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Kolonialismus – der Westen greift um die Welt
ОглавлениеEinen weiteren „Quantensprung“ stellt der Kolonialismus dar.44 Die damit begründeten Abhängigkeiten wirken bis heute nach. Europa profitierte gleich in mehrfacher Hinsicht von seinen kolonialen Ausgriffen und tut dies zum Teil noch heute.
Die Entdeckung neuer Seewege, der Kontakt mit anderen Kulturen und fremdartigen Menschen in allen Klima- und Landschaftszonen inspirierte in vielfältiger Art und Weise – als augenfälliges Beispiel sei auf den manuelinischen Baustil in Portugal verwiesen, der in einer einzigartigen Melange Ornamente, Symbole und Tiere der neu entdeckten Regionen zu einem ganz eigenen Stil verschmolz. Darüber hinaus profitierten die Europäer von den Ressourcen und erschlossen zugleich neue Absatzmärkte. Nicht zuletzt boten sich den Interessierten und Innovationsfreudigen vielfältige Chancen, die letztlich dazu genutzt wurden, die westliche Einflusssphäre in all ihren Ausprägungen auf die anderen Kontinente zu übertragen. Zunächst stand dabei die Gier nach Fisch, Fellen, Edelmetallen, Gewürzen und Porzellan für die aufnahmewilligen Märkte zuhause im Vordergrund. Nach und nach etablierte sich daraus ein System von Niederlassungen, Stützpunkten und schließlich Siedlungen, aber auch entsprechenden Gesellschafts- und Rechtssystemen nach „westlichem“ Muster. Landwirtschaftliche Systeme wurden eingerichtet, die der Produktion der von Kolonialisten bevorzugten Nutzpflanzen dienten. Auch wurde versucht, im Rahmen der neuen Globalisierung die Anbauprodukte auszutauschen. Wo wuchs was am besten? Wo könnte der größte Profit erzielt werden? Reiseberichte machen deutlich, wie subtil, aber auch wie systematisch diese Veränderung der Welt angelegt war – und welch immensen Einfluss dies auf die heutige Biodiversität hat.
Die inner-europäische Konkurrenz sah verschiedene Länder im Vorteil. Mag es oft ein ganzes Bündel von Faktoren gewesen sein, die zu diesem Umstand beitrugen, war es stets auch die Innovation auf bestimmten Gebieten, die Schaffung kreativer Milieus, die zum Erfolg führten.45 So etablierten die Holländer neue Finanzierungs- und Besteuerungsinstrumente. In den 1680er Jahren waren Terminkontrakte bei niederländischen Heringshändlern gang und gäbe. Aus zunächst noch einfacher und unmittelbarer Erfahrung – wie der Kopplung von Aufwand und Ertrag und dem daraus resultierenden Erfolg und Misserfolg – entwickelte sich ein kreativer Mix aus Finanzierungssystem, Unternehmertum, technischer Innovation, naturwissenschaftlichem Fortkommen und entsprechender Lernbereitschaft. Erworbenes Wissen wurde weitergegeben. Schließlich waren es individuelles Handeln, das Recht auf Privateigentum, das durch tragfähige staatliche Institutionen gestützt wurde, und eine immer stärker werdende bürgerliche Zivilgesellschaft, die den Rahmen für den Erfolg abgaben. Und das über verschiedene gesellschaftliche Systeme hinweg ■ 1.23.
■ 1.23 Nein, die Bilder stammen nicht aus Spanien, sondern aus der „Neuen Welt“. Links die „White Dove of the Desert“ in Tucson, USA, die Mission San Xavier del Bac, und ■ rechts eine der zahlreichen Missionskirchen in Chile. Sie belegen allerdings nur eine Facette der kulturellen Überprägung – dabei brachten die Spanier nicht nur ihre Kultur, im Sinne von Religion, Sprache, Verwaltung, Denkweisen, Stadtentwürfen, Anbauprodukten und -systemen, sondern auch Tod und Verderben durch Waffengewalt und Epidemien infolge von eingeschleppten Viren. Jared Diamond hat dies in seinem Werk „Guns, Germs and Steel“ von 1998 sehr gut dargestellt. Den passenden Song dazu komponierte Neil Young mit „Cortez the Killer“ auf seinem Album Zuma.
