Versicherungsschutz Probleme auf. Die Beschäftigten erbringen nämlich in der Freistellungsphase keine Arbeitsleistung, während sie gleichwohl fortlaufend ein Arbeitsentgelt erhalten, das durch ihre tatsächliche Arbeitsleistung vor oder nach der Freistellungsphase bestimmt wird. § 7 Abs. 1a SGB IV stellt für diese Fälle klar, dass in Zeiten einer Freistellung von der Arbeitsleistung von mehr als einem Monat, für die (mit einer in dem soeben genannten Sinn vorher oder nachher erbrachten Arbeitsleistung erzieltes) Arbeitsentgelt fällig ist, unter bestimmten Umständen eine Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt im Sinn von § 7 Abs. 1 SGB IV besteht. In Bezug auf die Beitragspflicht bei flexiblen Arbeitszeitregelungen ist § 23b SGB IV zu beachten.