Als das erfolgreichste dieser Modelle gilt das Britische Empire. Es war die Grundlage für die Verbreitung und die heutige Dominanz der englischen Sprache, aber auch des englischen Finanzsystems, was bis heute in der Bedeutung Londons nachschwingt. Gepaart mit common laws, die sich im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen civil laws nicht auf Gesetze, sondern auf Präzedenzfälle stützen, dem missionarischen Eifer des Protestantismus, den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und einer allgemeinen Freiheitsidee, konnte ein Leitbild angeboten werden, das nicht nur mit Waffengewalt überzeugte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichten die britische und generell die europäische Dominanz ihren Höhepunkt.
Julia Angster stellt in ihrem Werk „Erdbeeren und Piraten“ 46 überzeugend dar, wie die britische Expansion mit der Verbreitung von Anbauprodukten quasi als „botanische Mission“ funktionierte und wie sie persistente Netzwerke aus Routen, Handelsstützpunkten, Informationen und Einflusssphären sowie aus wissenschaftlichen und staatlichen Einrichtungen und Steuermechanismen begründete. Gekoppelt war dies mit der Etablierung eines europäischen Handels- und Rechtssystems. Letztlich wirkt die damit verbundene durchgreifende kulturelle Überprägung u.a. über Land- und Wasserrechte bis heute nach ■ 1.24, 1.25.
■ 1.24 Entwicklung der Arten in Europa seit dem Neolithikum (rechts); Bahngleise in Freiburg sind Hot Spots von Neophyten und Ruderalpflanzen (oben) 47.
■ 1.25 Und als wäre man in Frankreich: die Büste von Ludwig XIV. in der Unterstadt von Quebec, Kanada.
Eine aufschlussreiche Lektüre über die Forschungsreisen der frühen Kolonialzeit bieten die Aufzeichnungen von Georg Forster,48 der an der Aufsehen erregenden zweiten Weltumseglung von James Cook (1772 bis 1775) teilnahm und zwei Jahre später seinen vielgelesenen Reisebericht publizierte. Aus der Feder seines Vaters stammen wunderschöne Zeichnungen, die den Gesamteindruck komplettieren. Vater und Sohn waren zunächst angeheuert worden, um Pflanzen und Tiere, aber auch Gesteine und Mineralien zu sammeln und zu dokumentieren. Sicherlich lag dieser Inventarisierung ein ressourcenorientierter Blick auf deren Nutzbarkeit zugrunde. Nicht zu unterschätzen sind dabei die unmittelbaren Eingriffe in die besuchten Öko- und Sozialsysteme: Man hatte Kartoffeln, Flachs und Rüben sowie Ziegen, Schafe und Hühner an Bord, die ausgesetzt bzw. angepflanzt wurden, um nachfolgende Seereisende zu versorgen und das Überleben der ersten Siedler zu ermöglichen. Schilderungen von Einheimischen und ihren sozialen Strukturen, ihren Eigenheiten wie dem Kannibalismus, stellt Forster relativierend die hegemonialen Kriege des Westens gegenüber. Auch andere negative Facetten werden beleuchtet, so die Prostitution in Neuseeland, der sich die unverheirateten Mädchen und Frauen gegen ihren Willen unterwerfen mussten, damit die männlichen Clanmitglieder an begehrte Tauschhandelsobjekte wie Kleidungsstücke und Metallwaren (z.B. Nägel oder Beile) herankamen. Forsters sprachgewaltiger Reisebericht ist eine Quelle für die Global-Change-Forschung, weil er die Ausweitung eines globalen Machtsystems, des Britischen Empire, dokumentiert, das in den betreffenden Regionen bis heute in vielfältigster Weise nachhallt49 ■ 1.26.
■ 1.26 Das Britische Empire hat seinen kolonialen Fingerabdruck in vielen Ecken der Erde hinterlassen. Oben: ein Kriegsdenkmal in Queenstown, Neuseeland, das an die Beteiligung und die Opfer am 1. Weltkrieg erinnert. ■ Unten: Victory Garden in Churchtown zum Gedenken an die Mitwirkung im 2. Weltkrieg, an dem 12 % der männlichen Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 45 Jahren beteiligt waren. Hier werden u.a. Kartoffeln, Erbsen und Linsen kultiviert, typisch für die Kriegszeit.
Quasi am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1913, dominierten elf „Mutterländer“, die rund 10 % der Landoberfläche repräsentierten, mehr als die Hälfte der globalen Landfläche! Dies bedeutete zugleich die Dominanz von 57 % der Weltbevölkerung und es stand für nahezu ⅘ des damaligen weltweiten ökonomischen Outputs.50
Letztlich scheiterte das Britische Empire an dem zunehmenden wirtschaftlichen Aufwand und verlor nach der Industrialisierung seine Innovationskraft. Die zuvor schon angeschlagene britische Volkswirtschaft wurde infolge des Ersten Weltkrieges mit über 40 Milliarden US-Dollar stark belastet und Großbritannien, einst der führende Gläubiger der Welt, hatte daraufhin Schulden, die sich auf 136 % seines Bruttoinlandsproduktes beliefen. Der Zweite Weltkrieg besiegelte das Ende der britischen Wirtschaftsmacht. Im Jahre 1945 war das US-amerikanische BIP zehnmal so hoch wie das britische. Trotzdem konnte Großbritannien durch seine Allianz und seine enge Verbundenheit mit den USA zumindest außen- und weltpolitisch eine im Vergleich zu seiner heutigen wirtschaftlichen Rolle bedeutende Stellung beibehalten, während die ökonomisch starken, aber politisch und moralisch abgemahnten Staaten wie Japan und Deutschland starke Rollenverluste verschmerzen mussten ■ 1.27.
■ 1.27 Die Azania Front Lutheran Church in Dar es Salaam wurde durch deutsche Missionare 1898 errichtet. Rote Dachziegel, Dachreiter, weiße Wände etc. sind typische Elemente der heimatlichen Kirchenarchitektur dieser Zeit.
Wenn wir heute konstatieren können, dass die letzten 500 Jahre durch den Aufstieg des Westens geprägt waren – mit der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus im Jahr 1492 als Ausgangspunkt –, dann sollte nicht verkannt werden, dass bereits 87 Jahre früher der chinesische Admiral Zheng He die erste von sieben Entdeckungsfahrten anführte. Mit dem Unterschied, dass Zhengs Schiffe größer und stabiler gebaut waren und er zu seiner ersten Expedition mit sage und schreibe 317 Schiffen und 28.000 Besatzungsmitgliedern aufbrach – ein deutlicher Kontrast zu den vier „Nussschalen“ eines Christoph Kolumbus und seinen rund 150 Seeleuten. Die größten Schiffe der chinesischen Flotte, die Schatzschiffe, hatten neun Masten und waren über 120 Meter lang – viermal so lang wie die berühmte Santa María.
Warum gab es trotz dieser beeindruckenden Vorlage keine frühe asiatische Dominanz? Die Erklärung ist denkbar einfach und doch überraschend. In den 1430er Jahren kam ein neuer Kaiser an die Macht. In Folge schwerer Naturkatastrophen in China wurden die enormen Kosten der Flotte, die immer mit einem finanziellen Defizit für den Kaiserhof verbunden waren, untragbar, weshalb er die sofortige Einstellung der Expeditionen verfügte. Um die Schmuggelei durch japanische Piraten zu unterbinden, wurde zudem im 16. Jahrhundert ein Dekret erlassen, wonach kein Schiff mit mehr als zwei Masten gebaut werden durfte. Überschreitungen dieses Dekrets wurden mit dem Tode bestraft. Gleichzeitig wurden sämtliche hochseetüchtige Schiffe zerstört und die Eigentümer ins Gefängnis geworfen. Damit war der modernste Schiffsbauhafen seiner Zeit, der von Nanking, wo zwischen 1405 und 1408 genau 1681 Schiffe vom Stapel liefen, ad absurdum geführt. Langfristig war dies im Hinblick auf den chinesischen Machtanspruch sicherlich die falsche Entscheidung. Die Prägung der Welt wäre in den letzten 500 Jahren deutlich anders verlaufen.
Die globale Entwicklung, die Westeuropa im Vergleich zu den heute relevanten Mächten vollzog, lässt sich auch in einigen nüchternen Wirtschaftsdaten belegen. Im Jahr 1500 lag das Pro-Kopf-BIP in Westeuropa nur leicht über dem chinesischen und dem indischen. 100 Jahre später übertraf es das chinesische um satte 50 %. Von da an vergrößerte sich das Gefälle ständig. Während das Pro-Kopf-BIP in China und Indien 600 Jahre lang ungefähr konstant blieb, wuchs das europäische von 662 auf 4594 US-Dollar, was einer Steigerung von fast 600 % entspricht. Alle bekannten Reisebeschreibungen deuten darauf hin, dass die Lebensbedingungen außerhalb Europas und später auch Nordamerikas zu Beginn der Kolonialzeit deutlich schlechter waren.